sehepunkte 25 (2025), Nr. 11

Marie Buňatová (Hg.): Migrationsprozesse und Mobilität der europäischen Juden am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit

Der hier zu besprechende Band basiert auf den Ergebnissen einer internationalen Tagung des von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften von 2019 bis 2024 geförderten Projekts "Lumina quaeruntur - Migration in der Prager Judengemeinde am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit" unter der Leitung von Marie Buňatová. Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Arbeiten zu jüdischer Migration - freilich mit einem deutlichen Fokus auf erzwungener Mobilität - erschienen sind, bildet die Zeitspanne vom 15. bis zum 17. Jahrhundert noch immer ein Forschungsdesiderat in der Geschichte des mitteleuropäischen Judentums. Die von disruptiven und dislozierenden Ereignissen geprägte Phase jüdischen Lebens, auf die die Betroffenen mit unterschiedlichen Resilienzstrategien reagierten, ist bislang allenfalls ansatzweise in Form lokaler und regionaler Untersuchungen aufgearbeitet worden. Um Licht ins Dunkel zu bringen, hat sich das Prager Projektteam mit der Aufarbeitung von unterschiedlich motivierten Migrationsbewegungen in die böhmische Kapitale, aus dieser heraus und innerhalb des Konglomerats der Prager Städte in der Übergangszeit von einer vorwiegend urbanen zu einer ausgeprägt ländlichen Lebensweise des mitteleuropäischen Judentums befasst. Der von Buňatová herausgegebene Tagungsband stellt die bis dato erzielten Befunde in einen weiteren mitteleuropäischen Kontext. Neben den vier Beiträgen aus dem Kreis der Projektmitarbeiterinnen und des Projektmitarbeiters enthält das ansprechend gestaltete Buch neun Aufsätze, die räumlich in engerem Kontakt zur Prager Judengemeinde stehende jüdische Niederlassungen oder Protagonisten der deutschen Lande zum Gegenstand haben. Wenn es auch erklärtes Ziel des Buches sein sollte, "die freiwillige und erzwungene Migration der jüdischen Bevölkerung, die von politisch-gesellschaftlichen Veränderungen hervorgerufen wurde, daneben auch wirtschaftlich, religiös oder kulturell motiviert war" (9f.), in ihren verschiedenen Facetten darzustellen, wandte sich das Gros der Autoren doch im Wesentlichen der in den Quellen vergleichsweise gut fassbaren unfreiwilligen Mobilität zu.

In ihrem einleitenden Beitrag widmet sich Buňatová den bislang nur unzureichend untersuchten Migrationsprozessen im Kontext der Prager Judengemeinde zwischen etwa 1470 und 1600. Dabei stützt sie sich insbesondere auf die im Rahmen des Projekts vorgenommene systematische Erschließung der Stadtbücher der verschiedenen Prager "Teilstädte". Allein zwischen 1507 und 1557 waren die Prager Juden von vier Vertreibungen betroffen, die allerdings allesamt nicht zur Gänze realisiert wurden. Seit den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts setzte dann ein massiver Zuzug von Juden in die von den Habsburgern geförderte "neue" Residenzstadt ein, die mit einer Manifestierung der weit ausstrahlenden wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Bedeutung der Prager Judengemeinde einherging. Bezüglich der kaum in Prag vertretenen Juden mit Herkunftsnamen aus dem Reichsgebiet vertritt die Autorin die gut begründete These, wonach sich aus Städten und Territorien des Reiches ausgewiesene Juden im Königreich Böhmen zunächst in Grenznähe angesiedelt hätten und später zuweilen mit einem entsprechenden böhmischen (oder mährischen) Herkunftsnamen in Prag ansässig geworden seien.

Unter den weiteren Projektbeteiligten beschäftigte sich Eva Doležalová mit den Beziehungen der Prager Juden zu den böhmischen Ländern in der Umbruchzeit von den Hussitenkriegen bis zum Amtsantritt der Habsburger. Dass in den von der Autorin untersuchten unterschiedlichen Quellentypen zahlreiche Juden mehr oder weniger zufällig überliefert sind, führt sie auf einen hohen Migrationsgrad zurück. Hier wäre allerdings die unzureichende Überlieferungssituation noch stärker zu berücksichtigen gewesen. Die Prozessakten des Altstädter und des Neustädter Prager Gerichts bilden die Grundlage für Lenka Blechovás Untersuchungen zu den christlich-jüdischen Beziehungen im Prager Siedlungskonglomerat und damit der alltäglichen Migration von Christen und Juden in unterschiedlich konnotierten städtischen Räumen. Weniger der ökonomisch bedingten Migration und Mobilität zwischen den Prager und den Posener Juden im 16. Jahrhundert als vielmehr den diesen Prozessen zugrundeliegenden Beziehungsnetzen widmet sich Kajetan Holeček anhand zweier Fallbeispiele gerichtlich dokumentierter Streitigkeiten.

Während mehrere Beiträge die Migrationsbewegungen in und aus den an die böhmischen Kronlande angrenzenden Territorien des spätmittelalterlichen Reiches in den Blick nehmen, fokussiert Heinz Noflatscher auf das Beziehungsgefüge zwischen Kaiser, Hof und Juden unter Maximilian I. Damit spricht er nicht die Migrationsprozesse unmittelbar an, sondern die sich verändernden Rahmenbedingungen, die diese Vorgänge beeinflussten. In konkretem Fall sind dies einzelne Akteure respektive am Hofe wirksame Netzwerke, die möglicherweise Einfluss auf die sich wandelnde Einstellung Maximilians gegenüber den Juden nahmen. Die Beteiligung Maximilians an der Förderung des Kults des angeblich von Juden ermordeten Knaben Simon von Trient mit dem Glauben des Herrschers an einen jüdischen Ritualmord ausgerechnet in diesem "Einzelfall" erklären zu wollen, erscheint allerdings diskussionswürdig. Auch im Beitrag Markus Wenningers steht das Verhältnis Maximilians I. zu den Juden im Mittelpunkt, und zwar im Kontext der Vertreibung der Anhänger der religiösen Minderheit aus der Steiermark auf Betreiben der Landstände im Jahre 1494. Die haltlosen Vorwürfe zahlreicher Hostienfrevel und Ritualmorde in den Vertreibungsdekreten zeigen, wie mit derartigen Beschuldigungen gespielt werden konnte, wenn man die (vermeintliche) Erinnerung daran hochhielt. Im Zuge der Ausweisungen der Juden aus Innerösterreich versagte der König den räumlich Exkludierten seinen Schutz nicht gänzlich, da er sie in anderen habsburgischen Herrschaftsgebieten wiederansiedeln ließ. In diesem Kontext kann Wenninger wahrscheinlich machen, dass nach der Wiener Gezera von 1420/21 bereits 1494 wieder Juden in Wien ansässig waren.

Auf die räumlichen Destinationen der ausgewiesenen Überlebenden der Wiener Gezera geht Eveline Brugger näher ein. Aus den seitens Kaiser Sigismunds als König von Ungarn und Herzog Ernsts von der Steiermark gegenüber Herzog Albrecht V. von Österreich erhobenen Entschädigungsansprüchen für die in ihre Territorien zugewanderten Wiener Juden ergibt sich, dass zumindest einige finanzstarke Juden dort Aufnahme gefunden hatten. Maike Lämmerhirt thematisiert die jüdische Migration in Thüringen während des 15. Jahrhunderts mit deutlichen Schwerpunkten auf der Ausweisung der Juden aus der Markgrafschaft Thüringen im Jahre 1436, der nicht mehr verlängerten Aufenthaltserlaubnis in der Markgrafschaft Meißen im folgenden Jahr sowie der Vertreibung aus Erfurt im Jahre 1453. Dennoch finden sich in der Folgezeit Juden in weiteren Städten und Herrschaften Thüringens, wobei allerdings unklar ist, ob hier Siedlungskontinuität vom Spätmittelalter in die frühe Neuzeit hinein bestand.

Mit der Objektbiographie, einem in Bezug auf das mittelalterliche Judentum noch in den Anfängen steckenden Themenfeld, befasst sich Martha Keil, indem sie insbesondere den durch erzwungene Mobilität von Juden erfolgten Besitzwechseln von Gegenständen und deren teilweiser Zweckentfremdung nachspürt. Erstaunliche Einblicke in die Lebensstationen des jüdischen Wanderdruckers Chaim Schachor bietet Lucia Raspe. In Böhmen geboren, übte Schachor in den 1530er Jahren in mehreren süddeutschen Städten sein Handwerk im Auftrage von Reformatoren und ländlichen jüdischen Gemeinden aus. Hier zeigt sich deutlich, dass die alten jüdischen Landschaften auch nach dem Verlust der Zentralgemeinden im Zuge der Vertreibungen weiterbestanden. Da Schachor allerdings mit den vergleichsweise bescheidenen Aufträgen im oberdeutschen Raum seinen Lebensunterhalt kaum bestreiten konnte, zog es ihn weiter nach Italien und später nach Polen.

Frühneuzeitliche Entwicklungen stehen im Mittelpunkt dreier weiterer Aufsätze. Den Ursachen für die Attraktivität Frankfurts als Ansiedlungsort mit einer Verzehnfachung der jüdischen Bevölkerung zwischen dem späten 15. und dem späten 16. Jahrhundert geht Wolfgang Treue nach, zumal die Steigerung der Steuereinnahmen der Stadt als Erklärung ungeeignet erscheint. Dem Autor gelingt der Nachweis, dass die Juden einerseits in vielfältigen Funktionen Dienstleistungen vorwiegend im städtischen Finanzsektor erfüllten, was zur Akzeptanz auf christlicher Seite beitrug. Gleichzeitig strahlte die funktionierende Gemeinde Anziehungskraft auf ansiedlungswillige Juden aus.

Die jüdische Migration in Österreich unter der Enns während des 17. Jahrhunderts ist Gegenstand der Untersuchung von Peter Rauscher. Erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts erfolgte im Zuge der Gegenreformation die jüdische Einwanderung in diesen Raum. Aus Wien wurden die Juden bereits 1670 wieder vertrieben, konnten jedoch ab den neunziger Jahren wieder zurückkehren. In der Zwischenzeit fanden vielfältige Migrations- und Mobilitätsprozesse statt, die Rauscher ebenso auf ökonomische und religiös-kulturelle Motive zurückführt wie auf persönliche Verbindungen und Flucht vor dem Krieg. Dem Zuzug von Juden aus Böhmen und Mähren nach Schlesien in der Zeit vom Dreißigjährigen Krieg bis in die Mitte des 18. Jahrhundert widmet sich die Studie von Janusz Spyra.

Insgesamt repräsentiert der Band anhand ausgewählter Beispiele den aktuellen Forschungsstand vor allem zu erzwungenen Migrationsprozessen der mitteleuropäischen Juden im 15. und 16. Jahrhundert (mit Ausblicken bis ins 18. Jahrhundert). Freiwillige Migration und weitere vielfältige Formen von Mobilität sind dagegen unterrepräsentiert. Dies ist allerdings der Fokussierung der meisten Autoren auf die in den Quellen wesentlich besser fassbare Vertreibungsthematik geschuldet. Den Band beschließt ein Orts- und Personenregister.

Rezension über:

Marie Buňatová (Hg.): Migrationsprozesse und Mobilität der europäischen Juden am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Kiel: Solivagus Verlag 2024, 393 S., ISBN 978-3-943025-72-9, EUR 65,00

Rezension von:
Jörg R. Müller
Arye Maimon-Institut für Geschichte der Juden, Universität Trier
Empfohlene Zitierweise:
Jörg R. Müller: Rezension von: Marie Buňatová (Hg.): Migrationsprozesse und Mobilität der europäischen Juden am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Kiel: Solivagus Verlag 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/11/39478.html


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