sehepunkte 25 (2025), Nr. 11

Kilian Heck: Carl Blechen und die Bausteine einer neuen Kunst

Die monografische Arbeit über einen einzelnen Künstler und der damit einhergehende fokussierte Blick ist derzeit - besonders auf Habilitationsniveau - nicht mehr vorherrschend. Doch Kilian Hecks Publikation über Carl Blechen zeigt eindrücklich, welches Potenzial eine Studie birgt, die das Künstlerindividuum ins Zentrum stellt, dabei in geschickter Weise dessen vielfältige historische, kulturelle und soziale Verflechtungen aufzeigt und so einen maßgeblichen Beitrag zur Erforschung der Kunst des frühen 19. Jahrhunderts leistet. In Teilen beruht der Band auf Hecks 2009 an der Goethe-Universität Frankfurt fertiggestellter Habilitationsschrift "Das zweite Bild im Bild. Auflösungstendenzen des perspektivischen Raumes bei Carl Blechen".

Gleich zu Beginn des Buches greift Heck zwei vorherrschende Topoi der Blechen-Forschung auf: erstens die biografische Engführung von Blechens Werk mit seiner späteren (nicht genau zu bestimmenden) psychischen Erkrankung im Sinne einer Genieerzählung des wahnsinnigen und verkannten Künstlers. Ausgehend vom "Bericht des Nervenarztes Dr. Horn" (9) erscheint Blechen im Prolog des Buches als Patient, der vor allem mit der Abgrenzung des Ichs und der äußeren Umgebung hadert. Für Heck gibt der Horn'sche Bericht Anlass, die Frage der Einbindung solch psychologischer Beschreibungen und Befunde in die Werkanalyse zu hinterfragen und dabei für einen differenzierten Blick zu plädieren, der zum einen Blechens besondere Form der Wahrnehmung ernst nimmt, sie andererseits aber nicht zu einer universalistischen Deutungsmaxime erhebt, die den Bildwerken aufoktroyiert wird. Der zweite Topos, den Heck aufgreift, ist die Herausstellung von Blechen als protomodernistischem Künstler, der hauptsächlich den Impressionismus vorwegnimmt. Beide Narrative dekonstruiert Heck und stellt stattdessen die genaue Bildanalyse in den Fokus, die, wie er selbst eingangs betont, "Gegenstand und Ausgangspunkt dieser Untersuchung" (13) ist. Mithilfe dieses 'Close Readings' der Gemälde, Zeichnungen und Grafiken verdeutlicht der Band, dass Blechens bildkünstlerisches Werk jenseits von wertenden Lesarten als eigenständige und vielschichtige Auseinandersetzung mit Bildlichkeit, Bildgenese und Bildrezeption ernst zu nehmen ist.

Auf Prolog und Einleitung folgt jedoch zunächst der Forschungsstand, der unterschiedliche Deutungen von Blechens Werk historisiert und teils auch politisch kontextualisiert (wie etwa die Beobachtung, dass die gängige Einordnung von Blechen als protoimpressionistisch, die sich bereits bei Autoren wie Julius Meier-Graefe oder Hugo von Tschudi findet, 1939 von Guido Joseph Kern ideologisch zugespitzt und in einen nationalistischen Kontext gestellt wurde (22)). Die daran anschließenden zwei Kapitel etablieren "Grundlagen", nämlich künstlerische und mediale Entwicklungen, die sich aus Blechens Tätigkeit als Kulissenmaler ergeben und seinem Werk zugrunde liegen (Lebende Bilder, Dioramen und Bühnenbildentwürfe), sowie die strukturellen "Raummodelle" seiner Werke, die die Rezeption der Bilder maßgeblich bedingen (Nahsicht, drehbühnenartige Bewegungsmodelle, Schräg- und Tiefenblicke, aus denen sich ungewöhnliche Perspektivwechsel ergeben, Fragmentierungen und sich im Bild überlagernde Zeitschichten).

Den Auftakt des eigentlichen Hauptteils macht ein kurzes Kapitel zum Bild-im-Bild (Kap. 6). Hier werden inhaltlich zwar vor allem bildtheoretische Grundlagen anhand der Landschaftsmalerei referiert, in der Struktur des Buches konstituiert das Kapitel jedoch den Leitfaden: das zweite Bild im Bild. In den anschließenden Kapiteln arbeitet Heck verschiedene Spielarten dieses zweiten Bildes heraus, beispielsweise die Dioramenbilder (Kap. 9), die im bühnenhaften Bildaufbau mediale Organisationen des Wahrnehmens reflektieren, oder die Mönchsbilder (Kap. 10.1 und 10.2.), die ihre zentrale Figur mit dem Künstlersubjekt engführen und das Betrachten und (innere) Sehen autoreflexiv verhandeln. Diese Beobachtungen kulminieren in den Palmenhausbildern (Kap. 11), die mit ihrer Glasarchitektur eine "Sichtbarmachung des Unsichtbaren" (181) vollziehen und somit das bildliche Sehen sowohl rezeptions- als auch produktionsästhetisch thematisieren. Der netzartige Aufbau des Buches, bei dem Themenkomplexe wie etwa das Diorama an mehreren Stellen wieder aufgegriffen werden, bedingt einige gedankliche Sprünge und Vorausverweise. Dies kann den Lesefluss stellenweise unterbrechen, aber der Aufbau vertieft gleichzeitig die Analysen und ermöglicht detaillierte Querbezüge und eine dichte Verflechtung, die der Komplexität von Blechens Werk gerecht wird.

Hierzu trägt auch die theoretische Disposition der Monografie bei, die sich durch einen Pluralismus auszeichnet, der es vermag, mitunter konträr zueinander angelegte Ansätze, denen nämlich teils ein phänomenologisches, teils ein semiotisches Bildverständnis zugrunde liegt, fruchtbar miteinander zu verbinden. Bereits mit der oben beschriebenen Fragestellung ist die Studie an der Schnittstelle von Kunstgeschichte und Bildwissenschaft angesiedelt. Methodisch stützt sich die Arbeit auf eine Analyse, die neben ikonografischen Bemerkungen (wie sie beispielsweise für Blechen auch Helmut Börsch-Supan formuliert hatte, auf den sich Heck mehrfach bezieht [1]) in besonderem Maße formalästhetische Merkmale des Bildes vom Kolorit bis zur Komposition in den Blick nimmt.

Die Konzentration auf Fragen des Bildaufbaus erinnert an Werner Buschs Schriften, wie Heck selbst beschreibt, wenn etwa "ästhetische Bildordnungen" (185) den Kern der Argumentation bilden. [2] In der Herausstellung selbstreflexiver Momente und des Bildes-im-Bild schließt die Untersuchung an die kunsthistorische Forschung von Reinhard Wegner an, [3] während mit dem Fokus auf den Betrachter Hecks Doktorvater Wolfgang Kemp und dessen Ansatz der Rezeptionsästhetik herangezogen wird. [4] Die von Johannes Grave vorgeschlagene temporale Erweiterung der Rezeptionsästhetik findet ebenfalls Eingang, etwa wenn Heck die Auswirkungen der Diachronizität der Bilder auf den Betrachter reflektiert (203). Graves Arbeiten sind darüber hinaus für die für Blechen essenzielle "genuin bildliche Form des Denkens" [5] zentral. Ergänzt werden diese Anlehnungen durch fachfremde Positionen wie etwa Michel Foucaults Diskurskritik, die in den Analysen des Forschungsstandes zum Einsatz kommt. [6] Heck gelingt es, diese und weitere Positionen nicht nur additiv nebeneinanderzustellen, sondern sie produktiv zu verbinden und seinen Bildanalysen mit ihrer Hilfe die nötige Tiefe zu geben.

Der stimmige Methodenpluralismus zeichnet Hecks Studie zu Carl Blechen genauso aus wie die detaillierte Bildanalyse, die den Kern des Buches bildet und dabei aufzeigt, wie wesentlich dieses genaue Hinsehen für die Kunstgeschichte ist und wie die Fokussierung auf das Bild als Ausgangspunkt und Zentrum der Argumentation zu neuen und vertieften Ergebnissen führt. "Carl Blechen und die Bausteine einer neuen Kunst" stellt somit eine rundherum gelungene Untersuchung mit Vorbildcharakter dar.


Anmerkungen:

[1] Heck zitiert aus insgesamt 14 verschiedenen Publikationen von Börsch-Supan, am häufigsten aus dem Beitrag des Berliner Ausstellungskatalogs von 1990: Helmut Börsch-Supan: Das rechte Herz, das warme Blut und der Geist in der Kunst. Carl Blechen - Malerei in der Mark, in: Carl Blechen. Zwischen Romantik und Realismus. Ausst.-Kat. Nationalgalerie Berlin 1990, hg. von Peter-Klaus Schuster, München 1990, 27-38.

[2] Heck bezieht sich an dieser Stelle auf Buschs Studien zu Caspar David Friedrich und Adolph Menzel: Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003; Werner Busch: Adolph Menzel. Leben und Werk, München 2004.

[3] Vgl. insbesondere: Reinhard Wegner: Carl Blechen. Die Entstehung des Bildes in der Skizze, in: Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, hg. von Friedrich Weltzien, Berlin 2006, 97-106.

[4] Vgl.: Wolfgang Kemp: Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1983.

[5] Johannes Grave: Caspar David Friedrich, München 2012, 30, zit. nach Heck 2024, 17.

[6] Vgl.: Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hgg. v. Fotis Jannidis u.a., Stuttgart 2000, 198-232.

Rezension über:

Kilian Heck: Carl Blechen und die Bausteine einer neuen Kunst, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2024, 374 S., 247 Farb-, 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-496-01654-0, EUR 49,00

Rezension von:
Mira Claire Zadrozny
Klassik Stiftung Weimar / Friedrich-Schiller-Universität Jena
Empfohlene Zitierweise:
Mira Claire Zadrozny: Rezension von: Kilian Heck: Carl Blechen und die Bausteine einer neuen Kunst, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/11/39111.html


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