sehepunkte 25 (2025), Nr. 11

Sebastian Koch: Identitätskrisen nach dem Ende des Britischen Empire

Der vorliegende Band entstand als Dissertation im Rahmen des Tübinger Sonderforschungsbereichs "Bedrohte Ordnungen" mit dem Ziel der Erforschung der Auswirkungen des End of Empire auf Kanadas, Australiens und Neuseelands Kultur, Wirtschafts- und Außenpolitik. Sebastians Kochs Ausführungen fokussieren dabei vor allem auf die kulturellen Bewältigungsstrategien, die durch die Infragestellung einer zuvor britisch ausgerichteten kollektiven Identität im Zuge der schrittweisen Auflösung des Empire notwendig wurden. Tatsächlich war in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage der siedlerkolonial geprägten Identitätsvorstellungen in den drei Ländern abhandengekommen. Schlüsselbegriffe in diesem Zusammenhang sind unter anderem der in die Krise geratene Britishness-Mythos, Whiteness, aber auch Cultural Cringe und generell solche Begriffe, die unter Belonging zusammengefasst werden können. Empirebezogene Narrative haben über Generationen hinweg kontingenzbewältigend gewirkt, und neben Vorstellungen von Kultur und kollektiver Identität auch wichtige Aspekte in Ökonomie und Politik beeinflusst. Vor diesem Hintergrund fokussiert Kochs Studie auf die Suche nach vermeintlichen und tatsächlich neuen Identitätskonzepten. Sie fragt danach, mit welchen neuen Symbolen, Erinnerungspraktiken, Erfolgsnarrativen und Mythen Kontingenz in einer Epoche verarbeitet werden konnte, in der Großbritannien und das Empire keine festen Bezugsgrößen mehr sein konnten.

Die Arbeit gliedert sich in fünf Großkapitel und wird mit einer Einleitung eröffnet, die den Blick auf das Empire richtet. Die Zielsetzung des Buches wird nicht nur dort, sondern auch im umfangreichen Folgekapitel, in dem es um die Kontextualisierung und den theoretischen Zugriff geht, ausführlich dargelegt. Der Begrifflichkeit wird dabei breiter Raum gewidmet, insbesondere der Kategorie Identität, ebenso einzelnen Aspekten von Disruption und Kontinuität, die mit dem Wechsel von einer Kolonie zu einer Nation und in Zusammenhang mit dem New Commonwealth eine Rolle spielten. Das dritte Kapitel fokussiert auf den Cultural Cringe, ein als Minderwertigkeitskomplex beschriebener Zustand, dessen Bezeichnung auf A. A. Phillips zurückgeht und das Bewusstsein damaliger weißer Australier kennzeichnete: kulturelle Minderwertigkeit als Vorstufe für den darauf folgenden Identitätsverlust - eine Entwicklung, die im Vergleich der drei Länder zuerst in Kanada zu beobachten war, auch aufgrund der Nähe der USA. Das vierte Kapitel stellt den Kern des Buches dar. Darin wird auf die Vorstellungen des New Nationalism Bezug genommen, der in gewisser Hinsicht eine Reaktion auf Cultural Cringe und den Verlust der Britishness darstellt. Großbritanniens Hinwendung nach Europa hatte in den drei Ländern zu unterschiedlich starken Schockwellen geführt - und zu unterschiedlichen Bewältigungsstrategien. Während sich Australien und Neuseeland im pazifischen Raum und vor allem gegenüber der Inselwelt Ozeaniens neu zu positionieren versuchten, kam es in allen drei Staaten zu Formen eines Multikulturalismus, der sich auf hybride Weise als Ausweg aus der alten Identitätskonzeption anbot. Die Indigenen in den drei Ländern wurden plötzlich "entdeckt", was aber nicht bedeutete, dass diese Minderheiten sogleich mehr Mitspracherechte erhielten. Doch man begann sich mit diesen zu schmücken und schöpfte daraus neue kulturelle Identifikation, indem mit ihnen eigene kulturelle Ausdrucksformen entwickelt wurden, die als vermeintlich neue nationale Alleinstellungsmerkmale fungieren konnten.

Koch gelingt es gut, die komplexen Zusammenhänge dieses schier unüberblickbaren Themas herauszuarbeiten und die Strategien zur Bewältigung der allumfassenden Identitätskrise anhand vieler Beispiele sehr anschaulich und informativ darzulegen. Seien es Symbole wie Flaggen oder die Art der Selbstdarstellung bei Weltausstellungen - der Autor illustriert Aktionen und Reaktionen auf die erkannte Identitätskrise und die Bemühungen zur Schaffung eines neuen Selbstbildes. So schwebte in Australien den Protagonisten einer Neuorientierung nicht notwendigerweise ein bi-kulturelles Selbstverständnis der Nation vor. Ein solches Selbstbild entbehrte in Australien jeder historischen Legitimation, denn im Gegensatz zu den Maori im benachbarten Neuseeland hatten die Aboriginals - Stichwort: terra nullius - keinerlei Anteil am Gründungsmythos der Nation. Die entwickelten Strategien schwankten zwischen Chancen und Bedrohung, zwischen Selbstalarmierungen und Lösungsansätzen und zwischen Bedrohungsdiagnosen und Bewältigungspraxen, wobei dem Multikulturalismus als neuer Mythos eine Sonderrolle zukam. Der Autor thematisiert im fünften Kapitel - Fazit und Ausblick - die in den drei Ländern entwickelten unterschiedlichen Praxen des Re-ordering und die Rolle von othering-Prozessen. Seine detailreiche Studie gewährleistet Anknüpfungspunkte an etablierte Forschungsfelder und endet mit der von der Gegenwart in die Zukunft reichenden Frage nach dem langen Schatten des Empire.

Zweifellos hat Koch umfassendes Wissen über die Nationalgeschichte der drei in Rede stehenden Länder und kann aus dem Vollen schöpfen. Die Vielzahl der verwendeten Quellengattungen und die sich aus den spezifischen Ländergeschichten ergebenden unterschiedlichen Erzählstränge werden vom Autor gut zusammengeführt. Behutsam abwägend stellt er Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber und verknüpft sie mit theoretischen Erörterungen. Koch hat für diese umfassende Studie Archivalien in London, Canberra, Wellington, Auckland, Montreal, Ottawa, Regina, Saskatoon und Toronto ausgewertet und diese Informationen durch Zeitungsartikel, Talkshowgespräche und diverse Interviews ergänzt. Dem Lesefluss dienlicher wäre indes gewesen, wenn die zum Teil sehr langen, elaborierten Erläuterungen in den Fußnoten mehr in den Fließtext eingebaut worden wären. Der vom Verlag umsichtig gestaltete Band weist neben einundzwanzig in den Text integrierten Abbildungen und einer umfangreichen gegliederten Bibliografie eine kommentierte Zeitleiste zu ausgewählten Ereignissen in Kanada, Australien und Aotearoa Neuseeland auf, eine Übersicht über die Regierungszeiten der damals regierenden Premierminister und ein detailliertes Personen- und Sachregister. Der gut geschriebene und daher anregend zu lesende Band schließt eine thematische Lücke zu (post-)kolonialen Erfahrungsszenarien im Kontext transnationaler sowie transferbezogener Geschichtsschreibung innerhalb der Globalgeschichte. Dieses in jeder Hinsicht beeindruckende und erhellende Buch kann daher nachdrücklich empfohlen werden.

Rezension über:

Sebastian Koch: Identitätskrisen nach dem Ende des Britischen Empire. Zur kulturellen Neu-Verortung in Kanada, Australien und Aotearoa Neuseeland (= Bedrohte Ordnungen; 18), Tübingen: Mohr Siebeck 2023, XIII + 511 S., 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-16-161480-4, EUR 89,00

Rezension von:
Hermann Mückler
Universität Wien
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Mückler: Rezension von: Sebastian Koch: Identitätskrisen nach dem Ende des Britischen Empire. Zur kulturellen Neu-Verortung in Kanada, Australien und Aotearoa Neuseeland, Tübingen: Mohr Siebeck 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/11/38893.html


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