sehepunkte 25 (2025), Nr. 11

Philip Haas / Martin Schürrer: Erstrittene Freiheit zwischen Kaiser und Fürstenherrschaft

In der Frühen Neuzeit bildete sich im Reich neben der Reichsstadt und der Landstadt ein dritter Städtetyp heraus, den bereits die Zeitgenossen als "civitas mixta" bezeichneten und für den die moderne Geschichtsforschung den Begriff "Autonomiestadt" verwendet. Die Autonomiestädte, die vor allem in Norddeutschland verbreitet waren, waren Teil eines fürstlichen Territoriums, erfreuten sich jedoch weitgehender Unabhängigkeit vom Landesherrn, ohne die Reichsstandschaft erreicht zu haben.

Philip Haas und Martin Schürrer zeigen in einer problemorientierten Studie, die sich auf eine Vielzahl archivalischer Quellen stützt und die gelehrte frühneuzeitliche Publizistik auswertet, am Beispiel Einbecks die Strukturmerkmale und die politischen Wirkungsmöglichkeiten einer Autonomiestadt des 16. Jahrhunderts auf. Einbeck war der wirtschaftlich potenteste Ort Grubenhagens, des kleinsten der Teilfürstentümer des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg, das aus den zwei unverbundenen Gebietsteilen um Einbeck sowie um Osterode und Herzberg am westlichen und südlichen Rand des Harzes bestand. Der Wohlstand der Stadt und damit ihre politische Macht beruhten vor allem auf der Bierproduktion und dem überregionalen Bierhandel. Ihre weitgehende politische Unabhängigkeit, die u. a. in der erfolgreichen Weigerung ihren Ausdruck fand, den finanziellen Forderungen des Landesherrn nachzukommen, erreichte die Stadt unter den Herzögen Ernst (1518-1567), Wolfgang (1531-1595) und Philipp II. (1533-1596). Die Landesherren sahen sich gezwungen, die städtischen Privilegien anzuerkennen und ihre Absicht aufzugeben, Einbeck stärker in das Fürstentum zu integrieren.

Zu den Voraussetzungen für den Erwerb und die Sicherung der Autonomie gehörte die Finanzschwäche der Landesherren, der die wirtschaftliche Macht der Stadt gegenüberstand. Diese konnte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ihre Verteidigungsanlagen ausbauen, die sie für den Fürsten uneinnehmbar machten. Außerdem fand die Stadt Einbeck politischen Rückhalt an ihren Schutzfürsten aus der calenbergischen und wolfenbüttelschen Linie des Welfenhauses sowie am Sächsischen Städtebund, dem zu Beginn der Frühen Neuzeit durchaus noch politisches Gewicht zukam; in ihm hatten sich unter der Führung Braunschweigs u. a. die niedersächsischen Städte Göttingen, Hameln, Hannover, Hildesheim und Northeim zusammengeschlossen, die ähnliche Ambitionen wie Einbeck besaßen. Besondere Bedeutung für die Sicherung der Städtefreiheit kam den systematisch ausgebauten Beziehungen Einbecks zum Kaiser zu; es gelang der Stadt, Maximilian II. und Rudolf II. zu veranlassen, in mehreren Diplomen ihre Sonderrechte, darunter das begehrte "privilegium de non arrestando", anzuerkennen und sie in den kaiserlichen Schutz zu nehmen. Dadurch ergab sich für die kaiserliche Seite die Möglichkeit, den Einfluss auf Norddeutschland auszuweiten. Die Privilegierungen erschienen der Stadt zur Sicherung der Autonomie ausreichend, so dass sie im Unterschied zu Braunschweig oder Hildesheim den Status einer Reichsstadt nicht anstrebte, der darüber hinaus die finanziellen Forderungen zugunsten des Reiches vermehrt hätte.

Einbeck konnte seine weitgehende Autonomie auch nach dem Anfall Grubenhagens an das Fürstentum Wolfenbüttel nach dem Tod des söhnelosen Philipps II. 1596 sichern. Die Stadt hatte selbst an dieser Angliederung gegen den Protest der Lüneburger Linie mitgewirkt. Das Ende ihrer Autonomie brachte der Dreißigjährige Krieg, der die Stadt aufgrund mehrfacher Besetzungen und durch die Einschränkung des Handels in wirtschaftliche Schwierigkeiten brachte und sie dadurch auch politisch schwächte. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte sich Einbeck "von einer Autonomie- in eine Landstadt gewandelt" (291).

Die Verfasser vermitteln einen detailreichen, anschaulichen Überblick über die Entwicklung Einbecks im 16. Jahrhundert, wobei die Charakteristika und die politischen Möglichkeiten einer Autonomiestadt überzeugend dargestellt werden. Darüber hinaus wird deutlich, dass die frühneuzeitliche Reichsverfassung kein kodifiziertes, fest umrissenes Gebilde darstellte, sondern für die Entwicklung neuer verfassungsrechtlicher Strukturen offen war. Außerdem relativiert die Arbeit die in der Geschichtsforschung zeitweilig vertretene Vorstellung vom "reichs- oder kaiserfernen Norden". Es wäre zu wünschen, wenn weitere Untersuchungen über die erwähnten Autonomiestädte Norddeutschlands angefertigt würden, bei denen insbesondere das "nach außen gerichtete Handeln" (13) stärkere Berücksichtigung findet.

Rezension über:

Philip Haas / Martin Schürrer: Erstrittene Freiheit zwischen Kaiser und Fürstenherrschaft. Die frühneuzeitliche Autonomiestadt und der Fall Einbeck (= Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; 318), Göttingen: Wallstein 2023, 363 S., 17 Farb-Abb., ISBN 978-3-8353-5454-8, EUR 36,00

Rezension von:
Hans-Georg Aschoff
Hannover
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Georg Aschoff: Rezension von: Philip Haas / Martin Schürrer: Erstrittene Freiheit zwischen Kaiser und Fürstenherrschaft. Die frühneuzeitliche Autonomiestadt und der Fall Einbeck, Göttingen: Wallstein 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/11/38597.html


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