sehepunkte 25 (2025), Nr. 10

Lioba Martini: Das KZ und seine Nachbarschaft

Das im Sommer 1944 eingerichtete Konzentrationslager Katzbach in den Adlerwerken im Frankfurter Stadtteil Gallus war eines von tausenden KZ-Außenlagern, die im Verlauf des Krieges, hauptsächlich in den Jahren 1943/44, zur Bereitstellung von KZ-Häftlingen für die Rüstungsindustrie eingerichtet wurden. Insgesamt waren in diesem Lager 1.616 Häftlinge, die meisten von ihnen aus Polen stammend, eingesperrt und wurden zur Zwangsarbeit bei der Produktion von Panzern eingesetzt (7 f.). Wie in etlichen anderen Fällen befand sich das KZ Katzbach mitten auf dem Firmengelände und vor allem: mitten in der Stadt. Bereits seit 2021 liegt eine umfangreiche Studie von Andrea Rudorff zu diesem Lager vor. [1] Wer bei der vorliegenden Publikation eine weitere Mikrostudie zu einem von unzähligen Konzentrationslagern vermutet, wird sich also zunächst wundern. Braucht es wirklich noch eine Lokalstudie? Die Antwort lautet ja, solange so originell und innovativ argumentiert wird, wie Lioba Martini das tut.

Die Autorin widmet sich in ihrem Buch einem häufig eher am Rande behandelten Thema: dem Verhältnis zwischen dem Konzentrationslager und seiner Nachbarschaft. Damit knüpft Martini zunächst an seit den 1990er Jahren entstehende Forschungen zur gesellschaftlichen Einbettung der Konzentrationslager an. Während die Lager in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende vielmals als exterritoriale, abgeschlossene Gewalträume charakterisiert wurden, stellten jüngere Forschungen zur Zwangsarbeit und Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus dieses Bild zunehmend infrage. Sowohl die Bedeutung der städtischen und kommunalen Verwaltung als auch von lokalen Unternehmen und Zivilpersonen wurde anhand einzelner Fallstudien herausgearbeitet.

Martini beschreibt daran anknüpfend die vielfältigen Interaktionen zwischen dem KZ Katzbach und der Frankfurter Stadtgesellschaft. Sie arbeitet die zentrale Rolle der deutschen Arbeiter, Vorarbeiter und Hilfswachmänner heraus, die im alltäglichen Betrieb der Adlerwerke umfangreichen Kontakt mit den Häftlingen pflegten, über erhebliche Handlungsspielräume verfügten und so die Lebensbedingungen der Gefangenen mitprägten. Die Grenzen zwischen Lager und Betrieb waren dabei mindestens "selektiv permeabel" (39). In Bezug auf die Kontakte zwischen SS-Personal und Anwohnern kann Martini den Befund aus Jens Schleys Studie zu Buchenwald und Weimar bestätigen, dass die Beziehungen zwischen Stadtgesellschaft und SS zu einer Normalisierung der Lagergewalt im städtischen Alltag beitrugen. [2]

Lediglich die Analyse der Interaktionen zwischen Anwohnenden und Häftlingen fällt etwas dürftig aus. Dies liegt vermutlich auch an der limitierten Quellengrundlage. Denn ausgewertet wurden lediglich Zeugenaussagen aus den Ermittlungsakten der Frankfurter Kriminalpolizei und Oberstaatsanwaltschaft, heute verwahrt im Hessischen Hauptstaatsarchiv. Dass dieser Zugang teilweise an seine Grenzen stößt, zeigt sich allein daran, dass die Autorin nur eine einzige Aussage eines Anwohners aufführt, der eingehend persönliche Kontakte zu Häftlingen beschreibt (41). So kann sie zu dem Schluss kommen, zwischen Anwohnenden und Häftlingen hätte es "kaum persönliche Kontakte" gegeben und das Verhältnis wäre "zumeist passiv" (51) gewesen. Tatsächlich erscheinen die Anwohnenden bei Martini bis auf wenige Ausnahmen dann auch als klassische Zuschauer, als Zeugen, und nicht - wie beispielsweise bei Mary Fulbrook - als "Bystander" in einem aktiveren Sinne. [3]

Das Innovative des Buches liegt im methodischen Ansatz, nämlich in der Verknüpfung von Geschichtswissenschaft und Sozialgeographie (26). Martini geht tatsächlich interdisziplinär vor, indem sie die oben beschriebenen Interaktionen in einem nächsten Schritt mithilfe sozialgeographischer Methoden analysiert. Dabei geht sie der Frage nach, wie "Geographie gemacht wurde" (31), wie sich also die vielfältigen Beziehungen zwischen KZ und Stadtgesellschaft räumlich ausdrückten. Dabei kommt Martini zu dem differenzierten Ergebnis, dass einerseits die hierarchisierende und diskriminierende Lagerlogik durch Praktiken der Segregation auch außerhalb des Lagers reproduziert wurde, durch divergierende Raumaneignungen aber andererseits auch "Inseln der Menschlichkeit" (69) entstanden. Interessant ist auch die weiterführend formulierte Hypothese, die verbrecherische Logik des Ortes Konzentrationslager würde sich durch ein soziales Beziehungsgeflecht mit der Umgebungsgesellschaft quasi auf diese transferieren. Zu diskutieren wären folgende Fragen: Ist eine solche Übertragung der Gewaltlogik zwangsläufig? Und falls ja, wie entstanden dennoch abweichende menschliche Handlungen und Beziehungen? Oder noch grundsätzlicher: Was war denn zuerst da - die verbrecherische Gesellschaft oder der verbrecherische Ort KZ? Sind solche Verbrechensorte nicht eher Ausdruck einer gesellschaftlichen Logik und nicht umgekehrt?

Die Autorin stellt wichtige Fragen, nutzt sinnvolle Analysekriterien und Kategorien und zieht überzeugende Schlüsse auf Grundlage ihres geographischen Ansatzes. Allerdings vermisst man zuweilen die Einordnung dieser Schlüsse in den größeren Forschungszusammenhang. Besonders aus historischer Perspektive drängen sich Fragen nach dem sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Hintergrund der analysierten Interaktionen zwischen KZ und Nachbarschaft geradezu auf. Auch wäre nach der Rolle von Ideologie und damit zusammenhängend nach der unterschiedlichen Behandlung verschiedener Gefangenengruppen zu fragen: Wie bestimmten beispielsweise das Geschlecht und die (nationale und soziale) Herkunft der Gefangenen sowie der Zivilbevölkerung, ob und wie interagiert wurde? Diese Fragen bleiben offen. Zugutehalten kann man der Autorin hier, dass sie sich der Beschränktheit ihrer Untersuchung bewusst ist, darauf offensiv hinweist und im Anschluss offene und zukünftig zu bearbeitende Forschungsfragen aufzeigt.

Lioba Martini hat eine kurze, aber lesenswerte Lokalstudie mit einem innovativen methodischen Ansatz vorgelegt, die sich in das vielversprechende Forschungsfeld von raumanalytischer Lager- und Nachbarschaftsforschung einfügt. Allerdings kommt die Studie an vielen Stellen - auch aufgrund ihrer beschränkten Quellengrundlage - nicht über das Exemplarische hinaus und so müssen viele größere, gesellschaftsgeschichtliche Fragen offenbleiben. Eine vergleichende und übergreifende Betrachtung der Interaktionen zwischen Lagergefangenen und Zivilpersonen im Nationalsozialismus steht weiterhin aus. Hierzu liefert das Buch von Martini aber einige wichtige methodische und konzeptionelle Impulse, die auch die klassische NS-Forschung beleben könnten.


Anmerkungen:

[1] Andrea Rudorff: Katzbach. Das KZ in der Stadt. Zwangsarbeit in den Adlerwerken Frankfurt am Main, Göttingen 2021.

[2] Jens Schley: Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrationslager 1937-1945, Köln 1999.

[3] Mary Fulbrook: Bystander Society. Conformity and Complicity in Nazi Germany and the Holocaust, New York 2023.

Rezension über:

Lioba Martini: Das KZ und seine Nachbarschaft. Eine sozialgeographische Untersuchung der Nachbarschaft des Konzentrationslagers ›Katzbach‹ in den Frankfurter Adlerwerken (= Forum Humangeographie; Nr. 21), Frankfurt/M.: Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main 2025, 92 S., urn:nbn:de:hebis:30:3-635850, ISBN 978-3-935918-30-5

Rezension von:
Kolja Buchmeier
Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Oranienburg
Empfohlene Zitierweise:
Kolja Buchmeier: Rezension von: Lioba Martini: Das KZ und seine Nachbarschaft. Eine sozialgeographische Untersuchung der Nachbarschaft des Konzentrationslagers ›Katzbach‹ in den Frankfurter Adlerwerken, Frankfurt/M.: Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/10/40582.html


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