sehepunkte 25 (2025), Nr. 10

Esra Özyürek: Stellvertreter der Schuld

80 Jahre nach Kriegsende steht die Erinnerungskultur in Deutschland vor neuen Herausforderungen. Neben der Frage, wie angesichts der schwindenden Zahl von Zeitzeugen und einem politischen Rechtsruck an die Schrecken des Nationalsozialismus und Holocaust erinnert werden soll, ist auch die Frage, welche Rolle für Menschen mit nichtdeutschen Vorfahren die Erinnerungskultur spielt, bzw. welche Rolle eben diese in der deutschen Erinnerungskultur spielen (sollen), von Bedeutung.

Es ist offensichtlich, dass Menschen mit Migrationshintergrund einen anderen, nicht familiengeschichtlichen Bezug, zum Holocaust besitzen. In der Forschung wird folgerichtig u.a. auch diskutiert, welche Ansätze und Zugänge im Geschichtsunterricht und in Gedenkstätten für Schüler:innen mit Migrationshintergrund für ein gelingendes historisches Lernen geschaffen werden müssen.

Seit dem Massaker des 7. Oktober und dem darauffolgenden Gaza-Krieg, hat die Debatte speziell um die Rolle von Muslimen in der deutschen Erinnerungskultur nochmal an Relevanz gewonnen. Speziell die Analyse des Geschichtsbewusstseins von Schüler:innen bzw. Menschen mit muslimischen Wurzeln, stellt dabei in der Forschung ein Desiderat dar. Es ist diskussionswürdig, wie Muslime selbst erinnern sollen/können und wie mit den Muslimen in der deutschen Erinnerungskultur 'umgegangen' werden soll. Der Frage nach dem Verhältnis von Erinnerungskultur und muslimischen Bürgern geht Esra Özyürek in ihrem Buch "Stellvertreter der Schuld. Erinnerungskultur und muslimische Zugehörigkeit in Deutschland" nach.

Vielleicht, so könnte man in erster Linie vor der Lektüre meinen, hilft ein Blick einer Außenstehenden, nichtdeutschen, gleichzeitig muslimischstämmigen Soziologin. Esra Özyürek, geboren und aufgewachsen in der Türkei, promoviert in Deutschland und nun tätig in England, kann an der Stelle leider keine Abhilfe schaffen. Der Titel bildet in diesem Fall auch schon die Hypothese des Buches, die in vielen Facetten von der Autorin bedient wird. Laut der Autorin wird den Muslim:innen die Schuld des Holocaust aufgebürdet, da die deutsche Bevölkerung sich erfolgreich erinnert hat, und nun dieses Schuld- und Verantwortungsgefühl auf die (neuen) muslimischen Migrant:innen abwälzt. Ihr Text liest sich mehr wie ein pamphletischer Rundumschlag als ein soziologisches Sachbuch.

Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt. Diese werden von einer Einleitung und einer Zusammenfassung umrahmt. Zu Beginn gibt die Autorin in der Einleitung einen gelungenen groben historischen Abriss über die Nachkriegszeit und -ordnung sowie über die Entnazifizierung. Sie geht dabei auf die Bedeutung von Schuld und Verantwortung gegenüber dem Massenverbrechen des Holocausts ein. Bei ihrem Versuch, die Narrative mit den Narrativen der sogenannten "deutschen Redemokratisierung" in den 50er und 60er Jahren zu verbinden, liefert sie jedoch nur Thesen, keine Belege. Sie zieht Vergleiche zwischen den Deutschen im Nachkriegsdeutschland und türkischen 'Gastarbeitern' und versucht sich in einer Psychoanalyse der muslimischen Kinder bzw. Männer. Ihre Ausführungen führt sie in den nächsten Kapiteln im selben Tempo und derselben Dichte weiter. Diese basieren jedoch mehr auf Beobachtungen von Workshops für muslimischstämmige Jugendliche sowie auf - während der Begleitung von Fahrten nach Auschwitz und anderen bildungsprogrammatischen und gedenkstättenpädagogischen Programmen - gewonnenen Erkenntnissen. Das Buch verliert mit fortschreitender Lektüre an Sachlichkeit und Überblick.

Özyürek versucht diese lokalen Mikroprojekte tiefenpsychologisch zu erklären und historisch zu verorten. Dabei fußt ihr Wissen auf einer Reihe kanonischer Werke - erkenntnisreich für den Leser wird das Thema dadurch nicht. Ein derart komplexes historisches Ereignis anhand von Beobachtungen von begleiteten Projekten erklären zu wollen, bei denen die Teilnehmenden in Problembezirken zu verorten sind, führt zu einem stark verzerrten Blick. Eine Historisierung der Situation der muslimischen Minderheit in Deutschland und der damit gezogene Vergleich zur Nachkriegsgesellschaft hinkt.

Dabei setzt Özyürek eine Intersektionalität - kulturell und religiös - voraus, die es aufgrund ihrer Einzelfallanalyse nicht geben muss. Oft wird auf Leitfadeninterviews mit Gedenkstättenpädagogen und Männern und Frauen mit muslimischem Hintergrund verwiesen. Die Quellen für diese Daten werden aber nicht wiedergegeben, auch nicht in Form von Fußnoten. Ihre eigene, vermeintlich objektiv beobachtende Rolle schöpft sie dafür subjektiv - mit dem Anspruch einer über allem schwebenden Perspektive - großzügig aus.

Sie geht nacheinander auf Antisemitismusprojekte ein und leitet anhand einzelner lokaler Projekte und Initiativen ihre Thesen ab. Ausgehend von diesen Beispielen schließt sie auf Integrationshemmnisse und Konflikte innerhalb dieser Brennpunktcommunity und überträgt diese auf die deutsche Gesellschaft. Zwar wird ihre 'Erzählung' mit einem großen Portfolio an Literatur begleitet, liest sich aber wie eine erzwungene Übertragung auf die deutsche Gesellschaft und die deutsche Realität. Schwer nachvollziehbar bleibt, wie sie die Erinnerungskultur mit den Alltagsrassismen in Verbindung bringt und Race-Gender Fragen damit zu beantworten versucht.

An steilen Thesen mangelt es dem Buch nicht. So behauptet sie u.a., in Deutschland würde nicht die Praxis der Erinnerungsarbeit infrage gestellt, sondern die Lernfähigkeit der muslimischen Jugendlichen, was man mit bestimmten Projekten aus dem Bundeshaushalt zu begegnen versuche. Von den Muslimen würde verlangt werden, sich "empathisch in die jüdischen Holocaust-Opfer hineinzuversetzen". Dafür müssten sie aber zuerst die "Schuhe ethnischer Deutscher und von da aus den Schuh jüdischer Opfer" (58) anziehen. "Sich den Schuh" schiebt sie hinterher, "des NS-Täters-Mitläufers oder seiner Enkel anzuziehen, um bereuen zu können", sei eine "zwingende Voraussetzung dafür, dem deutschen Gesellschaftsvertrag beitreten zu dürfen" (58).

Ihre Erkenntnisabsichten zur Export-Import-Theorie des muslimischen Antisemitismus in Deutschland wirken dabei stark apologetisch. Die Autorin versucht zu beweisen, dass die Muslime vermeintlich die Rolle als Sündenböcke, die sie ihnen von Beginn an attestiert, innehaben. Mit der Übertragung von Modellen und Ideen gestaltet sie eine Erzählung und versucht dadurch einen Kontrast zwischen dem deutschen Muslimsein und der deutschen Gesellschaft aufzubauen. Dafür scheut sie sich nicht, sich an allen vorherrschenden Vorurteilen abzuarbeiten - von 'Ehrenmorden' bis hin zu anderen rassistischen Stigmata.

Bei diesen Phänomenen, die ohne Zweifel historische Ursprünge haben, bewegt sich die Autorin in Dimensionen, die zu komplex sind und bei denen die Erklärungen eher verwirren, als dass sie sachlich dargelegt und nachgezeichnet werden. Sie versäumt es zu zeigen, dass in der Geschichtswissenschaft und auch in der Gedenkstättenpädagogik, u.a. in Yad Vashem, die reine Täter-Opfer-Darstellung schon lange kritisiert wird. Schwer tut man sich als Leser mit dem Vergleich des Holocaust und dem osmanischen Genozid an den Armeniern und/oder dem Nahostkonflikt. Hier besteht für die Autorin vordergründig keine Schwelle zwischen Historischem und Zeitgeschichtlichem.

Auch wenn das Buch einen akademischen Anspruch hat oder sich als akademische Publikation versteht, liest es sich wie ein sehr subjektiver, populärwissenschaftlicher Text, mit vielen biographischen Bezügen, aber genauso wenigen Belegen. Der Inhalt mit seinen Thesen bleibt ein subjektiver Bericht und eine überzeichnete Einschätzung der Erinnerungskultur und der Rolle der Muslime dabei. Der Versuch, große soziologische Phänomene historisch zu erklären, misslingt der Autorin. Am Ende liest sich das Buch genauso verwirrend wie die Theaterstücke, die sie beschreibt: Fragmentarisch und verzerrend. Dem Leser bleibt nur der Titel klar im Gedächtnis.

Rezension über:

Esra Özyürek: Stellvertreter der Schuld. Erinnerungskultur und muslimische Zugehörigkeit in Deutschland. Mit einem Vorwort von Eva Menasse. Übersetzt aus dem Englischen von Elsbeth Ranke, Stuttgart: Klett-Cotta 2025, 320 S., ISBN 978-3-608-98858-1, EUR 26,00

Rezension von:
Mehmet Oyran
München
Empfohlene Zitierweise:
Mehmet Oyran: Rezension von: Esra Özyürek: Stellvertreter der Schuld. Erinnerungskultur und muslimische Zugehörigkeit in Deutschland. Mit einem Vorwort von Eva Menasse. Übersetzt aus dem Englischen von Elsbeth Ranke, Stuttgart: Klett-Cotta 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/10/40424.html


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