sehepunkte 25 (2025), Nr. 10

Hendrik Suder / Liska Wittenberg (eds.): The von der Leyen Commission

In der historischen Integrationsforschung besteht Konsens, dass eine EU-Kommission zu präsidieren sehr schwierig ist, zumal mit zunehmender Mitgliederzahl. Die erste unter Leitung von Walter Hallstein (1958-1967) hatte es mit sechs und die von Jean-Claude Juncker (2014-2019) mit 28 Staaten zu tun, was zu einer schier unmöglich zu bewältigenden Aufgabe werden konnte. [1] Junckers Nachfolge übernahm Ursula von der Leyen, nachdem sich das Europäische Parlament auf den aus den Wahlen von 2019 siegreich hervorgegangenen Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, nicht einigen konnte. Frankreichs Präsident Macron und Bundeskanzlerin Merkel hatten sich in klassischer intergouvernementaler Hinterzimmer-Diplomatie für die Deutsche als neue Kommissionspräsidentin im Deal für Christine Lagarde als Nachfolgerin für Mario Draghi auf dem Chefposten der Europäischen Zentralbank geeinigt. Von der Leyen sprach - im Unterschied zu allen ihren männlichen Vorgängern - erstmals von einer "geopolitischen Kommission", was inhaltlich diffus blieb. Indes sollte die bis dato unausgesprochene Realität der Geopolitik die europäische Politik erfassen. Die Pandemie seit 2020, der chaotische Abzug der USA aus Afghanistan 2021, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine 2022 und das Massaker der terroristischen Hamas in Israel 2023 stellten von der Leyens Team vor schwere, wenn nicht unlösbare Aufgaben. Die EU war mehr denn je unter Druck, globale politische Funktionen wahrzunehmen, obwohl parallel dazu das reguläre Arbeitsprogramm zu bewältigen war, wie Ludger Kühnhardt, von 1997 bis 2024 Direktor des Zentrums für europäische Integrationsforschung (ZEI) an der Universität Bonn, einleitend schreibt.

Primäres Anliegen dieses Projekts war eine wissensbasierte Beantwortung der Frage, ob diese Kommission in der Lage war, auf die verschiedenen Krisen effektiv zu reagieren, und dabei gleichzeitig fähig blieb, ihre wichtigsten Politikziele zu erreichen, oder ob sie von diesen Krisen getrieben oder gar überwältigt wurde. Das Team unter den Herausgebern Hendrik Suder und Liska Wittenberg prüfte durchgehend die Kommissionsarbeit. Es knüpfte dabei an eine Vorlage an, die das ZEI bereits zuvor als unabhängiges politikwissenschaftliches, auf die europäische Integration spezialisiertes Forschungsinstitut erarbeitet hat, nämlich die Aktivitäten der Kommission Juncker zu untersuchen und dabei Pionierarbeit für die historische EU-Forschung zu leisten. [2]

Das Werk gliedert sich in drei Teile. Suder legt zunächst die Art der Dauerbeobachtung offen. Im zweiten und größten Teil geht es um die sechs vorrangigen Ziele der Kommission. Darin befassen sich, den Prioritäten folgend, Aiveen Donnelly mit dem "Europäischen Grünen Deal", Carlos Deniz Cesarano mit "Europa für das digitale Zeitalter", Christoph Bierbrauer mit "Wirtschaft im Dienste der Menschen", Stephen Calleya mit "dem stärkeren Europa in der Welt", Henri de Waele mit der "Förderung unserer europäischen Lebensweise" und Christine Neuhold mit einem "neuen Impuls für die europäische Demokratie". Im dritten Teil beschäftigt sich Wittenberg mit "Geopolitik als Katalysator für Maßnahmen". 16 instruktive Abbildungen in Form von Grafiken und Organigrammen liefern anschaulich die jeweiligen Bilanzen und Ergebnisse, ausgehend von den gesetzten Zielsetzungen der Kommission von der Leyen und in toto auch für die von Juncker sowie den entsprechenden Rechtsakten.

Insgesamt ist sich die Autorenschaft einig, dass das Auftauchen von COVID alle EU-Institutionen ebenso überrascht hat wie der russische Einmarsch in die Ukraine und die daraus erwachsende Krise der Energiebeschaffung, während die Klimafrage und die für die EU bereits schwelenden Probleme der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Identität sowie Migration bereits zuvor herausfordernd waren und wirksamere Reaktionen zwingend machten. Der Kommission wird gutgeschrieben, dass sie von ihrem Ziel einer grünen, digitalen und geopolitischen EU nicht abgelassen hat. Obwohl zum Amtsantritt von der Leyen kritische Stimmen laut wurden, habe ihre Kommission sowohl auf die Umsetzung ihrer Prioritäten insgesamt Wert gelegt als auch gleichzeitig auf das Einsetzen unerwarteter Krisen gut reagiert. Die Reaktion auf die globale Gesundheitskrise habe zwar den Übergang zur Nachhaltigkeit gestärkt, die Energiekrise in Verbindung mit dem russischen Ukraine-Krieg diesen Übergang jedoch verlangsamt. So erhob sich für das Team die Frage, ob die EU weiterhin auf kurzfristige Lösungen für aktuelle Herausforderungen setzen werde, um diese zu bewältigen. Es handle sich dabei nicht um ein neues Phänomen, wobei sich die Herausgeberin fragt, "wann die EU ihre Lektionen lernen wird, da einige Krisenreaktionen gezeigt haben, dass sie dazu in der Lage ist" (217). Während unter Junckers Kommission eine gereifte EU erkennbar wurde, präsentierte sich die erste Kommission von der Leyen als eine noch weiter entwickelte Variante, die das geopolitische und geoökonomische Instrumentarium der EU signifikant ausdehnen konnte. Dabei liegt für den Rezensenten der Schluss nahe, dass die Kommission in zentralen Krisen eine von den Entwicklungen getriebene und daher eine mehr reaktive als proaktive EU-Institution war.

Der Ausgleich zwischen geopolitischen Ambitionen einerseits und der Einhaltung von Normen und Werten der EU andererseits wird weiterhin als eine Aufgabe erachtet, die "ein umsichtiges Vorgehen der Kommission und anderer EU-Institutionen erfordert, um die Identität der Union zu wahren" (217). Zuletzt werden - für Politikwissenschaft nicht unüblich - Empfehlungen für die nachfolgende Kommission ausgesprochen: ad-hoc-Krisen anzugehen, gleichzeitig den Fokus auf globale Klimanotfälle zu behalten, eine ernsthafte Bestandsaufnahme der Erfolge der ersten Kommission von der Leyens vorzunehmen und diese mit einer neuen Agenda zu konsolidieren. Die analysierte Thematik ist daher aktueller und relevanter denn je. Das Team des Herausgeber-Duos hat erstmals systematisch und vergleichend angelegte Einblicke in die von der Leyen-Kommission eröffnet, ihre Stärken und Schwächen ausgewogen analysiert und entsprechende Rückschläge festgemacht. Ein letztes Wort ist damit noch nicht gesprochen - die kritische Geschichtswissenschaft bleibt dazu weiter gefordert -, aber für eine weitergehende Gesamtbeurteilung der ersten wie auch der neuen Kommission von der Leyen liegt hiermit ein unverzichtbares, Maßstäbe setzendes Werk vor.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Jan van der Harst / Gerrit Voerman (eds.): An Impossible Job? The presidents of the European Commission 1958-2014, London 2015.

[2] Siehe die Besprechung: Robert Stüwe / Thomas Panayotopoulos (eds.): The Juncker Commission. Politicizing EU Policies (= Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung; Vol. 79), Baden-Baden: NOMOS 2020, https://www.sehepunkte.de/2022/04/34725.html (15.8.2025).

Rezension über:

Hendrik Suder / Liska Wittenberg (eds.): The von der Leyen Commission. Geopolitical Commission under the Pressure of Crises (2019-2024) (= Schriften des Zentrum für Europäische Integrationsforschung. Center for European Integration Studies; Vol. 88), Baden-Baden: NOMOS 2024, 223 S., ISBN 978-3-7560-1360-9, EUR 59,00

Rezension von:
Michael Gehler
Stiftung Universität Hildesheim
Empfohlene Zitierweise:
Michael Gehler: Rezension von: Hendrik Suder / Liska Wittenberg (eds.): The von der Leyen Commission. Geopolitical Commission under the Pressure of Crises (2019-2024), Baden-Baden: NOMOS 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/10/40130.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.