sehepunkte 25 (2025), Nr. 10

Olaf Hartung (Hg.): Geschichtskulturen im digitalen Wandel?

Wie erinnern wir heute an Geschichte und wer gestaltet dieses Erinnern mit? Die Digitalisierung hat Formen historischer Kommunikation tiefgreifend verändert: Seit dreißig Jahren prägen neue Plattformen, Erzählweisen und Öffentlichkeiten das kollektive historische Bewusstsein. Der Sammelband "Geschichtskulturen im digitalen Wandel?", herausgegeben von Olaf Hartung, Alexandra Krebs und Johannes Meyer-Hamme, greift diese Entwicklungen auf und fragt, wie sich geschichtskulturelle Praktiken im digitalen Raum verschieben, erneuern oder verfestigen. Ziel des Bandes ist es, die Wechselwirkungen von Gesellschaft, Geschichtskultur und Digitalität in ihren theoretischen, empirischen, pragmatischen und normativen Dimensionen zu beleuchten (7). Diesem Anspruch wird der Band gerecht: Er vereint grundlagentheoretische Überlegungen mit konkreten didaktischen und medienpraktischen Perspektiven.

Die fünfzehn Beiträge, die auf eine gleichnamige Fachkonferenz 2022 in Paderborn zurückgehen, sind in vier thematische Abschnitte gegliedert. Ihnen vorangestellt sind ein einleitendes Herausgeber:innenkapitel sowie ein soziologisch fundierter Beitrag von Dirk Baecker. Im Zentrum steht die Frage, wie sich digitale Transformationsprozesse auf historisches Lernen, Vermittlungsformate und geschichtskulturelle Ausdrucksformen auswirken - im schulischen wie im außerschulischen Raum. Das thematische Spektrum reicht von epistemologischen Reflexionen (Baecker, Hartung) über digitale Analyseverfahren (Kühberger, Krebs, Mierwald) bis hin zu praxisnahen Fallstudien zu Social Media und digitalen Unterrichtstools (u.a. Schmitz-Zerres, Fenn/Arlt, Ventzke). Dabei wird deutlich, dass sich im digitalen Raum eine Vielzahl geschichtskultureller Formate und Praktiken entfaltet, von digital verhandelten Denkmälern bis hin zu Virtual-Reality-Anwendungen, die zusammengenommen als ein "Geschichtsmarkt der Möglichkeiten" (15) verstanden werden können.

Besonders hervorzuheben ist die systematisch aufgebaute Einleitung, die zentrale Begriffe wie Digitalisierung, Erinnerungskultur und Public History präzise voneinander abgrenzt. Ein besonderer Mehrwert liegt im Fragenkatalog zur Analyse digitaler Geschichtskulturen auf Makro-, Meso- und Mikroebene (20-25). Er thematisiert zentrale Spannungsfelder: Wie verändern sich Zeitdimensionen, Machtverhältnisse oder institutionelle Strukturen? Wer sind die Nutzer:innen - und wie wirken digitale Echokammern? Die Herausgeber:innen reflektieren nicht nur Potenziale des Internets als Erinnerungsort, sondern benennen auch Ambivalenzen wie die Spannung zwischen der Demokratisierung von Wissen und der Verbreitung von Desinformation.

Diese kritische Perspektive vertieft Olaf Hartung, der Felix Stalders Konzept einer "Kultur der Digitalität" [1] aufgreift und es im geschichtsdidaktischen Kontext zur Idee einer "(Geschichts-)Kultur der Digitalität" weiterentwickelt. Im Zentrum steht die Frage, wie sich die Bedingungen historischen Lernens unter digitalen Vorzeichen, d.h. unter anderem durch neue mediale Logiken, Akteur:innenkonstellationen und partizipative Erzählformen, verändern. Eine medientheoretische Rahmung bietet Dirk Baecker, der Geschichtskultur als Ausdruck einer "Kultur der Komplexität" (49) versteht. In seiner Genealogie der Medienepochen argumentiert er, dass sich die "nächste Gesellschaft" zwar historisch ableiten, aber nicht mehr erzählen lasse (35). Geschichtsschreibung werde, so Baecker, "zu einer Frage des Formats" und werfe die methodische Herausforderung auf, wie sich digitale Verfahren wie Data Mining, kollaboratives Schreiben oder App-Entwicklung in geschichtskulturelle Praxis übersetzen lassen (50).

Die Frage, wie sich digitale Methoden mit geschichtsdidaktischen Zielen verbinden lassen, wird im Band mehrfach aufgegriffen - besonders anschaulich in den Beiträgen von Marcel Mierwald, Christoph Kühberger und Alexandra Krebs. Mierwald betont in "Historisches Denken 2.0" die Notwendigkeit neuer (Methoden-)Kompetenzen für Lernende und Lehrende und diskutiert am Beispiel digital verfügbarer Oral-History-Interviews zentrale Aspekte digitaler Quellenkritik. Kühberger wiederum zeigt anhand studentischer Essays zur Demokratiegeschichte in Österreich, wie sich Mixed-Methods-Ansätze - also die Verbindung von distant und close reading - zur Untersuchung geschichtsdidaktisch relevanter master narratives nutzen lassen. Besonders innovativ ist der Beitrag von Alexandra Krebs, die in einer empirischen Studie mit 168 Lernenden den Einsatz der "App In die Geschichte" [2] untersucht. Sie erhebt Logfile-Daten und wendet unüberwachtes maschinelles Lernen an, um Nutzungsmuster zu identifizieren. Dabei zeigt sie, wie Lernende eigenständig Fragestellungen entwickeln und historische Quellen analysieren und vor allem, wie unterschiedlich Nutzer:innen digitale Plattformen für historisches Denken und Lernen einsetzen.

In einem Band über Geschichtskulturen im digitalen Wandel dürfen soziale Medien selbstverständlich nicht fehlen. Zwei Beiträge untersuchen Formen historischen Erzählens auf TikTok, Instagram und Twitter, also Plattformen, die nicht nur Kommunikation, sondern auch Geschichtsbilder prägen. Mia Berg und Andrea Lorenz führen in das noch junge Forschungsfeld ein und diskutieren Herausforderungen wie Archivierung oder Quellenkritik. Am Fallbeispiel @ichbinsophiescholl analysieren sie, wie historische Figuren als Influencer:innen erinnert werden und welche Spannungen zwischen Emotionalisierung, Authentizität und kollektiver Zuschreibung entstehen. Hannes Burkhardt zeigt am Beispiel historischer Jahrestage, wie konkurrierende Deutungsstränge auf sozialen Plattformen sichtbar werden. Ein wichtiger Aspekt seiner didaktischen Hinweise besteht in den konkreten Fragen und Methoden, die er bietet, um diese digitalen Erinnerungsräume produktiv im Unterricht zu nutzen.

Besonders aufschlussreich sind jene Beiträge, die das Potenzial digitaler Räume für die Förderung historischer Kompetenzen und raumbezogenen Lernens ausloten. Sabrina Schmitz-Zerres zeigt etwa, wie Google Street View im Schulkontext zur Analyse historischer Bildquellen eingesetzt werden kann. Monika Fenn und Jakob Arlt reflektieren den Einsatz virtueller Klassenzimmer zur Förderung didaktischer Kompetenzen bei Lehramtsstudierenden, während Wolfgang Buchberger und Christoph Kühberger anhand der "Salzburger MuseumsApp" Möglichkeiten aufzeigen, schulisches Lernen mit regionalgeschichtlichen Museumsräumen digital zu verknüpfen. Die Beiträge zur Nutzung von Virtual Reality machen deutlich, dass sich Erfahrungen im virtuellen Raum stark unterscheiden: Kommunikationsbarrieren, Unsicherheiten im Umgang mit dem digitalen Setting und fehlende Routinen zeigen, dass VR-gestütztes historisches Lernen noch in der Erprobung steckt, aber wichtige Impulse für künftige didaktische Szenarien bietet.

Mehrere Beiträge widmen sich digitalen Lehr- und Lernmitteln, die direkt im Unterricht einsetzbar sind. Projekte wie die Plattform "Bedrohte Ordnungen" (Rainer Lupschina), "mBook Geschichte" (Markus Ventzke), "segu" (Lena Liebern) oder "Erklärvideos 2.0" (Andrea Brait und Heike Krösche) zeigen, wie digitale Formate das klassische Lehrangebot ergänzen. Sie eröffnen neue Diskussionsräume und fördern die Fähigkeit der Schüler:innen, Informationen zu deuten und kritisch zu reflektieren. Im Unterschied zum Schulbuch, dessen Produktionszyklen oft träge auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen reagieren, ermöglichen digitale Lernmittel mehr Pluralität, Aktualität und Anschlussfähigkeit an wissenschaftliche Diskurse.

Bei aller inhaltlichen Qualität stellt sich die Frage, ob ein physisches Buch das ideale Format für ein Werk ist, das sich intensiv mit digitalen Transformationen befasst. Zwar enthält der Band zahlreiche Visualisierungen und grafische Darstellungen - etwa zur Plattformnutzung oder zu didaktischen Designs - doch sind einige davon in der Druckfassung schwer lesbar. Eine ergänzende digitale Version, idealerweise interaktiv, hätte den medienreflexiven Anspruch unterstrichen. Zudem bleibt das Thema Künstliche Intelligenz vergleichsweise unterbelichtet. Zwar finden sich einzelne Verweise (etwa in der Einleitung oder bei Alexandra Krebs' Einsatz von "unsupervised learning"), doch wird die Bedeutung von KI für historisches Lernen meist nur angedeutet. Allerdings ist dies wohl auch dem Zeitpunkt der Entstehung des Bandes geschuldet: Die zugespitzte öffentliche Debatte um generative KI setzte erst mit dem Aufkommen von ChatGPT Ende 2022 ein. Gerade angesichts der stark gestiegenen Relevanz von Chatbots, generativer Textproduktion und KI-gestützter Quellenkritik wäre ein Folgeband wünschenswert, der sich systematisch mit best practices im Umgang mit KI im Geschichtsunterricht auseinandersetzt.

Der Titel des Bandes endet mit einem Fragezeichen - doch man könnte es mit gutem Grund weglassen. Die Beiträge zeigen eindrücklich, wie tiefgreifend sich Geschichtskulturen im digitalen Wandel verändert haben und wie vielfältig, kreativ und reflektiert mit dieser Transformation umgegangen wird. Ob im Unterricht, in Museen, auf Plattformen oder in der Lehrer:innenbildung: Digitale Formate, Tools und Praktiken prägen die Auseinandersetzung mit Geschichte heute auf breiter Ebene. Der Band richtet sich an Lehrende aller Bildungsbereiche ebenso wie an Forschende der Geschichtsdidaktik und Public History. Zwar konnten in dieser Rezension nicht alle Beiträge gewürdigt werden, doch jedes Kapitel bietet informative, anregende und praxisrelevante Impulse. Besonders gelungen ist der Ausgleich zwischen theoretischer Tiefenschärfe und anschaulichen Beispielen - vom Museumsapp-Konzept über virtuelle Klassenzimmer bis zum Jahrestags-Post als Insta-Story. Die Lektüre regt dazu an, Geschichte nicht nur als vermittelbares Wissen, sondern als ko-kreativen Aushandlungsprozess im digitalen Raum zu denken.


Anmerkungen:

[1] Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin 2016.

[2] Alexandra Krebs: Geschichten im digitalen Raum. Historisches Lernen in der 'App in die Geschichte', Berlin 2024.

Rezension über:

Olaf Hartung (Hg.): Geschichtskulturen im digitalen Wandel? (= Forum Historisches Lernen), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2024, 371 S., ISBN 978-3-7344-1629-3, EUR 39,90

Rezension von:
Jana Dunz-Keck
Deutsches Historisches Institut, Washington, DC
Empfohlene Zitierweise:
Jana Dunz-Keck: Rezension von: Olaf Hartung (Hg.): Geschichtskulturen im digitalen Wandel?, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/10/39906.html


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