sehepunkte 25 (2025), Nr. 10

Elisabeth Burk: Fürstliches Sammeln um 1700

Landgraf Carl von Hessen-Kassel (1654-1730) gilt als ambitionierter Herrscher, der noch heute vor allem durch dingliche Kulturzeugnisse präsent ist - allen voran die über Kassel blickende Herkulesstatue und die Wasserspiele des Bergparks Wilhelmshöhe. Gerade in den letzten 20 Jahren ist Carl verstärkt in den Fokus kunst- und kulturhistorischer Forschung gerückt. Eine Grundlage dafür bildete Hans Philippis 1976 erschienenes Standardwerk, eine 840 Seiten starke und akribische Darstellung, geschöpft aus einer schier endlosen Fülle schriftlicher Quellen. Ein halbes Jahrhundert später und den 'material turn' im Rücken legt nun Elisabeth Burk mit ihrer Dissertation eine Studie vor, die sich ausschließlich mit Carls Sammelpraxis beschäftigt und Philippis Monographie an Akribie in nichts nachsteht. Was bei ihm noch fünf Prozent seines Buchs ausmachte - die Beschäftigung Carls mit dinglichen Kulturzeugnissen aller Art inklusive Architektur, verbunden mit der Einschätzung, viel mehr lasse sich angesichts archivalischer Lücken auch nicht mehr herausfinden [1] - füllt nun bei Burk zwei Bände: einen 622 Seiten starken darstellenden Band und einen 276 Seiten umfassenden digitalen Quellenband.

Den Unterschied macht der vernetzt denkende Ansatz Burks aus, ein engmaschiges In-Bezug-Setzen zahlreicher schriftlicher Quellen mit musealen Objekten. Der Quellenband II, das Rückgrat der Arbeit, kombiniert die Transkription von Inventaren, eine Anthologie von Dokumenten und eine Chronologie der Sammlungsrezeption. Über Annotationen und Fotografien werden Objekte und Inventareinträge miteinander verknüpft, eine wesentliche Rekonstruktionsleistung im Angesicht der - typisch frühneuzeitlich - lakonischen Objektbeschreibungen. Das erhöht zusammen mit der digitalen Publikationsform den Nutzwert der Arbeit enorm; lediglich die Bibliografien sind durch eine Aufteilung in Kategorien mit jeweils neu ansetzender alphabetische Ordnung zum Nachschlagen etwas unpraktisch geraten.

Neben dem Quellenstudium nimmt Burk eine vergleichende Perspektive ein. Sie bündelt vorliegende Einzelstudien und ergänzt diese um Vergleiche mit einer Auswahl anderer Fürsten, um so das Besondere oder Typische von Carls Sammeltätigkeit herauszustellen. Damit entgeht die Arbeit auch der Gefahr, ein reines Kompendium zu sein. So geht Band I nach einem Forschungsüberblick (Kap. 1) die Sammlungen und damit zusammenhängenden Räume ab (Kap. 2), nimmt Akteure im Sammlungszusammenhang in den Blick (Kap. 3) und beleuchtet die Sammlungsverwaltung (Kap. 4). Die Analyse geht dabei sehr behutsam vor, Lücken und Unwägbarkeiten werden benannt, schnelle Schlüsse oder provokante Thesen vermieden, bekannte Aussagen bestätigt oder relativiert. Den Abschluss jedes Kapitels bildet ein Zwischenfazit, was den Überblick enorm erleichtert.

So führt Burk zunächst durch das Kasseler Residenzschloss, wo Appartements Sammlungen beherbergten, aber "vor allem für den Landgrafen und ausgewählte Gäste bestimmt" (I, 123) waren; Akzente ließen sich durch unterschiedliche Objektgattungen setzen und ermöglichten eine differente Gewichtung gegenüber Appartements anderer Fürsten (I, 162). Das Zeughaus war der Ort, um militärische Wehrhaftigkeit inklusive technologischer Innovationen zu demonstrieren, zugleich wurden hier ebenso wie im Marstall mit der Kunstkammer Objekte aus der Sammeltätigkeit von Vorfahren, "aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert" (I, 189-190), präsentiert. Innovativ war vor allem das Kunsthaus: Es war keine Kunstkammer in anderer Form, sondern verband einen universalen dinglichen Sammlungsanspruch mit einer naturwissenschaftlichen Instrumentensammlung und einer Benutzbarkeit in Verbindung mit einem integrierten Lehrbetrieb, dem 1709 gegründeten Collegium Carolinum. Innerhalb der um 1700 auszumachenden Heterogenität fürstlicher Sammlungspräsentationen setzte Carl im Kunsthaus Ideen aus aktuellen "museumstheoretischen Schriften und wissenschaftlichen Diskursen" (I, 369) um - "deutlich vor anderen Regenten" (I, 370). Herzstück des Modellhauses war ein großformatiges und breit rezipiertes Modell des Bergparks mit Wasserspielen in nicht vollendeter Form, sodass das Modellhaus als "Krönung der Sammlungspräsentation Landgraf Carls" (I, 391) bewertet wird, das sich im interhöfischen Vergleich als "beispiellos" (I, 406) erweist. Für Erwerbungsvorgänge aktivierte Carl aber nicht einzelne Spezialisten, wie andere Fürsten, sondern "spannte sämtliche Hofangehörige und andere [...] mit ihm in Verbindung stehende Personen für Erwerbungen aller Art [...] ein." (I, 454) Im Bereich der, auch an anderen Höfen weniger gut erforschten, Sammlungsverwaltung zeichnet sich ein eher typisches Bild ab, da nicht einzelne Experten, sondern "Personen [...], die das Vertrauen des Fürsten genossen" (I, 521) unterschiedliche Sammlungsteile verwalteten, mit dem Kunsthaus als abermals innovativer Institution mit Ansätzen einer fachlichen "Spezialisierung" (I, 520).

Die abschließende Zusammenfassung (I, 523-529) stellt noch einmal heraus, wie eine Bewertung Carls nun bestätigt oder verändert werden müsse: Demnach war Carl als Sammler eben kein zweiter Ludwig XIV. oder August der Starke, sondern entwickelte eine eigene Position. Sein Residenzschloss war der eher exklusive Sammlungsort mit Raum für persönliche Akzente; Marstall und Zeughaus waren übernommene Institutionen, die Carl fortführte und transformierte; das Kunsthaus dagegen das innovative Experiment einer offenen Akademie mit Lehrsammlung in einem holistischen Bildungs- und Sammlungsverständnis; das Modellhaus wiederum ein Demonstrationsort für sowohl Geleistetes als auch Visionskraft. Bemerkenswert ist gegenüber anderen Höfen, dass Carl, anders als im Fall des Bergparkprojekts, ausgerechnet seine Sammlungen mit Stichwerken oder Katalogen nicht publizierte. Nach Burk sind es vielmehr die "ausgestellten Sammlungen, die Art ihrer Präsentation und einzelne Objekte" (I, 526), nicht ihre mediale Repräsentation, die Wirkung entfalteten.

Zusammengenommen liegt hier auch die wichtigste Erkenntnis der Arbeit: Es geht weniger darum, welche einzelne Kunstgattung Carl nun bevorzugte, ob er nun Kameen lieber als Gemälde sammelte oder Steinschnitt besonders förderte - das hatte auch Philippi schon erfasst -, sondern entscheidend ist das akribisch zusammengetragene Panoptikum, das zeigt, wie Carl innerhalb eines Möglichkeitsspektrums agierte. Im Sammeln probierte der Fürst sich aus und konnte experimentieren; er schuf mit Sammlungen und Sammlungsorten Probierräume, die unterschiedlich innovativ oder traditionell, mit anderen vergleichbar oder - so wiederholt konstatiert - einzigartige "Ausnahmeprojekte" (I, 4; 14; 372; 527) [2] sein durften, und erprobte so Möglichkeiten und Modi für Erkenntnis, Reputationsgewinn oder ästhetischen Genuss - ohne nur einem Weg zu folgen oder folgen zu müssen. Damit ist die Arbeit schließlich ein wertvoller und gewichtiger Beitrag gerade für eine Bewertung und weitere Analyse dieser Möglichkeitsräume.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Hans Philippi: Landgraf Karl von Hessen-Kassel. Ein deutscher Fürst der Barockzeit, Marburg 1976, 579-619; der Hinweis ebd., 580.

[2] Dieses in Anknüpfung an Eva-Bettina Krems: Medien, Transfer und Netzwerke: Höfische Konkurrenz um 1700, in: Landgraf Carl (1654-1730). Fürstliches Planen und Handeln zwischen Innovation und Tradition, hgg. von Holger Th. Gräf / Christoph Kampmann / Bernd Küster, Marburg 2017, 203-212, hier 206.

Rezension über:

Elisabeth Burk: Fürstliches Sammeln um 1700. Die Kunstsammlungen Landgraf Carls von Hessen-Kassel im europäischen Vergleich (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte; 195,1 u. 2), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2024, 2 Bde., XIII + 609 S.; V + 271 S., 106 Farb-Abb., ISBN 978-3-88443-351-5, EUR 39,00

Rezension von:
Sebastian Dohe
Klassik Stiftung Weimar
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Dohe: Rezension von: Elisabeth Burk: Fürstliches Sammeln um 1700. Die Kunstsammlungen Landgraf Carls von Hessen-Kassel im europäischen Vergleich, Marburg: Historische Kommission für Hessen 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/10/39695.html


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