Hendrik Simon, Politologe und Völkerrechtler in Frankfurt, hat seit mindestens einem Jahrzehnt die Grundthese seines Buches in Aufsätzen, Vorträgen und Sammelbänden dargelegt. In dieser Monografie wird er nicht müde, Gegenargumente zu dieser - gleich zu nennenden Ansicht - immer wieder in vielen Variationen zu entkräften. Unterstützt wird er dabei durch entsprechende Vorworte seiner beiden Gutachter im Dissertationsverfahren, Lothar Brock und Miloš Vec. Demnach lautet diese Meistererzählung, es habe im langen 19. Jahrhundert ein freies Recht zur Kriegführung gegeben, ein liberum ius ad bellum. Erst nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem mit dem Briand-Kellogg-Pakt (dem Kriegsächtungspakt) von 1928 und der UN-Charta sei dieses in völkerrechtlich verbindlichen Bahnen abgeschafft worden. Dazu zitiert Simon eine eindrucksvolle Liste an Völkerrechtlern und Politologen der internationalen Beziehungen, weniger jedoch einschlägig arbeitende Historiker auf diesem Feld.
Simons Ansatz ist es demgegenüber, die Diskussionen über die Begründung von Kriegen von der Französischen Revolution bis ans Ende des 19. Jahrhunderts nuanciert und detailliert vorzuführen. Dabei zeigt sich: Es wurde in der Politik, bei Philosophen, Denkern und Völkerrechtlern immer wieder begründet, warum denn ein Krieg geführt werden solle oder müsse. Diese Legitimierung von Kriegen hatte Konrad Repgen 1985 für "Alteuropa", im Kern aber für den Dreißigjährigen Krieg zum Untersuchungsgegenstand gemacht, Anuschka Tischer 2012 für die Frühe Neuzeit insgesamt. [1] Zentral für dieses Thema ist es, dass Kriegsgründe als Normen begriffen werden, als Beiträge zu Diskursen und damit von oft machtpolitisch bedingten, aber gegenüber der Staatenwelt für notwendig oder sinnvoll erachteten Akten; es geht nicht um vermeintlich wahre Motive oder ähnliches. Das versteht sich für eine historische Analyse eigentlich von selbst.
Für die Verteidigung der Französischen Revolution wurde das Argument der Volkssouveränität zentral und blieb es mit Modifikationen auch über die napoleonischen Kriege hinweg. Dagegen habe sich auf deutscher Seite ein Ansatz gebildet, der etwa bei Ernst Moritz Arndt Ansätze zu einer totalitären Berufung auf die Nation geführt habe. Die Wiener Ordnung von 1814/15 "was situated in the nexus between normativity and power. One must not make the mistake of weighing one with the other. This order was not either normative or political, but always both: a highly political catalyst for the emergence of modern international norms" (122). Genau in dieser doppelten Sichtweise auf die Diskurse liegt die Stärke der differenzierten Arbeit von Simon. Es handelte sich also nicht um vertragliche Kriegsverbote, sondern pragmatische Formulierungen zur Rechtfertigung von Kriegen - dem klassischen bellum iustum seit dem Mittelalter. Die Ansprechpartner waren also die anderen Staaten, vor allem die Großmächte, die auf diese Weise ihre Interessen als - immer bestreitbare und umstrittene - Normen ausgaben.
Das setzte sich im Krimkrieg (1853-1856) mit Modifikationen fort: In der britischen Kriegserklärung an Russland mischten sich "politics, positive international law, morality, religion and - in keeping with the international zeitgeist - historical civilizational arguments. Continuity and change in the European discourse on the legitimacy of war can thus be vividly depicted here" (162). In den Kriegen der 1860er Jahre um Italien und Deutschland mischten sich dann Argumente von nationaler Ehre, Selbstbestimmung und nationale Feindbilder zu einer Mischung von Macht und Normanspruch - inklusive territorialer Änderungen gegenüber der Wiener Ordnung. Gewaltakte wurden also von Staatsmännern wie Napoleon III., Cavour oder Bismarck selbstverständlich neben rechtsförmiger Legitimation verwandt.
In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts setzte sich aber auch eine andere Richtung mehr und mehr durch, die an Immanuel Kant anknüpfte und Frieden durch Recht, durch kodifizierte Normen anstrebte. Das haben Völkerrechtler wie Martti Koskenniemi schon seit zwei Jahrzehnten herausgearbeitet [2], die zeigten, wie sich um das 1873 im belgischen Gent gegründete Institut de Droit international ein kommunikatives Netzwerk bildete, das für eine formelle Verrechtlichung des Kriegsrechts eintrat; es bildete sich eine - um es im anglo-amerikanischen Sinn auszudrücken - liberale Völkerrechtstheorie aus, die zwischen legitimen und illegitimen Kriegen unterschied und so eine Tendenz zur Ächtung von Kriegen aufwies. Hier vertieft Simon also differenziert den bisherigen Forschungsstand.
Wie Simon anhand einer breiten völkerrechtlichen Diskussion nachzuweisen sucht, teilten sich die Diskurse seit den 1870er Jahren stark in nationale Kulturen. Insbesondere im Deutschen Reich bildete sich eine spezifisch machtpolitische Legitimation der Einigungskriege des vorangegangenen Jahrzehnts aus, wie an mehreren Autoren, zumal Johann Capar Bluntschli, gezeigt wird - der Schweizer war, aber in Deutschland lehrte. In den folgenden Jahrzehnten erkennt Simon eine stärkere nationale Differenzierung der Argumentationen in Europa zwischen Politisierung und Entpolitisierung durch akzeptiertes Recht. "For the core goal of liberal legal scholarship remained the depoliticization of international relations through their legalization. At the same time, however, the European project of legalization was always a political project sui generis. This becomes particularly clear in liberal legal scholars' aim to 'civilize' international relations" (237). Hier erkennt der Autor einen deutschen Sonderweg des unbedingten Machtwillens, für Kolonialfragen eher am Rande modifiziert durch einen britischen Offizier Charles Edward Callwell, der die Unbedingtheit von Gewalt gegenüber 'Unzivilisierten' vertrat. Dabei spielten die deutschen Völkerrechtler Carl Lueder und Heinrich Rettich eine markante Rolle in der Entwicklung der These von einem freien Recht auf Krieg.
Dieser deutsche Weg in die Unbedingtheit nationaler Interessen gegenüber dem liberalen Argument einer Einhegung gipfelte für Simon in den Haager Friedenskonferenzen (1899 und 1907), auf denen weder die deutschen Völkerrechtsdelegierten noch gar der Kaiser irgendeinen Sinn sahen, ja - im Gegenteil - eine Gefährdung absolut gesetzter nationaler Interessen. Bellizismus sondergleichen habe zur deutschen Isolation beigetragen. Eine eventuelle "Kriegsnotwendigkeit" - das hat schon Isabel Hull 2014 behauptet - entwickelte sich zur zentralen Handlungsmaxime für Berlin: vor dem Ersten Weltkrieg und dann in diesem Krieg selbst [3]. Auch hier wäre der Rezensent vorsichtiger: Militärs dachten nicht nur im Deutschen Reich Politik auch und gerade im Hinblick auf "Kriegsnotwendigkeiten". Modifikationen dieser zentralen deutschen Argumentation sieht er vor allem bei Walther Schücking und Max Huber, erneut ein Schweizer, sogar offizieller Delegierter seines Landes, der hier umstandslos dem deutschen Denken zugeschlagen wird. Die Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg suchte zwar den Vorrang des internationalen Rechts darzulegen, diese zentrale Maxime wurde jedoch durch politische Interessen der Siegermächte überlagert. In den letzten Jahrzehnten ist der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 von Völkerrechtlern als der zentrale Markstein für die Verrechtlichung des Krieges ausgemacht worden. Auch hier war - so das Urteil des Rezensenten - die konkrete reparationspolitische Absicht zentraler als der weitgehende juristische Wortlaut.
Simon jedoch geht es darum, diese Verrechtlichung des Rechts zum Kriege wesentlich früher, eben im langen 19. Jahrhundert zu verorten, kantianischem Friedensdenken also eine stärkere und kontinuierlichere Wirkung zuzuweisen, als dies in herkömmlicher Völkerrechtslehre geschehen sei. Wie aber kam es zu der juristischen Lehrmeinung, im 19. Jahrhundert habe es ein liberum ius ad bellum gegeben? Hier knüpft er nahtlos an die These vom deutschen Sonderweg an: Diese These sei vom deutschen Völkerrechtler Heinrich Rettig 1888, aber auch Carl Lueder klar formuliert worden, und zwar auch in bellizistischer Absicht, und für die internationale Rechtswissenschaft im 20. Jahrhundert von Personen wie Carl Schmitt und sodann Wilhelm Grewe gleichsam kanonisiert worden. Schmitt, der Kronjurist des 'Dritten Reiches', und Grewe, schon in der NS-Zeit aktiv, dann aber der zentrale Völkerrechtsberater der Ära Adenauer, vertraten diese Ansicht, die dann international in englischer und französischer Literatur übernommen worden sei. Das ist doch eine etwas überraschende These: Nicht nur große Teile der Rechtswissenschaft, sondern auch der Politikwissenschaft zu den internationalen Beziehungen hätten entgegen dem hier erbrachten empirischen Befund diese realistische Sicht auf die Staatenwelt des 19. Jahrhunderts von den Deutschen übernommen und nicht wirklich gemerkt, dass es ein freies Recht auf Kriegführung gar nicht gegeben habe.
Dem Rezensenten scheint etwas Anderes näher zu liegen. Eine scharfe juristische Kategorie des ius liberum ad bellum löst sich bei differenzierter historischer Kontextualisierung in ein nominalistisches Postulat auf, das weder den intellektuellen Argumentationszusammenhängen noch dem Denken und Handeln der führenden politischen Akteure entsprach. Machtpolitik und Recht waren keine Antinomien. Gerade wenn man das Gewohnheitsrecht, etwa in der Wiener Großmächteordnung von 1814/15, einbezieht, bleibt dennoch ein weithin akzeptierter Weg in kriegerische Auseinandersetzungen, es bildete sich ein "vages normatives Vokabular" (363). Liberale und realistische Argumentationen überschnitten sich auch im 19. Jahrhundert oder anders formuliert: Rechtspositionen hatten immer etwas mit Machtpolitik zu tun. Das ist auch eine zentrale Einsicht dieser spannend zu lesenden und klar formulierten Studie.
Anmerkungen:
[1] Konrad Repgen: Kriegslegitimationen in Alteuropa. Entwurf einer historischen Typologie, München 1985; Anuschka Tischer: Offizielle Kriegsbegründungen in der Frühen Neuzeit. Herrscherkommunikation in Europa zwischen Souveränität und korporativem Selbstverständnis, Berlin 2012.
[2] Martti Koskenniemi: The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law, 1870-1960, Cambridge 2001.
[3] Isabel Hull: A Scrap of Paper. Breaking and Making International Law during the Great War, Ithaca 2014.
Hendrik Simon: A Century of Anarchy? War, Normativity, and the Birth of Modern International Order (= The History and Theory of International Law), Oxford: Oxford University Press 2024, XXIX + 392 S., ISBN 978-0-19-285550-3, GBP 110,00
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