sehepunkte 25 (2025), Nr. 10

Martin Grosch: Sezessionen

Martin Groschs Monografie zum Thema Sezessionen verspricht viel: Eine Klärung zentraler Begriffe, eine Diskussion der Ursachen von Separatismus, einen Überblick über vergangene und aktuelle Sezessionsbewegungen in allen Teilen der Welt sowie nicht zuletzt Antworten auf die Frage, wann Sezessionen gerechtfertigt sind und Aussicht auf Erfolg haben. Der Autor ist laut Klappentext promovierter Historiker, Ministerialrat und Reserveoffizier im Landeskommando Hessen. In den einleitenden Kapiteln zur Begrifflichkeit widmet sich Grosch zunächst Definitionen von Nation, Volk und Nationalismus, zitiert hierfür sehr ausführlich aus den Werken der üblichen Verdächtigen (Johann Gottfried Herder, Ernest Renan, Benedict Anderson etc.) sowie alle zehn Strophen des Lieds "Des Deutschen Vaterland" von Ernst Moritz Arndt.

Das folgende Kapitel widmet sich zentralen Begriffen zum Phänomen Sezession. Auf der zweiten Seite dieses Kapitels (44) angelangt, kommen dem Rezensenten zwei Absätze plötzlich sehr bekannt vor. Es beginnt mit den Sätzen: "Auch wenn das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg mehrfach infrage gestellt wurde, erwiesen sich die erfolgten Annexionen und Sezessionen andererseits nicht als Präzedenzfälle für anschließende Missachtungen der UN-Charta. Stattdessen führten die Reaktionen in der internationalen Politik letztlich zu einer Stärkung der Norm der territorialen Integrität." Das Déjà vu ist kein Zufall, denn tatsächlich sind die beiden Abschnitte in großen Teilen ohne Nachweis einer älteren Projektskizze des Rezensenten entnommen [1]. Von stilistischen Kleinständerungen und -ergänzungen abgesehen scheinen nur der letzte Satz des zweiten Absatzes sowie ein Halbsatz, demzufolge die "Pariser Vorortverträge" zum "Revisionismus der Weltkriegsverlierer" führten, aus der Feder des Buchautors zu stammen.

Nimmt man den Rest des Unterkapitels (44-47) und dessen Literaturgrundlage etwas genauer unter die Lupe, stellt man fest, dass die folgenden knapp drei Seiten in der Argumentationsstruktur und zu großen Teilen auch wörtlich aus einer im Internet einsehbaren Bachelor-Arbeit von Sandra Arnold übernommen sind [2]. Man kann Grosch hier zugutehalten, dass er in den Fußnoten - mit dem Zusatz "Siehe zum Folgenden" (45 bzw. 312/FN. 5) - auf Arnolds Arbeit verweist. Anführungszeichen zur Kennzeichnung von wörtlichen Übernahmen finden sich allerdings nicht. Zudem zitiert er weitere Publikationen, die allerdings mit einer Ausnahme ebenfalls in der Bachelorarbeit zu finden sind (sogar die angegebenen Seitenzahlen sind identisch). Des Weiteren ist der Text an manchen Stellen gekürzt, an anderen ergänzt worden. Bei der Definition von "Dismembration" etwa ergänzt Grosch die kurzen Ausführungen von Arnold: "Dabei bleibt der alte Staat im Gegensatz zur Sezession als Völkerrechtssubjekt nicht bestehen, sondern geht unter, während die neu entstandenen Staaten gleichzeitig neue Völkerrechtssubjekte verkörpern, die mit dem alten Staat nicht identisch sind." (45) Dieser Zusatz ist aber - ohne Verweis hierauf - fast identisch mit dem entsprechenden Wikipedia-Artikel [3].

Die weiteren Kapitel widmen sich dann den Ursachen von Sezessionen (Kapitel III), den Akteuren (Kapitel IV), historischen Entwicklungen in Europa, Afrika, Asien und Nordamerika (Kapitel V) sowie ausgewählten Fallstudien zu aktuellen Sezessionsbewegungen (Kapitel VI), international nicht anerkannten Sezessionen (Kapitel VII), gescheiterten Sezessionen (Kapitel VIII) und den beiden Sonderfällen Taiwan und Westsahara (Kapitel IX).

Ein Blick in Fußnoten und Literaturverzeichnis lässt darauf schließen, dass es Grosch nicht primär darum geht, sich systematisch mit der aktuellen Forschung zu befassen. Überwiegend führt er ältere Literatur, populäre Darstellungen wie die von Peter Scholl-Latour sowie Zeitungsartikel (etwa aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und der Jungen Freiheit) an; in manchen Fällen verweist Grosch auch auf die Wikipedia-Artikel, mit denen er arbeitet. Zudem finden sich in seinem Buch längere Interviews, etwa mit der baskischen Politikerin Mireia Zarate Agirre, ein Wiederabdruck aus 'Wir selbst. Zeitschrift für nationale Identität' (229-233), oder das vom Autor selbst geführte Interview mit Eva Klotz, Gründungsmitglied der Partei Süd-Tiroler Freiheit, das Grosch zufolge "die Südtirol-Problematik in authentischer und offen-ehrlicher Form" zusammenfasst (213-220).

Inhaltlich fällt zum einen auf, dass Groschs Ausführungen nicht immer fehlerfrei sind. So führt er fälschlich Zaire in der Liste der Staaten auf, die Biafra anerkannt haben (275) [4]. Zum anderen ist nicht zu übersehen, dass er in einigen Fällen für bestimmte separatistische Bestrebungen Partei ergreift. Insbesondere die Sezessionsbewegung in Südtirol beschreibt er mit viel Sympathie und setzt sich nicht mit kritischen Forschungsperspektiven auseinander, die etwa auf Verbindungen zwischen gewaltbereitem Südtiroler Separatismus und Rechtextremismus in der Bundesrepublik hinweisen [5]. Stattdessen liest sich Groschs Skizze dieses Konflikts wie eine Anklageschrift gegen den italienischen Staat, der "unerbittlich gegen die Widerstandskämpfer" vorgegangen sei (208). Auch Somaliland hat Grosch zufolge die Anerkennung verdient, habe es doch "demokratische Strukturen etabliert, wovon zahlreiche Staaten nicht nur in Afrika Lichtjahre entfernt sind" (263). Und durch die Nichtanerkennung der Unabhängigkeitsbestrebung eines "christlichen innovativen Volkes" (277) während des Biafrakriegs habe der Westen "eine freiheitliche fortschrittliche Demokratie als Vorbild für ganz 'Schwarzafrika' verhindert" (278).

Auf eine abschließende Beurteilung des Werks soll hier verzichtet werden. Die Mängelliste spricht aber für sich.


Anmerkungen:

[1] https://www.fritz-thyssen-stiftung.de/fundings/annexionen-und-sezessionen-im-zeitalter-des-globalen-kalten-kriegs/.

[2] Sandra Arnold: Rechtfertigung der Sezession von Staaten, Bachelorarbeit, Technische Universität Darmstadt 2010, 5-7, https://www.grin.com/document/179210. Bei Grosch liest man etwa: "Diesbezüglich ist zunächst zwischen einer unilateralen und einer konsensualen Sezession zu unterscheiden. Erstere bezeichnet eine einseitige Sezession, die ohne die Zustimmung des betroffenen bisherigen Mutterstaates und andere Formen von Verhandlungsprozessen durchgeführt wird. Letztere stellt hingegen eine einvernehmliche Sezession dar, die sich entweder gemäß den verfassungsrechtlichen Regelungen oder in anderen Formen von Verhandlungsprozessen vollzieht." (45) Wenn man auf der verlinkten Website auf "Blick ins Buch" klickt, kann man auf Seite 5 kostenfrei die dazu passende Passage in der Bachelorarbeit lesen.

[3] Art. "Dismembration", in: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Dismembration. Auch das bei Grosch im Folgenden aufgeführte Beispiel der Tschechoslowakei findet sich im Wikipedia-Artikel.

[4] Dafür fehlt Sambia, das Biafra anerkannt hat. Der gleiche Fehler findet sich auch im - von Grosch nicht zitierten - Wikipedia-Artikel zum Thema: Art. Biafra, in: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Biafra.

[5] Vgl. hierzu jüngst Darius Muschiol: "Das bewußte Überdecken dieses Raumes mit fremder Kultur und fremden Menschen". Die Bedeutung des Südtirol-Konfliktes für den deutschen und österreichischen Rechtsextremismus, in: zeitgeschichte 50 (2023) 4, 493-518.

Rezension über:

Martin Grosch: Sezessionen. Das erbitterte Ringen um Unabhängigkeit, München: Olzog Verlag 2024, 252 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-95768-257-4, EUR 28,00

Rezension von:
Christian Methfessel
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Christian Methfessel: Rezension von: Martin Grosch: Sezessionen. Das erbitterte Ringen um Unabhängigkeit, München: Olzog Verlag 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/10/39410.html


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