sehepunkte 25 (2025), Nr. 10

Nicholas Maniu: Queere Männlichkeiten

Mit Queere Männlichkeiten legt Nicholas Maniu eine längst überfällige Studie zu queeren Rezeptionsgeschichten gängiger Ikonographien westlicher Kunst vor. Genauer erkundet seine 2023 publizierte Dissertation umfassend und epochenübergreifend die mannigfaltigen "Bilderwelten männlich-männlichen Begehrens", wie sie der Untertitel des Buches programmatisch umschreibt.

Gleich zu Beginn betont Maniu die Bedeutung des Palimpsests als leitendem Konzept seines Vorgehens: Während Autor*innen wie Catherine Lord und Richard Meyer [1] vorrangig einen 'schwulen' Material- und Figurenkanon etabliert haben, möchte er die in den ikonographischen Geschichten angelegten Überlagerungen, Diskontinuitäten und Wechselwirkungen sichtbar machen. Er greift also die Denkfigur eines stets wiederverwendeten Manuskripts auf, in dem sich Spuren verschiedener Schriften überlagern. [2] Das Palimpsest ist so immer Text und Subtext zugleich und unterläuft, ganz im Sinne der Queerness, das kunsthistorische Verlangen nach einer linearen Historiographie.

Manius Betrachtungen kommen dabei nicht ohne ein forschungstheoretisches Grundlagenkapitel aus, in dem für die nachfolgenden Überlegungen relevante Termini eingeführt und verhandelt werden. Im Sinne einer queeren und palimpsestartigen Strategie wäre demgegenüber auch eine Verflechtung von Theorien und Werkanalysen im Hauptteil denkbar gewesen, um so Wiederholungen zu vermeiden und Que(e)rverbindungen zwischen theoretischen, bildlich-ästhetischen und konzeptuellen Motiven noch sichtbarer machen.

In besagtem forschungstheoretischen Kapitel skizziert Maniu unter anderem Diskursivierungen gleichgeschlechtlichen Begehrens zwischen Queerness, Sodomie und Pathologisierung. Diese seien eng verknüpft mit einer seit der Antike etablierten Abspaltung hegemonialer von 'devianten' Männlichkeiten und deren Homogenisierung mit 'dem Weiblichen'. Manius Überlegungen orientieren sich dabei an "(sozial-)konstruktivistisch geprägten Theoretiker*innen" (19) wie Michel Foucault, Eve Kosofsky Sedgwick und Judith Butler. [3] Zudem überträgt er die Palimpsestmetapher auf Schichtungen und Verque(e)rungen von Begehrensstrukturen sowie -diskursen und verortet 'Männlichkeit' als historisch situierte Konstruktion. [4]

Der vielgliedrige Hauptteil - insbesondere dessen ersten zwei Abschnitte - bildet jedoch den Kern der Arbeit. In der einleitenden Analyse widmet Maniu sich Motiven mit Ursprung in der Antike und bespricht zunächst Bedeutungsverschiebungen der stets zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung oszillierenden Narziss-Ikonographie: von der antiken Hybriswarnung über frühneuzeitliche Bilder eines sich selbst verzehrenden Sehnsuchtsobjekts bis hin zu queeren Aneignungen der Gegenwartskunst. Appropriationsstrategien erscheinen dabei als zentrales Mittel der Bildwerdung gleichgeschlechtlichen Begehrens - eine Argumentationslinie, die sich durch die gesamte Arbeit zieht. Die "visuelle Ermächtigungsstrategie" (74) der Aneignung ist inhärent queer und kann in instabilen campy Reinszenierungen ihren vorläufigen Höhepunkt finden- so beispielsweise, wenn Michelangelos David 2006 von Hans-Peter Feldmann in Pop Art-Manier eingefärbt und seine idealisierte Nacktheit damit ad absurdum geführt wird.

Anschließend untersucht Maniu ambivalente antike Körperlichkeiten am Beispiel von Endymion, Hermaphroditos, Dionysos oder Herkules, deren geschlechtliche Fluiditäten und erotische Ambivalenzen schließlich zu queeren Projektionsflächen werden. In ihrer Mehrfachcodierung zwischen Androgynität, Feminisierung, Hypervirilität und der liminalen Dialektik von Eros und Thanatos entfalten sie das Potenzial, etablierte Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität zu verunsichern. Letztere Dialektik prägt die im Rahmen der Arbeit betrachteten Werke ohnehin maßgeblich, kulminieren queere Aneignungen doch häufig in von der HIV/AIDS-Pandemie geprägten Rezeptionen. So wird etwa der Heilige Sebastian - der spätestens seit der Renaissance zwischen Eros und Thanatos oszilliert - mit den 1980er-Jahren erneut in seiner Funktion als Pestheiliger aufgegriffen und hierbei zum Beschützer männlich-männlich Begehrender stilisiert und politisiert.

Wie damit bereits vorweggenommen, widmet sich der Autor im zweiten Abschnitt des Hauptkapitels christlicher Ikonographie zwischen 'devianter' Männlichkeit und same sex desire. Er führt die Leser*innen durch eine Bilderwelt, die von der Dichotomie geistiger Freundschaft (amicitia) und 'sündiger Sodomie' geprägt ist. Letztere tritt im Mittelalter - wenn überhaupt - in monströser Gestalt auf. Maniu erkennt hier erste Verdichtungen der Sodomie zur 'monströsen' Identität - eine Konstruktion, die bis heute nachwirkt. Die amicitia wiederum illustriert der Autor anhand berühmter biblischer 'Freundschaften' unter Männern, allen voran jener zwischen David und Jonathan. Das Paar gilt vom Mittelalter bis in die Moderne als Paradigma sublimierter, idealisierter Freundschaft. Bilder dieser Beziehung sind jedoch selten von Erotik befreit und die Konstellation der zwei Männer wird, spätestens im 20. Jahrhundert, zur besonderen Projektionsfläche für queere Intimität. Eine queere Relektüre des Jakobskampfes offenbart schließlich dessen erotisch-ambivalente Dimensionen und macht ihn zum Sinnbild innerpsychischer wie gesellschaftlicher Konflikte queeren Lebens. Das Motiv kämpfender Männer reflektiert seit jeher Männlichkeitsideale wie Stärke und militaristische Selbstkontrolle, zugleich aber auch verborgene erotische Spannung.

Im letzten Abschnitt des Hauptkapitels wechselt Maniu die Strategie: Statt gängiger Ikonographien untersucht er Präfigurationen queeren Begehrens, die zwischen handlungs- und personenorientierten Diskursen angesiedelt sind, und nimmt dabei modische Erscheinungsbilder in den Blick. Palimpsestartig setzt er Drag Queens, Dandys, Macaronis sowie Gay Machos und deren Bildwerdung in Beziehung. Es folgt ein Intermezzo, das einen exotisierten 'Orient' als Projektionsfläche männlich-männlichen Begehrens untersucht, dabei jedoch gedrungen wirkt und in seiner Komplexität mehr Raum gebraucht hätte. Schon im Grundlagenkapitel moniert Maniu zudem Desiderate "zum weiblich-weiblichen Begehren sowie zur Inter- und Transgeschlechtlichkeit" (65) in der kunsthistorischen Forschung. Eine vertiefte Bearbeitung jener Themen kann das Buch jedoch ebenfalls nicht leisten. Es wird deutlich, dass jeder der vorgestellten Komplexe eigenständige, umfangreiche Studien verdient.

Als besonderer Gewinn der Publikation sei das abschließende Kapitel hervorgehoben, in dem Maniu sich dem queeren Raum zuwendet: Insbesondere seine Betrachtungen queerer "situativ-ephemer Räumlichkeit" (373), ausgehend vom erotisch aufgeladenen homosozialen Raum des Dürer'schen Männerbad (1496/97) entwickelt, sind aufschlussreich. Hier zeigt Maniu die oft inhärente vielschichtige Flüchtigkeit queerer Räume zwischen Badehaus, Cruising und digitalem Raum. Auch konkreter Räumlichkeit, wie etwa Bauten des Gothic Revival, wird ein queeres Potenzial zugestanden - anders als kürzlich geschehen in Schwule Architekten (2022) [5], wo die queere Biografie tendenziell unabhängig vom Raum betrachtet wird.

Besonders in seiner Bearbeitung moderner und zeitgenössischer Bilder überzeugt Maniu - sicherlich bedingt durch seine eigene kuratorische Praxis. Vormoderne Kunst wird im Text dagegen vorsichtiger queer gelesen - obgleich auch hier ein großes Potenzial liegt, wie der Tagungsband Queerness in der Kunst der Frühen Neuzeit [6] 2023 erneut zeigen konnte. In seiner Gesamtheit positioniert sich Queere Männlichkeiten als grundlegender Beitrag, der die queere Kunstgeschichtsschreibung neu akzentuiert und wertvolle Anknüpfungspunkte für weitere Studien eröffnet.


Anmerkungen:

[1] Catherine Lord / Richard Meyer: Art & Queer Culture, London 2013.

[2] Siehe hierzu Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2018 (Erstauflage 1999), 149-178.

[3] Siehe u.a. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1983; Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire, New York 1985; Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991.

[4] Donna Haraway: Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14 (1988), Nr. 3, 575-599.

[5] Wolfgang Voigt / Uwe Bresan: Schwule Architekten - Gay Architects. Verschwiegene Biografien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert - Silent Biographies from 18th to 20th Century, Berlin 2022.

[6] Lisa Hecht / Hendrik Ziegler (Hgg.): Queerness in der Kunst der Frühen Neuzeit?, Köln [u.a.] 2023; siehe hierzu auch Ausst. Kat.: Alte Meister que(e)r gelesen, Hessen Kassel Heritage - Schloss Wilhelmshöhe, Petersberg 2023.

Rezension über:

Nicholas Maniu: Queere Männlichkeiten. Bilderwelten männlich-männlichen Begehrens und queere Geschichtlichkeit (= Image; Bd. 228), Bielefeld: transcript 2023, 628 S., 163 Farb- und s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-6738-7, EUR 75,00

Rezension von:
Marie Luise Geißler
Institut für Kunstgeschichte, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Empfohlene Zitierweise:
Marie Luise Geißler: Rezension von: Nicholas Maniu: Queere Männlichkeiten. Bilderwelten männlich-männlichen Begehrens und queere Geschichtlichkeit, Bielefeld: transcript 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/10/39312.html


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