Die Welt ist in ständigem Wandel, wie schon der Vorsokratiker Heraklit von Ephesos wusste, auch Begriffe und Konzepte ändern sich im Lauf der Zeit, selbst wenn die Terminologie gleichbleibt. Dies trifft auch auf die Herrschaftsform der Monarchie im langen 19. Jahrhundert zu, die Wandlungsprozessen unterworfen war, sich den Zeitläuften anpasste und somit ihr Erscheinungsbild in Staat und Gesellschaft änderte.
Dem Phänomen der Monarchie und ihren Veränderungen vom ausgehenden 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert war im Herbst 2021 eine internationale Tagung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gewidmet, die das ebenfalls bei der Akademie angesiedelte Forschungs- und Editionsvorhaben "Anpassungsstrategien der späten mitteleuropäischen Monarchie am preußischen Beispiel 1786 bis 1918" in den Fokus nahm. Die Ergebnisse der Tagung liegen nun in einem mit zahlreichen Grafiken und zum Teil farbigen Illustrationen ausgestatteten Sammelband vor.
Ausgangs- und Referenzpunkt des Akademieprojekts ist die preußische Monarchie von 1786 bis 1918, deren Entwicklung - zwischen Tradition und den überkommenen "Schranken intermediärer Herrschaftswelten" (3) einerseits und dem - auch infolge der zunehmenden Bedeutung der Medien - emotional aufgeladenen "Immediatverhältnis von Staats-Untertan und Monarch" (17) andererseits - Wolfgang Neugebauer (1-24) in den Blick nimmt. Das neue unmittelbare Verhältnis zwischen König und Untertan war natürlich auf beiden Seiten von Interessen und Erwartungen geprägt und bot viel Potential für Aushandlungsprozesse. Zwar verloren die europäischen Monarchien im 19. Jahrhundert zunehmend an Macht, mussten sich auch infolge politischer Umbrüche immer wieder neu erfinden, blieben aber aufgrund ihres großen Integrationspotentials weiterhin von enormer politischer, kultureller und symbolischer Bedeutung. Hofstaat und die immer größer werdenden Hofgesellschaften bildeten einen staatlichen Bezugsrahmen, stifteten Identität für die unterschiedlichen staatlichen Sphären, waren Stätten der politischen Diskussion und informelle Informations- und Nachrichtenbörsen und wurden zum Sehnsuchtsort für immer breitere gesellschaftliche Schichten etwa aus dem Bürgertum oder aus den unteren militärischen Rängen - ungeachtet allen Widerstandes des alteingesessenen Adels. Am Berlin-Potsdamer Hof trafen der Wunsch zahlreicher Untertanen nach Anerkennung individueller Leistung, Auszeichnung und Distinktion auf ein ausgeklügeltes Instrumentarium von Belohnung und materialisierter und visualisierter Ehrbezeigungen (Titel, Uniformen, Orden). Unter dem Einfluss der neuen medialen Möglichkeiten entwickelte sich die Monarchie bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so das Fazit von Neugebauer, zu einer "Emotionsagentur, die dem freigesetzten Individuum seinen sozialen und politischen Ort angab" (24).
Wolfgang Neugebauers Einführung folgen 15, auf vier Abschnitte verteilte Beiträge.
Im ersten Teil beschäftigen sich drei Autoren mit den "Konjunkturen der Hofgeschichtsschreibung: Aloys Winterling (27-51) unterstreicht die Wirkmächtigkeit der Hoftheorie von Norbert Elias - auch im Vergleich mit den Höfen der römischen Kaiser. Am Beispiel des Habsburger Kaiserhofes in Wien zeichnet Jeroen Duindam (52-84) ein differenziertes Bild des monarchischen Haushalts und Hofstaates im frühen 19. Jahrhundert zwischen Kontinuität und Wandel, betont dabei aber die Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes sowie einer Erweiterung des Politikbegriffs. Ronald G. Asch (85-104) liefert einen instruktiven Überblick über die historiographische Forschung zum Fürstenhof der Frühen Neuzeit - ein Fürstenhof, an dem sich verschiedene Normen gegenseitig überlagerten und somit ein "Klima der Ambiguität" (103) herrschte, was etwa die Stellung des Adels oder auch das Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Sphäre betrifft.
Im zweiten Abschnitt befassen sich zwei Autorinnen mit den preußischen Prinzenhöfen im 19. Jahrhundert: Annelie Große (107-129) nimmt dabei eine finanzhistorische Analyse vor, Sabrina Stahl (150-183) konzentriert sich besonders auf die Prinzenhöfe in der Zeit Friedrich Wilhelms III. Vervollständigt wird die Sektion durch Beiträge von Maximilian Vissers (130-149) über den bayerischen Hof unter Maximilian IV./I. Joseph (130-149) und von Fabian Persson (184-193) über den schwedischen Hof und seine Finanzen.
Den unterschiedlichen Hofformaten und Verfahrensweisen ist die dritte Sektion gewidmet. Christoph Martin Vogtherr (197-226) vergleicht die Bautätigkeit und Denkmalpflege in Frankreich und Preußen Mitte des 19. Jahrhunderts, während Quentin Deluermoz (274-285) speziell den Hof Napoleons III. in den Blick nimmt. Zur Herrschaftsstabilisierung der europäischen Monarchien im 19. Jahrhundert trugen zum einen die "immer stärker konstitutionell sozialisierten" (246) Thronfolger bei, wie Frank Lorenz Müller zeigt (227-248), zum anderen die verstärkte Präsenz der Herrscher abseits der Metropole oder auf Reisen, wie Michaela und Karl Vocelka (249-273) am Beispiel der multinationalen Habsburgermonarchie ausführen. Abschließend analysiert Martin Kohlrausch (286-305) die komplexe Wechselbeziehung zwischen dem Hof Kaiser Wilhelms II. und den Medien "unter den - modernen - Bedingungen erhöhter Mobilität, Egalität, Leistungsanforderungen usw." (304). Die mediale Visualisierung von Rang und Status kam dabei auch einem emotionalen Bedürfnis der neuen Gesellschaft entgegen.
Im vierten Abschnitt steht die Frage im Vordergrund, inwieweit die Höfe des 19. Jahrhunderts exklusiv waren oder nicht. Dabei richtet sich der Blick auf Preußen, Italien und Japan. Anja Bittner (309-327) betont in ihrer Analyse des preußischen Hofes den erkennbaren Erfolg des Adels, namentlich bestimmter familiärer oder regionaler Netzwerke, ihre Vorrangstellung am Hof zu behaupten, der zunehmend zu einem integrativen Zentrum für die gesamte preußische Monarchie wurde. Ganz anders im Königreich Italien zwischen 1861 und 1915, so Thomas Kroll (328-346), wo der Adel seine Vorrangstellung verlor, während der Hof unter den Königen aus dem Hause Savoyen zu einem Ort der sozialen Angleichung und Instrument der adlig-bürgerlichen Elitenbildung wurde. Abschließend weitet Tino Schölz (347-385) den Blick weit über Europa hinaus auf den Kaiserhof in Japan, das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem modernen, expansiven Nationalstaat entwickelte. Dem Tennō kam dabei - auch aufgrund seiner sakralen, nationalistischen, traditionellen und modernisierenden Funktionen - eine zentrale, aber durchaus flexibel ausgestaltbare Rolle in der neustrukturierten konstitutionellen Monarchie zu.
Im fünften Teil (389-399) fasst schließlich Monika Wienfort die Ergebnisse der Tagung knapp zusammen, die als Ausgangsbasis für vergleichende Studien der Monarchieforschung im internationalen Kontext dienen sollen. Kontinuität und Wandel, Anpassungen und Innovationen kennzeichnen die Monarchien im langen 19. Jahrhundert, die natürlich auch das frühneuzeitliche Erbe in sich tragen. Weitere Merkmale sind die stetige Ausweitung der Hofgesellschaften, die Medialisierung monarchischer Herrschaft und die Ausformung unterschiedlicher, auch geschlechtsspezifischer Identifikationsangebote seitens der Herrscherfamilie. Die konstitutionell begrenzte Monarchie des 19. Jahrhunderts blieb - mit Ausnahme Frankreichs - der Normalfall in Europa; sie büßte zwar an politischer Macht ein, erlangte dafür aber im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich eine maßgebende Stellung.
Der vorliegende Sammelband liefert ohne Zweifel wichtige Erkenntnisse, um Wesen und Charakter der europäischen Monarchien im langen 19. Jahrhundert, ihre Entwicklungsstufen und unterschiedlichen Ausprägungen konkreter fassen und bestimmen zu können. Eine tragfähige Grundlage für vergleichende oder Spezialstudien ist damit aber noch keineswegs geschaffen. Es handelt sich eher um ein Mosaik punktueller Einsichten, also um den ersten Ertrag eines ambitionierten gesamteuropäisch, ja global, komparatistisch und interdisziplinär angelegten Forschungsprojekts zu einem Thema, das ständiger Veränderung in Raum und Zeit unterworfen war.
Bärbel Holtz / Wolfgang Neugebauer / Monika Wienfort (Hgg.): Der preußische Hof und die Monarchien in Europa. Akteure, Modelle, Wahrnehmungen (1786-1918), Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2023, 402 S., 12 Farb-, 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-79141-2, EUR 89,00
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