sehepunkte 25 (2025), Nr. 9

Marcia C. Schenck: Von Luanda und Maputo nach Ost-Berlin

"[D]ass mein Schicksal, ohne Vater aufzuwachsen, eins von vielen ist. [...] dass es quasi eine ganze Generation Schwarzer Ostdeutscher gibt, die mindestens einen Elternteil - meist den Vater - nicht kennen [...] die Lebensgeschichten meines Vaters und anderer Ausländer in der DDR waren entweder unsichtbar oder mit rassistischen Narrativen überschrieben", so beschreibt Katharina Warda, stellvertretend für eine Generation Schwarzer Ostdeutscher, ihren Erkenntnisprozess im Vorwort zu dem hier besprochenen Buch (13). Damit legt Marcia C. Schenk eine deutsche Übersetzung ihrer 2023 erschienenen englischsprachigen Monografie vor. [1] Neben der in Arbeit befindlichen portugiesischen Übersetzung und der Open-Access-Veröffentlichung des englischen Originals zeugt auch die deutsche Version von Schencks Bemühen, ihre Forschungsergebnisse in einem transnationalen Erinnerungsraum, der weit über ein akademisches Fachpublikum hinausreicht, zugänglich zu machen. Diese Publikationspraxis ist das Ergebnis einer engagierten Public History, bedingt sowohl durch das Thema der angolanischen und mosambikanischen Arbeitsmigrationen in die DDR als auch durch die Methode der Oral History. Nicht zuletzt die Protagonistinnen und Protagonisten, in erster Linie die ehemaligen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten, aber auch ihre (Ex-)Partnerinnen und Partner und Kinder, haben ein lebendiges Interesse an dieser Geschichtsschreibung und waren als Interviewte unmittelbar daran beteiligt.

Schenck gliedert ihre Studie in fünf Hauptkapitel. Das erste befasst sich zunächst mit den Vertragsarbeiterprogrammen auf staatlicher Ebene (74-92) und wendet sich dann persönlichen Migrationsmotiven zu, in denen sich Hoffnung auf Arbeit und Bildung mit der Flucht vor Krieg und persönlichen Gründen mischt (92-114). Die Komplexität, die aus der individuellen Vielfalt entsteht, prägt das Buch und hinterfragt etablierte und einseitige Narrative über die DDR und ihre Migrationen. Die folgenden drei Kapitel sind jeweils um Gegensatzpaare aufgebaut: Arbeit und Konsum im Sozialismus, Integration und Exklusion in der DDR-Gesellschaft, Verlust und Gewinn nach der Rückkehr. Auch diese Kapitel eröffnen ungewohnte Blickwinkel. Aus der Perspektive von vielen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten erschien die DDR mitnichten als Mangelgesellschaft, sondern im Gegenteil als ein Ort des materiellen Luxus und Konsums (116, 145-146). Die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter erlebten Rassismus und Segregation, doch ihre sozialen Kontakte, von Freundschaften über Liebesbeziehungen bis zur Aufnahme in DDR-Familien, waren für sie meist von größerer Bedeutung (164-177). Die meisten Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten kehrten nach Mosambik oder Angola zurück, was mit zahlreichen Verlusterfahrungen in Bezug auf geliebte Menschen, aber auch auf ihren sozialen und materiellen Status verbunden war (211-239). Sie gingen mit einer kulturellen Prägung aus der DDR, die viele noch heute schätzen und nicht missen möchten (239-245). Nicht zuletzt kann die Protestbewegung der Madjerman, die weiterhin die vollumfängliche Auszahlung ihres aufgeschobenen DDR-Lohns einfordert, als Fortführung einer in der späten DDR erlebten Protestkultur verstanden werden (245, 265). Das abschließende Kapitel widmet sich der spezifischen Ostalgie angolanischer und mosambikanischer Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten (268-270) und reflektiert die Temporalitäten ihrer Erinnerung. Schenck veranschaulicht plausibel, wie Erinnerung nicht nur durch die Vergangenheit geprägt ist, sondern auch durch gegenwärtige Bedingungen sowie den hoffnungsvollen Blick auf die Zukunft (278-282).

Schenck hebt vier Besonderheiten ihrer Studie hervor, die diese aus der Forschungslandschaft herausstechen lassen: Erstens stellt sie die Perspektiven von heute sogenannten Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern gegenüber anderen Gruppen mit Migrationshintergrund wie z.B. Studierenden in den Vordergrund. Zweitens stützt sich ihre Darstellung primär auf mündliche Berichte statt auf ostdeutsche Archive. Drittens verfolgt sie einen lebensgeschichtlichen Ansatz, der das Leben der Migrantinnen und Migranten vor und nach der DDR-Migration einbezieht. Viertens fokussiert sie eine Geschichte von Verbindungen und deren Trennungen, von Brüchen und Fragilität (52). Ihr Anspruch ist einzigartig in der bisherigen Forschung zu DDR-Migrationen und ermöglicht einen erfrischenden Blick auf das Thema, der gekonnt eindimensionale Narrative einer passiven Opferrolle der Migrantinnen und Migranten in Frage stellt und verkompliziert. Schencks Forschungsansatz ist insofern innovativ, als die bisherige Forschung zu DDR-Migrationen meist nur auf ostdeutschen Archiven sowie privilegierten Perspektiven basiert. Auch wenn es wohl fraglich ist, dass Schenck alle 268 geführten Interviews lebensgeschichtlich analysieren konnte, ist die punktuelle Einbeziehung einer solchen Anzahl an Interviews an sich schon beeindruckend (56). In Schencks Gesamtschau, "einer Art Kollektivbiografie" (55), verschwinden mitunter die einzelnen Protagonistinnen und Protagonisten und ihre Biografien und werden trotz dargestellter Vielfalt zu bloßen Beispielen. Schenck scheint sich dieser Tendenz bewusst zu sein, sodass sie im Prolog die Lebensgeschichte von Juma Madeira als Gegengewicht vorstellt (19-24) und auch auf weitere individuelle Biografien verweist (290). Es ist bedauernswert, dass sich im Anhang keine Zusammenstellung von Kurzbiografien zumindest der am häufigsten zitierten Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern finden lässt. Dies hätte es ermöglicht, individuelle Werdegänge besser nachzuvollziehen. Darüber hinaus thematisiert Schenck leider keinerlei Möglichkeiten einer Archivierung ihres Interviewmaterials, was eine Nachnutzung ermöglichen würde.

In Bezug auf Rassismus in der DDR-Gesellschaft lässt Schencks Studie definitorische Klarheit vermissen. Es verwundert etwas, dass sie eine Rassismusdefinition aus dem westafrikanischen Kontext heranzieht, ohne über deren Transfer zu reflektieren (162). Schwerer wiegt jedoch ihre gleichzeitige Verwendung der Begriffe Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (169). Es scheint, dass sie damit unterschiedliche Ausprägungen von Feindlichkeit gegenüber Migrantinnen und Migranten beschreibt, ohne dass sie die Unterschiede dieser beiden Begriffe fasst. Mag der Begriff Fremdenfeindlichkeit für Animositäten zwischen angolanischen und mosambikanischen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus Mangel an Alternativen nachvollziehbar sein (183), so wirkt der Begriff für die Feindlichkeit von DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürgern gegenüber Schwarzen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten fehl am Platz. Jahrzehntelang war die deutsche Debatte von einer Verharmlosung von Rassismus durch die Begriffe Fremden- oder Ausländerfeindlichkeit geprägt. [2] Diese Begriffe suggerieren, dass diese Phänomene keine historische Kontinuität zum kolonialen und NS-Rassismus aufweisen. [3] Schenck betont jedoch gerade diese Kontinuitäten (193) und hätte ihre Perspektive durch eine klare und möglicherweise für die deutsche Übersetzung angepasste Begriffsverwendung besser zum Ausdruck bringen können.

Insgesamt spielen solche begrifflichen Unklarheiten für Schencks beindruckende Darstellung von Lebensgeschichten angolanischer und mosambikanischer DDR-Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aber eine untergeordnete Rolle. Die Protagonistinnen und Protagonisten erscheinen als Menschen mit Träumen, Sorgen, Ängsten und Hoffnungen, und schon allein damit schafft diese Studie einen Maßstab, an dem sich zukünftige Forschungsarbeiten messen lassen müssen. Sowohl in Forschung und Lehre als auch für interessierte Laien bietet die Lektüre neue Einsichten.


Anmerkungen:

[1] Marcia C. Schenck: Remembering African Labor Migration to the Second World: Socialist Mobilities Between Angola, Mozambique, and East Germany, Cham 2023. https://library.oapen.org/handle/20.500.12657/60135.

[2] Mark Terkessidis: Die Banalität des Rassismus: Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeld 2004, 15-70.

[3] Maria Alexopoulou: Ignoring Racism in the History of the German Immigration Society: Some Reflections on Comparison as an Epistemic Practice, in: Journal for the History of Knowledge 2, no. 1 (2021), 7, 1-13.

Rezension über:

Marcia C. Schenck: Von Luanda und Maputo nach Ost-Berlin. Erinnerungen afrikanischer Werktätiger an die DDR. Aus dem Englischen von Joe Paul Kroll (= Forschungen zur DDR- und ostdeutschen Gesellschaft; Bd. 113), Berlin: Ch. Links Verlag 2025, 360 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-96289-231-9, EUR 35,00

Rezension von:
Jan Daniel Schubert
European University Institute, Florenz
Empfohlene Zitierweise:
Jan Daniel Schubert: Rezension von: Marcia C. Schenck: Von Luanda und Maputo nach Ost-Berlin. Erinnerungen afrikanischer Werktätiger an die DDR. Aus dem Englischen von Joe Paul Kroll, Berlin: Ch. Links Verlag 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 9 [15.09.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/09/40247.html


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