Die vorliegende Studie beseitigt ein doppeltes Desiderat: Zum einen ist die Geschichte der Handelskammern - die 1935 in Industrie- und Handelskammern und 1943 in Gauwirtschaftskammern umbenannt wurden - im Nationalsozialismus bislang erst in Ansätzen erforscht. Zum anderen war eine erste Untersuchung der Hamburger Handelskammer von 1932 bis 1948, die der Journalist Uwe Bahnsen im Auftrag der Kammer 2015 vorgelegt hatte [1], auf massive methodische und inhaltliche Kritik gestoßen - und zwar völlig zurecht. [2] Daraufhin brachte die Kammer ein Forschungsprojekt auf den Weg, das Unterstützer und Profiteure der NS-Gewaltherrschaft aus den Reihen der Hamburger Handelskammer sichtbar machen und deren Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten herausarbeiten sollte. Die Ergebnisse dieses Projekts fasst das hier zu besprechende Buch zusammen, das sich in zwei Teile gliedert: Im ersten Teil untersucht Claudia Kemper "Die Handelskammer während der NS-Zeit", der zweite Teil versammelt 21 "Biographische Skizzen" aus der Feder von Hannah Rentschler.
Die Analyse von Struktur, Funktionsweise, Personal und Tätigkeitsprofil zeigt die Hamburger Handelskammer als typische Institution der "gelenkten Marktwirtschaft" des NS-Regimes - so bereits die zeitgenössische Formulierung von Margarete Bosch. Sie agierte als Relaisstation und Clearingstelle zwischen staatlichen Organen und der Privatwirtschaft. Dabei war sie in einer Doppelfunktion tätig: als Instanz der staatlichen Wirtschaftslenkung und zugleich als Lobbyist der Hamburger Wirtschaft.
Was "Belastung und Verantwortung" betrifft, hebt Kemper - neben der "Propaganda (auch) für das NS-Regime" (128) - auf die Mitwirkung an drei Verbrechenskomplexen ab: der "Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz von Juden" (138), der "Ausbeutung der besetzten Gebiete" (160) und der "Arbeitskräftebeschaffung" (d.h. dem Einsatz von Zwangsarbeitern). In allen drei Bereichen übte die Hamburger Handelskammer in den je spezifischen institutionellen Arrangements zwischen Staatsapparat, Partei und Privatwirtschaft eine wichtige Scharnierfunktion aus. Bei der Bewertung ist Kemper zurückhaltend. Sie erblickt in der Handelskammer Hamburg eine Organisation, "die sich von Jahr zu Jahr tiefer und effizienter in das NS-System integrierte oder die zunehmend vom NS-System vereinnahmt wurde" (210 f.).
Persönliche Verantwortung und Belastung der Protagonisten der Handelskammer macht Kemper nicht an der bloßen Mitgliedschaft in der NSDAP oder NS-Verbänden fest, die für sich genommen nicht sonderlich viel aussagen, sondern an deren konkreten Handlungen - oder Unterlassungen. Die Motive für diese Handlungen werden bei diesem praxeologischen Ansatz weitgehend ausgeblendet. Auch in der Hamburger Handelskammer wirkten die Akteure, unabhängig von persönlichen Einstellungen, in summa ganz im Sinne des NS-Regimes - ähnlich wie etwa die Hamburger Finanz- und Zollbeamten. [3]
Die Gesamtbewertung fällt ambivalent aus: Positiv schlägt die Materialbasis zu Buche; die Studie beruht - in beiden Teilen - auf einer breiten Quellengrundlage, die aus einer ganzen Reihe von Archiven schöpft und sich auf dem aktuellen Stand der historischen Forschung befindet. Allerdings wirkt die Studie wie ein Projektbericht, der schnell zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurde. Das erste Kapitel "Die Wirtschaft und die Handelskammer" liest sich über weite Strecken wie ein Literaturbericht zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte im Nationalsozialismus. Dafür bleiben die ökonomischen und sozialen Besonderheiten Hamburgs, die für die Bewertung der Tätigkeit der Handelskammer durchaus von Belang sind, unterbelichtet.
Besonders nachteilig erscheint mir, dass die beiden Teile gänzlich unverbunden hintereinander stehen - sie werden nicht einmal durch die Klammer einer gemeinsamen Einleitung und/oder eines gemeinsamen Fazits zusammengehalten. So bleiben die Synergieeffekte von institutionengeschichtlichem und prosopographisch-biographischem Zugriff ungenutzt. Zudem werden die Kurzbiographien des zweiten Teils dadurch zu einem biographischen Anhang degradiert, weil ihnen die Einordnung in den Sachkontext fehlt. Dessen ungeachtet leistet der vorliegende Band einen Beitrag zur Erforschung der Handelskammern in der NS-Zeit, auf dem andere Untersuchungen aufbauen können. Zudem gelingt - gerade im ersten Teil - eine methodisch reflektierte Täterforschung auf der Höhe der Zeit.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Uwe Bahnsen: Hanseaten unter dem Hakenkreuz. Die Handelskammer Hamburg und die Kaufmannschaft im Dritten Reich, Kiel 2015.
[2] Vgl. Lu Seegers: Rezension von: Uwe Bahnsen: Hanseaten unter dem Hakenkreuz. Die Handelskammer Hamburg und die Kaufmannschaft im Dritten Reich, Kiel 2015, in: H-Soz-Kult, 17.12.2015, URL: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-22871. Felix Matheis: Rezension von: Uwe Bahnsen: Hanseaten unter dem Hakenkreuz. Die Handelskammer Hamburg und die Kaufmannschaft im Dritten Reich, Neumünster: Wachholtz Verlag 2015, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 12, 15.12.2015, URL: https://www.sehepunkte.de/2015/12/27536.html.
[3] Vgl. Jaromír Balcar / Lennart Onken: Fiskalische Verfolgung. Die Mitwirkung der Finanzverwaltung an der Ausplünderung der vom NS-Regime aus rassistischen Gründen Verfolgten in Hamburg. Eine Einführung, in: Ausgeraubt vor der Deportation. NS-Verfolgte im Fokus der Hamburger Finanzverwaltung. Katalog zur Ausstellung, hgg. von Jaromír Balcar / Lennart Onken / Alyn Šišić, Hamburg 2025, 9-23.
Claudia Kemper / Hannah Rentschler (Hgg.): Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten der Handelskammer Hamburg während der NS-Zeit. Einordnungen und biografische Annäherungen (= Forum Zeitgeschichte; 31), Berlin: Metropol 2023, 392 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-86331-688-4, EUR 26,00
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