sehepunkte 25 (2025), Nr. 7/8

Ilinca Tanaseanu-Döbler (ed.): Libraries, Handbooks, Encyclopedias

Die Religionshistorikerin Ilinca Tanaseanu-Döbler legt mit diesem Sammelband eine spannende Auswahl von Artikeln vor, die sich mit dem religiös konnotierten, religiösen, oder nicht-religiösen Inhalt der antiken "Büchertruhe," der bibliothēkē, sowie deren Organisation und Aufbau auseinandersetzen. Die Kapitel sind zum einen chronologisch, zum anderen so angeordnet, dass sie sich von der physischen Bibliothek als Raum, sei es als Teil eines Tempels oder eines einem Gott gewidmeten Baus, hin zur "virtuellen Bibliothek" (3) als einer Vereinigung von Wissen im Handbuch oder der Enzyklopädie bewegen. Dieser Aufbau mag fälschlicherweise implizieren, dass die physische Bibliothek der "virtuellen" vorausgeht. Die antike Textsammlung war aber immer physisch, selbst dann noch, als die Vereinigung von viel Text in einer einzigen Schriftrolle oder einem einzigen Codex in nachchristlicher Zeit dank der Verfeinerung von Papyrus und Pergament gelang.

Die Verbindung zwischen der Bibliothek als einem Archiv von literarischen, bzw. nicht dokumentarischen Texten und der zumindest assoziativ aufgebauten Sammlung von Exzerpten aus verschiedenen Texten zu einem bestimmten Thema ("Handbuch") oder zu verschiedenen Themen ("Enzyklopädie") wurde bereits in der Antike hergestellt. Mehrere Werke wurden unter dem Namen bibliothēkē überliefert, so zum Beispiel die Bibliothēkē historikē von Diodorus Siculus, die Bibliothēkē des Apollodorus oder Photios von Konstantinopels Buch der 1000 Bücher oder die Bibliothek (Murióbiblion ē bibliothēkē), um drei Beispiele zwischen dem 1. Jahrhundert v.Chr. und dem 9. Jahrhundert n.Chr. zu nennen. Die entsprechenden Werke scheinen mit diesem Titel einerseits auf ihre umfassende Natur hinweisen zu wollen, andererseits auf die Tatsache, dass der Leser hier auf kleiner Fläche die gleiche Menge an Wissen vorfindet, die andernorts ganze Räume füllt.

Tanaseanu-Döbler ist aber weniger an der Materialität der Texte interessiert als an der Frage, welche religiösen Komponente die physische mit der "virtuellen" Bibliothek verbinden, bzw. welche Strategien verwendet werden, um Wissen zu "religionisieren", wie sie den Vorgang nennt. Entsprechende Strategien wären z.B. die Wahl des Ortes einer Bibliothek, die Darbringung eines Buches als Votivgabe im Tempel, die Wahl des Inhalts oder die Struktur der "virtuellen" Bibliothek.

Der Band beginnt mit zwei Beiträgen zur Bedeutung der öffentlichen Bibliothek im Hellenismus und der römischen Kaiserzeit. Es finden sich überraschend viele Belege dafür, dass Bücher - zum Teil in Spezialanfertigung - dem Tempel gespendet oder Bibliotheken den Göttern geweiht und unter ihrer Schutzherrschaft das Wissen des Reiches konsolidiert wurde (Coqueugniot, Balensiefen). Danach wenden sich die Beiträge Texten zu, die Bibliotheken abbilden, zum Teil auch idealisieren (von Alvensleben). Es wird in diesen Kapiteln deutlich, dass die von Tanaseanu-Döbler in der Einleitung postulierte und mit Schilbrack (2019) und Roubekas (2017) gegen Nongbri (2013) und Baron/Boyarin (2016) verteidigte Unterscheidung zwischen "religiös" und "nicht-religiös" in der Antike von den untersuchten physischen als auch "virtuellen" Bibliotheken nicht getragen wird. Die Texte von Homer blieben aus stilistischen Gründen auch im spätantiken christlichen Unterricht unersetzbar, während vor allem die religiöse Zugehörigkeit der Lehrer ein Thema wurde (Ryser). Solange die Natur vergöttlicht oder als göttliche Schöpfung angenommen wird, kann Medizin oder Astronomie nicht unreligiös sein und es auch nicht werden (Röckelein, Ghegoiu). Bei Cassiodorus, dem Autor, der am ausdrücklichsten darlegt, welche Texte aus welchen Gründen gelesen werden sollen, heißt saecularium litterarum nicht in erster Linie säkulares, d.h. heidnisches oder un-religiöses, Wissen ("secular learning", Horster 239), sondern diesseitiges Wissen (per ipsa se mundi prudentiam, Cass. Inst. 1 praef. 1.1, ebd. Fn. 16). Während der Band dieser Fragestellung nicht gerecht wird, bzw. die and ihn herangetragene These von der Editorin nicht revidiert wird, wird er doch dem anderen Anspruch gerecht, ein neues Licht auf das Verhältnis zwischen der physischen Bibliothek und der "virtuellen" Bibliothek, den thematischen und enzyklopädisch organisierten Kompilationen, zu werfen. So zeigt der Band vor allem auf, dass die höhere Bewertung des Lesens gegenüber dem Schreiben - bei den Neuplatonikern wurde das Lesen heiliger Bücher als intellektueller Kult bewertet (Hoffmann) - einen grossen Einfluss auf die Gestaltung gerade auch von Kompilationen hatte. Bücher wurden immer mehr als eigentliche ("virtuelle") Lehrer konzipiert (Horster). Gleichzeitig scheinen manche Anthologien gezielt offen zu bleiben und die Endbewertung dem Leser (oder der Lesegruppe) zu überlassen. Es scheint zeitweise sogar, dass Anthologien, ihrerseits geschaffen aus anderen Anthologien, sich ihrer Schuld bewusst sind und wissen, dass auch sie dem Exzerpieren dienen werden. Stobaeus' religiöse Haltung lässt sich daher nur schwer aus seiner Anthologie ableiten (Tanaseanu-Döbler). Trotzdem scheint Stobaeus durch die Anordnung seines Materials dem Leser ein Interesse am mittelplatonischen Gott zumindest suggerieren zu wollen. Dass gerade durch scheinbar neutrale Anthologien der Leser stark geführt wird, zeigt auch Isidors Werk Etymologiae und die Art und Weise, wie die pagane Philosophie aufgenommen wird. Während die Namen von Philosophen und Schulen als historische Gemeinplätze eingeführt werden, werden die philosophischen Grundsätze der Logik mit der christlichen Logik synchronisiert. Irrlehrer werden zwar namentlich aufgeführt, ihre Werke jedoch unterschlagen (Streichhardt).

Der Band lässt sich insgesamt einreihen in die sich glücklicherweise mehrende Forschung der Analyse von Werken, die bislang oft als archivarisch abgetan wurden. Die sorgfältigen Untersuchungen zeigen einmal mehr, dass auch Exzerptliteratur immer einen Autor (oder zumindest einen Projektverantwortlichen) hat, der für ein bestimmtes Publikum und in bestimmter Absicht schreibt. Es ist das Verdienst dieses Bandes, hier den Unterschied zur Bibliothek zu unterstreichen, in der Texte mit viel weniger Engführung zugänglich gemacht wurden.

Der Entschluss, die Autoren in der Sprache ihrer Wahl publizieren zu lassen, ist inklusiv und begrüssenswert. Weniger inklusiv ist der Entscheid, eine Mitautorin nur in einer Fussnote und nur mit Nachnamen zu erwähnen (287n1: "Ms. Bohr").

Rezension über:

Ilinca Tanaseanu-Döbler (ed.): Libraries, Handbooks, Encyclopedias. Ancient and Early Medieval Repositories of Knowledge and Their Religious Aspects (= Seraphim - Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs; 22), Tübingen: Mohr Siebeck 2024, VIII + 347 S., ISBN 978-3-16-163313-3, EUR 109,00

Rezension von:
Monika Amsler
Universität Bern
Empfohlene Zitierweise:
Monika Amsler: Rezension von: Ilinca Tanaseanu-Döbler (ed.): Libraries, Handbooks, Encyclopedias. Ancient and Early Medieval Repositories of Knowledge and Their Religious Aspects, Tübingen: Mohr Siebeck 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 7/8 [15.07.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/07/39872.html


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