Seit einiger Zeit schon untersuchen Historiker autobiografische Texte nicht mehr nur als Quellen, aus denen sich faktische Informationen über vergangene historische Wirklichkeiten ziehen lassen, sondern als Texte und Akte ich-bezogener Sinnstiftung, in denen historische Akteure ihr Leben mit den Mitteln der Erzählung sinnbildend durchdringen. Dieser neue Zugriff auf autobiografisches Material wurde in den 1990er Jahren in der frühneuzeitlichen Selbstzeugnis- und Ego-Dokumentenforschung erprobt, findet aber seit rund zwanzig Jahren auch auf zeitgeschichtliche Fragestellungen Anwendung. In diesen Kontext ist die hier angezeigte Studie zu stellen, die 69 Autobiografien von 42 führenden Parteifunktionären der NSDAP und der SED untersucht, die nach dem Ende des jeweiligen Regimes geschrieben wurden. Ziel der Studie, die wissen will, "welche Formen der Verarbeitung, Rechtfertigung und Bewältigung politischen Scheiterns hochrangige Vertreter der deutschen Diktaturen in ihren politischen Memoiren benutzen" (5), ist eine Typologie autobiografischer Verarbeitungsformen deutscher Diktaturerfahrungen in Täterautobiografien.
Die Studie ist in acht Kapitel gegliedert. Das auf die Einleitung folgende Kapitel 2 rekonstruiert Schreibanlässe, Autorenmotivationen, Entstehungsprozesse sowie Rezeptionskontexte der Autobiografien. Es wird deutlich, dass der Systembruch in allen Fällen Auslöser für die autobiografische Selbstreflexion ist. Kapitel 3 liefert eine Zusammenfassung von gewissen Grunderfahrungen, die in den Autobiografien berichtet werden, wie beispielsweise Elternhaus, Krieg oder politische Sozialisation. Das zentrale Kapitel 4 erörtert narrative Rechtfertigungs- und Verarbeitungsstrategien. Als deren wichtigste sind zu nennen: Leugnung einzelner Ereignisse und Tatsachen des untergegangenen Regimes, die Betonung des eigenen Nicht-Wissens sowie die Relativierung der Unrechtsregime durch historischen Vergleich. Hinzu kommt die Betonung des eigenen integren Verhaltens, wie es sich im tatsächlichen oder vermeintlichen Einsatz für einzelne Verfolgte, im Protest oder gar offenen Widerstand manifestiert. Daran gekoppelt ist vielfach der Hinweis auf das eigene Leiden in der Diktatur. Auch werden die Regime im autobiografischen Rückblick mit ihren Erfolgen insbesondere im Feld der sozialpolitischen Leistungen legitimiert. Schließlich sind auch die Verschiebung der Schuld auf einzelne Politiker, Organisationen oder Staaten sowie Schuldbekenntnisse narrative Verarbeitungsstrategien der Diktaturerfahrung.
Das fünfte Kapitel untersucht, wie die Verfasser sich mit Fehlern ihres Regimes auseinandersetzen. NS-Funktionäre thematisierten insbesondere die Verfolgung der Juden und den Holocaust, die Einrichtung der Konzentrationslager, die brutale Repression politischer Gegner, die Rechtspraxis des NS und die Eingriffe in die Kunstfreiheit als zentrale Fehler. Außerdem wurden die Fehleinschätzungen der NS-Außenpolitik insbesondere ab 1938 erörtert, Hitler selbst aber wurde vielfach von jeglicher Schuld freigesprochen. Die SED-Funktionäre bemängelten in ihren autobiografischen Rückblicken die kultur- und pressepolitischen Repressionen des Regimes, die defizitäre Demokratie der DDR und die Machtfülle des Ministeriums für Staatssicherheit, vor allem aber die Fehler in der Wirtschaftspolitik.
Auch kommt es in den untersuchten Autobiografien zu Momenten partieller Ideologiekritik. So kritisierten ehemalige NS-Funktionäre vielfach den Antisemitismus und Rassenwahn, den übersteigerten Nationalismus und die völkischen Wahnvorstellungen Hitlers, ohne darüber die NS-Ideologie als Ganzes in Frage zu stellen. Bei den SED-Funktionären sind es der Stalinismus und die Unterschätzung des Kapitalismus, die kritisiert wurden.
Im sechsten Kapitel geht es um die autobiografischen Erklärungsmuster für das Scheitern der beiden Diktaturen. Hier dominierten bei den NS-Funktionären der Zweite Weltkrieg und die militärischen Fehlentscheidungen, während die SED-Funktionäre die Ursachen für den Untergang der DDR in der Politik der Sowjetunion insbesondere unter Michail Gorbatschow, in der Reformunfähigkeit des DDR-Systems und in der Politik der BRD sahen. Kapitel sieben untersucht die politischen Standpunkte der Autobiografen zum Zeitpunkt der Niederschrift. Es wird deutlich, dass die SED-Funktionäre sich auch nach dem Scheitern der DDR weiterhin zum Sozialismus bekennen, während die NS-Funktionäre sich teils als geläuterte Nationalsozialisten geben, in ihren konkreten ideologischen Standpunkten jedoch eher vage blieben. Ganz analog zu den SED-Funktionären wandten auch sie sich von den Praktiken des Regimes und den extremen Auswüchsen der Ideologie ab.
Das Schlusskapitel fasst die Erkenntnisse vergleichend zu einem kollektiven Bild der Strategien der Bewältigung des Scheiterns zusammen und erreicht hier ein Abstraktionsniveau, das in additiv-deskriptiven Sachkapiteln nicht immer erreicht wird. Hier werden in typologischer Absicht vier Verarbeitungstypen aus den empirischen Fallbeispielen der Autobiografien generiert. Greifbar werden der reine Apologet, der das untergegangene Regime und die eigene Rolle in ihm rückhaltlos verteidigt, und der widersprüchliche Apologet, der das untergegangene Regime als ein vermeintlich besseres System zwar verteidigt, es aber auch deutlich kritisiert. Der dritte Typus ist der egoistische, unaufrichtige Selbstverteidiger, der sich im Rückblick von dem Regime distanziert, dabei aber seine eigene Rolle und Position unvollständig, beschönigend und verzerrt darstellt. Der vierte Typus ist der glaubwürdige Renegat, der sich von dem zusammengebrochenen Regime glaubhaft distanziert, seine eigene Rolle kritisch reflektiert und eigene Schuld bekennt. Diese Typologie ist evidenzbasiert und überzeugend; sie bietet eine tragfähige Grundlage für die weitere Arbeit mit autobiographischem Material.
Insgesamt liegt hier eine Studie vor, die eine große Anzahl von eigenständig zusammengetragenen Autobiografien auf dem neuesten Stand der Forschung akribisch liest und mikroskopisch vermisst. Zentrale narrative Strategien zur Auseinandersetzung mit der erfahrenen Diktatur und zur Rechtfertigung der eigenen Rolle werden regimeübergreifend und zugleich regimespezifisch in großer Nähe zu den Quellen herausgearbeitet. Allerdings entfaltet sich die Analyse vielfach zu sehr als deskriptive Inventur der narrativen Strategien und verliert sich immer wieder im additiven Klein-Klein. Dadurch gewinnen einzelne Texte und ihre spezifischen narrativen Sinnstiftungen kaum an Profil. Für diese Schwächen entschädigt freilich die typenbildende Abstraktionsleistung im letzten Kapitel.
Hans-Ulrich Danner: Bewältigung des Scheiterns. Autobiographische Schriften früherer Parteifunktionäre von NSDAP und SED, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, VIII + 305 S., ISBN 978-3-11-133991-7, EUR 79,95
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