sehepunkte 25 (2025), Nr. 6

Michael Loader / Siobhán Hearne / Matthew Kott (eds.): Defining Latvia

Dieser auf eine 2018 an der Universität Uppsala anlässlich des Hundertjährigen Bestehen des lettischen Nationalstaates abgehaltenen Tagung zurückgehende Sammelband vereinigt zeitgenössische Forschungen internationaler Forschender zur Geschichte Lettlands. Übergreifende Klammer, wie im Bandtitel angedeutet, ist die Frage, was Lettland, bzw. das Lettisch-Sein, ausmacht. Bekanntermaßen existiert ein lettischer Nationalstaat erst seit 1918, und der Begriff "Latvija" wurde erst im Zuge der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Nationalbewegung erfunden. Vor diesem Hintergrund untersucht der Band die ein- und ausgrenzenden Diskurse über lettische Identität, oder über das, was lettisch und was nicht lettisch ist bzw. sein soll. Mit diesem Ansatz stellt der Band eine erfrischende Alternative zu anderen nach 2018 erschienenen Bänden zur hundertjährigen Geschichte Lettlands dar, die stärker anhand der politischen Zäsuren strukturiert sind.

Die insgesamt neun Aufsätze sind chronologisch geordnet und behandeln die Zeitspanne von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Dabei spiegeln die unterschiedlichen Themensetzungen gut die wechselvolle Entwicklung der Geschichte Lettlands dieser Epoche wider. Während in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die lettische Nationalbewegung noch im Entstehen begriffen war und die geografischen Grenzen eines lettischen Nationalstaats erst definiert werden mussten bzw. die Kartografie insgesamt sich als wissenschaftliche Disziplin erst noch etablieren musste (Catherine Gibson), stellte die Emanzipation von der deutschbaltisch geprägten Wissenschaftslandschaft eine zentrale Herausforderung des jungen lettischen Nationalstaats in der Zwischenkriegszeit dar (Christina Douglas, Per Bolin). Ebenfalls gegen die Deutschbalten gerichtet, agierte die faschistische Donnerkreuz-Bewegung (Pērkonkrusts). Dass deren Aktivitäten aber auch stark antisemitisch geprägt waren, unterstreicht Paula Oppermann und berührt damit die höchst umstrittene Frage nach dem Ausmaß des lokalen Antisemitismus, welcher seinerseits innerhalb der Debatte über die lettische Beteiligung am Holocaust eine zentrale Rolle spielt. Der Zweite Weltkrieg zwang die Bevölkerung Lettlands zu der Entscheidung zwischen zwei Übeln und erzeugte durchaus widerstreitende und widersprüchliche Zuschreibungen von Heimat und lettischem Patriotismus, wie Harry C. Merrit in seinem Beitrag zeigt. Die aus heutiger Sicht schnell vermutete Antipathie gegen die Sowjetunion und Russland war zu diesem Zeitpunkt noch nicht so selbstverständlich angesichts der antideutschen Tradition der lettischen Nationalbewegung und der starken sozialistischen Wurzeln lettischer Politik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach der Etablierung der sowjetischen Macht in Lettland stellte sich die neue Aufgabe einer Ausbalancierung zwischen lettischem Nationalbewusstsein und sozialistischer Ideologie internationaler bzw. sowjetischer Art, wie es vor allem im Konflikt um die sog. Nationalkommunisten Ende der 1950er Jahre zum Ausdruck kam. Hiermit befassen sich gleich zwei Aufsätze (Daina Bleiere, Michael Loader), die sich einander gut ergänzen. Sie zeigen die Grenzen des "Tauwetters" in Lettland nach Stalins Tod. Passend zu der politisch ruhigeren Epoche der Brežnev-Zeit, die darauf folgte, behandelt der Text von Ekaterina Vikulina das etwas aus dem Rahmen fallende Thema lettischer Fotografie der späten 1960er Jahre, die überregional ausstrahlte und auf diese Weise auch mit zu einer bestimmten Art des Lettisch-Seins und seiner Wahrnehmung außerhalb Lettlands beitrug. Nach Erlangung der Unabhängigkeit konnte sich der lettische Nationalismus wieder frei von ideologischen Vorgaben sowjetischen Ursprungs entwickeln und radikalisieren, womit sich die beiden Aufsätze von Daunis Auers und Matthew Kott beschäftigen. Dass es dabei zu überraschenden Kooperationen mit russischen rechtsradikalen Kräften kommt, weist über den engen Rahmen Lettlands hinaus und verdeutlicht den besonderen Wert dieser Texte für ein besseres Verständnis der spezifischen Probleme im postsowjetischen Raum. Darunter fällt das Paradoxon, dass die radikale lettische Rechte in ihrer Gegnerschaft zu Russland inhaltlich in vielem trotz allem dem Putin'schen Regime ähnelt.

Die internationale Zusammensetzung der Autorenschaft gewährleistet eine multiperspektivische Sicht auf die Geschichte Lettlands und vermittelt Einblicke in neue Forschungsansätze. Auf diese Weise entsteht zugleich ein hohes Maß an Anschlussfähigkeit an zeitgenössische Diskurse der Geschichtswissenschaft, wie bereits in der sehr instruktiven Einleitung von Ivars Ījabs oder der ausführlicheren Einführung durch Siobhan Hearne deutlich wird. Dies betrifft vor allem die Interpretation lettischer Geschichte im postkolonialen Kontext mit Bezug auf die deutschbaltische Dominanz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und mit Bezug auf die sich anschließende sowjetische Epoche bis 1991 - das Titelbild einer übergroßen Lettlandfahne vor dem Hintergrund der ehemaligen KGB-Zentrale in Riga ist ein sprechendes Beispiel für diesen Kontext. Doch könnte man wiederum in der Übernahme westlicher Diskurse und des Gebrauchs der englischen Sprache die Gefahr eines neokolonialen Verhältnisses zu westlicher Forschung und einer damit einhergehenden neuerlichen Orientalisierung lettischer Geschichte sehen, was insbesondere in Hearnes Einführung und dem dort nahezu ausschließlichen Gebrauch englischsprachiger Literatur durchscheint. Genau mit dieser identitätspolitischen Debatte zwischen Nationalismus, westlichem Diskurs und postkolonialen Beziehungen berührt der Band ein höchst aktuelles und kontroverses Thema und ist daher eine sehr zu empfehlende Lektüre zum Verständnis des gegenwärtigen Lettland und seiner identitätspolitischen Konflikte.

Rezension über:

Michael Loader / Siobhán Hearne / Matthew Kott (eds.): Defining Latvia. Recent Explorations in History, Culture, and Politics, Budapest: Central European University Press 2022, 269 S., ISBN 978-963-386-445-6, EUR 71,00

Rezension von:
Tilman Plath
Historisches Institut, Universität Greifswald
Empfohlene Zitierweise:
Tilman Plath: Rezension von: Michael Loader / Siobhán Hearne / Matthew Kott (eds.): Defining Latvia. Recent Explorations in History, Culture, and Politics, Budapest: Central European University Press 2022, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 6 [15.06.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/06/40326.html


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