sehepunkte 25 (2025), Nr. 6

Stefan Applis / Ingmar Reither / Richard Rongstock (Hgg.): Das ehemalige Reichsparteitagsgelände im 21. Jahrhundert

Der Diskurs über den "angemessenen" Umgang mit dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg wird bis heute mit Verve geführt. So wurde jüngst nach längerer öffentlicher Debatte der politische Beschluss gefasst, für das Interim des Opernhauses das Innere des von den Nationalsozialisten errichteten Kongressbaus zu nutzen.

In der Fachwissenschaft ist die "zweite Geschichte" des Reichsparteitagsgeländes für die Zeit von 1945 bis in die jüngere Vergangenheit ergiebig erforscht worden. Hierbei sind das wissentliche Beschweigen und Thematisieren, facettenreiche Umdeutungen und Überformungen sowie die wissenschaftliche und vermittelnde Geschichtsaufklärung bezüglich des Geländes chronologisch analysiert und in Phasen unterteilt worden. [1] Hinzu kamen Forschungen zur Rezeption durch die gegenwärtige Besucherschaft. [2] Die vorliegende Publikation ist der politik- und kulturhistorischen Forschungsliteratur kundig, doch beschreitet sie gleichzeitig einen innovativen architekturhistorischen Pfad. Selbsterklärtes Ziel sei es deshalb erstmals im Sinne eines material turn, "an einem "diskursiven Geschichtsort" ästhetische Erfahrungen anzuregen [...] und dabei räumliche, zeitliche und inhaltliche Querverweise zur Diskussion zu stellen". (13)

Dies verfolgen die Autoren durch eine präzise Nahsicht auf die verschwimmenden, komplexen Zeitschichten des Geländes. Schon an der Relation von 38 Seiten Text zu 132 Seiten Abbildungen (davon 200 bisher unveröffentlichte Fotografien) wird deutlich, dass bislang unbekanntes Terrain entdeckt werden soll. Das Werk verkommt indes nicht zu einem einfachen Bilderbüchlein. Stets der historischen Kontexte eingedenk sezieren die Autoren einerseits triviale Nutzungsspuren auf dem Gelände wie ein Fast-Food-Restaurant im 1936 von Albert Speer errichteten Umspannwerk (138-143) andererseits politische Brechungen wie eine aus der Hausbesetzerszene der 1980er Jahre hervorgegangene Wohngemeinschaft in einer ehemaligen Unterkunft der Deutschen Arbeitsfront (151). Hier wie dort wird die Entmythisierung einer vermeintlichen Authentizität der Nazibauten aufgezeigt.

Nach einer Einleitung bilden 11 Kapitel den Hauptteil des Buches, welches mit offenen Fragen an Gegenwart und Zukunft schließt. Dabei werden in der übergeordneten Kapitelstruktur die jeweiligen Gebäude und Räume in der Reihenfolge Kongressbau (Kapitel 1) - Volksfestplatz (Kapitel 2) - Zeppelinfeld (Kapitel 3 und 4) - Kongressbau (Kapitel 5 - 7) - Märzfeld (Kapitel 8) - Umspannwerk (Kapitel 9) - Ehemaliges Teilnehmer-/Kriegsgefangenenlager (Kapitel 10) - Bahnhöfe (Kapitel 11) präsentiert. Die Struktur wirkt zunächst erratisch. Erst beim zweiten Lesedurchgang lässt sich nachvollziehen, dass der Kongressbau stets der Knotenpunkt ist, von wo baulich Hinterlassenes sukzessive abgeklopft wird. Kapitelübergreifend legt das Autorenkollektiv ein Augenmerk darauf, wie viele der Bauten gar nicht erst finalisiert oder realisiert wurden.

Zur Freude der historisch versierten Leserschaft erzählen die auf die Fotografien abgestimmten Textbeiträge die Geschichte der (intendierten) Nutzungen dieser Räume durch die Nationalsozialisten sowie multiple, oft banale Umnutzungen, wenn in Kapitel 1 etwa die spätere Funktion als Lagerdepot des als Versammlungsort für die NSDAP intendierten Kongressbaus beschrieben und mit dem Foto eines Fahrstuhls in der Kongresshalle eindrücklich visualisiert wird (34). Jener Wesenskern der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird besonders in Kapitel 2 offenbar durch eine differenzierte Betrachtung des Volksfestplatzes, wo heute vor dem Hintergrund der Kulisse des Kongressbaus, welche je nach Perspektive romantischer Hingucker, Lernort oder blinder Fleck sein kann (44-49), Volksfeste mit Jahrmarktcharakter stattfinden. Das Aufstöbern, skrupulöse Entschlüsseln und zeithistorische Kontextualisieren peripherer Botschaften ist das perpetuum mobile des Werkes. So wird in Kapitel 4 von einem kleinen Graffito "End Licht NEU Geschafft", das im Rahmen von zwei Konzerten der Band namens "Einstürzende Neubauten" im Februar 1986 an die Wand des "Goldenen Saals" gemalt wurde, der Bogen geschlagen zur Umgangsweise mit dem (kontrollierten) Verfall von NS-Bauten. Mit Abrissklängen und Pyrotechnik wollten jene Musiker das Pathos des "Goldenen Saals", der Ehrengästen der NS-Elite als Foyer hätte dienen sollen, wortwörtlich erschüttern und eine kontroverse Diskussion über Kunstfreiheit anregen (76ff.).

Neugierde weckt die Lektüre insbesondere, wenn reich illustrierte Nutzungen der Gegenwart Aufhänger für historische Erzählungen sind: Der Kongressbau beherbergt heute keineswegs zufällig den 1922 gegründeten Kanu Verein Nürnberg e.V., da das Areal bereits in der Weimarer Zeit der arbeitenden Bevölkerung als Naherholungsmöglichkeit und zur sportlichen Ertüchtigung dienen sollte (90f.). In Kapitel 10/11 wird ausgehend von der Geschichte eines Firmendepots für Künstlerbedarf, ehemals Baracke des ganz im Süden gelegenen SS-Teilnehmerlagers, und des heute für Güterverkehr genutzten Bahnhofs Märzfeld, der im Holocaust ein Deportationsbahnhof war (156f.), die in die Vernichtung führende janusköpfige In- und Exklusion der "Volksgemeinschaft" erschlossen (144-155).

Zusammenfassend besticht das Werk durch eine scharfe Analyse der Paradoxien von Überbauung und Erhaltung des international bedeutenden Nürnberger NS-Erbes. Die Leserschaft wird historisch aufgeklärt und mitgenommen, fern des moralischen Zeigefingers jene Paradoxien zu beobachten, auf sich wirken zu lassen und kritische Fragen aufzuwerfen. Das handhabbare Werk erweitert den intellektuellen Horizont innerhalb des geschichtskulturellen Diskurses, gleichermaßen empfiehlt es sich als alternativer Fährtenleser für einen persönlichen Besuch auf dem Gelände.


Anmerkungen:

[1] Siehe u.a. Eckart Dietzfelbinger: Der Umgang der Stadt Nürnberg mit dem früheren Reichsparteitagsgelände, Nürnberg 1990; Sharon Macdonald: Difficult Heritage. Negotiating the Nazi Past in Nuremberg and Beyond, London 2009; Alexander Schmidt: Dokumentation. Perspektiven. Diskussion. 1945 - 2015; Ausstellungskatalog des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände, Petersberg 2015; Alexander Schmidt / Bernd Windsheimer: Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, 4. Aufl., Nürnberg 2017; Julia Lehner (Hg.): Erhalten! Wozu? Perspektiven für Zeppelintribüne, Zeppelinfeld und das ehemalige Reichsparteitagsgelände. Aufsatzband zur gleichnamigen Tagung am 17./18. Oktober 2015 in Nürnberg, Nürnberg 2017; Charlotte Bühl-Gramer: "Nürnberg als "Stadt des Friedens und der Menschenrechte" - Transformationen von Stadtimage und lokaler Geschichtskultur", in: Stadtgeschichte, Stadtmarke, Stadtentwicklung. Zur Adaption von Geschichte im Stadtmarketing, hgg. von Alfons Kenkmann / Bernadette Spinnen, Wiesbaden 2019, 99-115; Alexander Schmidt: "Nürnberg" - vom Stigma der besonders belasteten Stadt zum Imagefaktor Erinnerungskultur, in: Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, hg. von Magnus Brechtken, Göttingen 2021, 261-283.

[2] Siehe u.a. Charlotte Bühl-Gramer: Perspektivenwechsel: das ehemalige Reichsparteitagsgelände aus der Sicht von Besucherinnern und Besuchern, Nürnberg 2019.

Rezension über:

Stefan Applis / Ingmar Reither / Richard Rongstock (Hgg.): Das ehemalige Reichsparteitagsgelände im 21. Jahrhundert. Transformationen nationalsozialistischer Räume, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2025, 176 S., ISBN 978-3-96311-973-6, EUR 30,00

Rezension von:
Leonard Stöcklein
Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Empfohlene Zitierweise:
Leonard Stöcklein: Rezension von: Stefan Applis / Ingmar Reither / Richard Rongstock (Hgg.): Das ehemalige Reichsparteitagsgelände im 21. Jahrhundert. Transformationen nationalsozialistischer Räume, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 6 [15.06.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/06/39977.html


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