sehepunkte 25 (2025), Nr. 5

Herfried Münkler: Macht im Umbruch

Angesichts der gegenwärtigen "Zeitenwende" der Weltpolitik stellt sich die Frage nach der Rolle Deutschlands in Europa dringlicher denn je. Deutschland als größte und wirtschaftlich stärkste europäische Macht muss Herfried Münkler zufolge maßgeblich an der Führung der EU mitwirken. Kann es dieser Aufgabe gerecht werden? Und wie sollte es dabei vorgehen? Zur Beantwortung dieser Fragen holt Münkler weit aus. Er beginnt mit etwas langatmigen Ausführungen zur "Demokratie im 21. Jahrhundert" (37), die sich gegenüber autoritären Regimen behaupten müsse. Daran schließt das wichtige Kapitel zu den Grenzen Europas "als geopolitische Herausforderung" (97) an, bevor er sich anschließend Deutschland als der "Macht der Mitte" (155) zuwendet und nach der Zukunft des Westens fragt, der sowohl als geopolitische Größe als auch als wertepolitische Allianz begriffen werden müsse. Erst im Anschluss an diese ein wenig weitschweifigen Überlegungen - in denen wiederholt Geistesgrößen wie Thukydides, Cicero, Machiavelli, Petrarca als Gewährsleute angeführt werden - kommt Münkler zum eigentlichen Kern seines Buchs, der Frage nach der deutschen Führung in Europa.

Zentral für seine Argumentation ist seine Überlegung, dass "die Erwartung einer buchstäblich grenzenlosen Weltordnung infolge globaler und medialer Verflechtungen" (113) mit der Finanzkrise von 2008, der Migrationskrise von 2015/16 und der Covid-19-Pandemie drei Dämpfer erhielt. Demgegenüber wurde die Frage nach den Außengrenzen von EU und NATO wichtiger, insbesondere nach Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine 2014. Dadurch wurde nicht zuletzt die EU elementar herausgefordert, die Münkler zufolge vor allem unter zu starken zentrifugalen Kräften leidet. Dem setze sie eine aufwendige Kompromissbildung entgegen, die mit einer Fülle von Regelungen und Ausnahmebestimmungen verbunden sei. Insgesamt, so Münkler, gebe es in der EU "einen strukturellen Zwang zur bürokratischen Regelung", womit das Fehlen einer politischen Führung kompensiert werden könne (138). Dadurch sei diese indes zu einem "schwerfälligen, fast unbeweglichen Koloss" (139) geworden, der unfähig sei, die gegenwärtig erforderliche, aktive Rolle in der Welt zu spielen.

Viel Raum nehmen bei Münkler, der zu Recht auf die gewachsene Bedeutung von Geopolitik aufmerksam macht, (überlange) Reflexionen über die deutsche bzw. europäische Mittellage ein. Europa nehme eine Zwischenposition ein zwischen den USA und Russland. Dabei sei es von der westlichen Supermacht sicherheitspolitisch und von der eurasischen Landmacht wirtschaftlich abhängig, insbesondere im Hinblick auf Rohstoffe. Historisch gesehen gab es für Deutschland, die Macht in der Mitte Europas, drei Konstellationen: vor dem Ersten Weltkrieg die Einkreisung, die Option für eine Seite im Kalten Krieg und, am bequemsten, die seit 30 Jahren bestehende Umgebung mit freundlich gesinnten Nachbarn. Diese Zeit sei allerdings unwiderruflich vorbei, was zum einen mit dem Rückzug der Vereinigten Staaten aus Europa, zum anderen aber mit der expansionistischen Politik Russlands zusammenhänge.

Der Westen, so Münkler, sei nicht mehr, wie bis Ende der 1980er Jahre, ein einheitlicher politischer Raum. Denn Washington nehme spätestens seit Präsident Barack Obama einen Schwenk nach Asien vor, was den transatlantischen Zusammenhalt erheblich schwäche. Münkler führt dies vor allem auf die zunehmende Überdehnung der westlichen Supermacht zurück: Auf der einen Seite sinke der Anteil des US-Bruttoinlandsprodukts an der internationalen Wertschöpfung, während auf der anderen Seite die USA in den unterschiedlichsten Weltgegenden gefordert seien, insbesondere im Mittleren und Nahen Osten. Aus einem Gefühl der Überforderung hätten sich die USA daher "aus der Rolle eines 'Hüters' der globalen Ordnung zurückgezogen und auch damit begonnen, ihr Engagement in Europa zurückzufahren, um sich langfristig auf den indopazifischen Raum zu konzentrieren" (204). Europa habe für die USA an Bedeutung verloren und sich seit 2003 von der westlichen Supermacht entfremdet. Das Disengagement, das Donald Trump nun forciert, verleiht diesem Prozess, der durch eine Wiederannäherung unter Joe Biden angesichts des Ukraine-Kriegs lediglich aufgehalten wurde, zusätzliche Dramatik und erhöht die Unsicherheit der EU.

Auf der anderen Seite bedroht Russland die europäische Ordnung in ihrem Kern. Münkler zufolge verfolgt der russische Präsident Wladimir Putin langfristig das Ziel einer Dominanz in Europa. Mittelfristig gehe es ihm um eine Auflösung der transatlantischen Verbindung und darum, die politische und militärische Kontrolle über das Schwarze Meer und die Ostsee zu erringen. Da der Kreml sich durch die Unabhängigkeit der baltischen Staaten von der Ostsee abgeschnitten sah, habe er sich auf die Südflanke konzentriert. Um zu verhindern, dass er durch die Schaffung unabhängiger Staaten in diesem Raum auch vom Schwarzen Meer abgeschnitten werde, habe er nach der Krim und der Ukraine gegriffen - eine mögliche Erklärung, für die allerdings bisher die Belege fehlen. Spekulativ ist auch die Überlegung, Moskau habe sich bei seinem Plan zur Wiederherstellung Russlands als imperialer Macht "am deutschen Agieren in den Jahren 1938 und 1939 orientiert" (229). Plausibler ist hingegen, dass für Putin die Idee des Eurasismus eine wesentliche Rolle spiele, dem zufolge sich in Russland Slawentum und die Nomaden der Steppe, christliche Orthodoxie und die islamischen Traditionen Zentralasiens verbänden. Zudem gründete er 2014 - und nicht, wie Münkler schreibt, 2015 - eine Eurasische Wirtschaftsunion als Gegenprojekt zur EU.

Die Europäer hätten jedoch gegenüber Russland sowohl 2008 als auch 2014 Appeasement betrieben und Putin dadurch noch ermutigt, den umfassenden Krieg gegen die Ukraine zu entfesseln. Leider setzt Münkler Appeasement mit Nachgiebigkeit gleich und zeigt damit, dass er die umfangreichen historischen Forschungen zur britischen Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit seit den 1970er Jahren nicht zur Kenntnis genommen hat. Denn diese haben herausgestellt, dass es sich bei Appeasement, das keineswegs nur von Neville Chamberlain betrieben wurde, um eine umfassende Strategie handelte, die unter anderem ein Aufrüstungsprogramm einschloss. Doch die Rüstung wurde von den meisten Westeuropäern, insbesondere von Deutschland, noch nach 2014 sträflich vernachlässigt.

Doch nicht nur hier muss Münkler zufolge der Hebel umgelegt werden. Insgesamt müsse die EU angesichts der großen Herausforderungen handlungsfähig werden - neben der Bedrohung durch Russland und dem Disengagement der USA nennt er noch China, das angesichts der amerikanischen Zollpolitik möglicherweise mit seinen hochsubventionierten Produkten den europäischen Markt überschwemmen werde, sowie die illegale Migration nach Südeuropa. Hier sei ein grundlegender Strategiewechsel notwendig, den Berlin anstoßen müsse. Bisher habe Deutschland, dessen Gewicht und geopolitische Lage in der Mitte Europas es zum "Hüter des Zusammenhalts der Europäischen Union" (312) prädestiniere, ausschließlich eine reaktive Politik betrieben. In der Schuldenkrise südeuropäischer Staaten, in der Flüchtlingskrise und beim ersten Angriff auf die Ukraine habe die Bundesregierung "eine Politik der langen Bank" verfolgt (331). Wenn Deutschland geführt habe, dann "von hinten", also durch das Schmieden von Kompromissen (338). In der gegenwärtigen Situation sei allerdings Führung von vorn dringend geboten, um den Zusammenhalt der Union zu sichern, die EU handlungsfähig und durchsetzungsstark zu machen und um ein Stück weit den Ausfall der USA in der NATO wettzumachen. Das könne Deutschland nicht allein leisten, sondern benötige dazu starke Partner. Münkler nennt Frankreich, Polen, Italien oder Spanien und einen oder zwei weitere Staaten zur Vertretung skandinavischer und baltischer Belange. Dieser Führungsgruppe, die Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip treffen müsste, und mit ihr verbundenen kleineren Staaten stehe eine volle Mitgliedschaft in der EU zu, während er für die anderen einen minderen Status vorschlägt (auf das damit verbundene Problem, einigen "Vollmitgliedern" der EU diesen Status abzuerkennen, geht Münkler leider nicht ein). Umgeben werden sollte diese EU von einem Ring assoziierter Staaten im Süden und Südosten, insbesondere der Türkei. Inwieweit sich dies umsetzen lässt, bleibt abzuwarten. Und ob dadurch die EU zu einem gewichtigen Faktor einer "globalen Pentarchie" (358) wird, muss sich ebenfalls erst herausstellen [1]. Aber dass die EU unter maßgeblicher deutsche Beteiligung Handlungsfähigkeit erlangen muss, um in der von Krieg und Krisen erschütterten Welt bestehen zu können, dürfte unstrittig sein.


Anmerkung:

[1] Münkler geht von einem Modell aus, in dem die USA, China, Russland, Indien und die EU die führenden fünf Mächte der Zukunft sein könnten: vgl. Herfried Münkler, Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert, Berlin 2023.

Rezension über:

Herfried Münkler: Macht im Umbruch. Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, Berlin: Rowohlt 2025, 431 S., ISBN 978-3-7371-0215-5, EUR 30,00

Rezension von:
Hermann Wentker
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Wentker: Rezension von: Herfried Münkler: Macht im Umbruch. Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, Berlin: Rowohlt 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 5 [15.05.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/05/40171.html


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