Das Europäische Parlament [EP] war viel zu selten genuines Forschungsobjekt in der deutschen Geschichtswissenschaft. Dies scheint sich in den letzten Jahren geändert zu haben. [1] Richard Steinberg setzt sich in seiner von Gabriele Clemens erstbetreuten Dissertation das Ziel, Krisenwahrnehmung und Krisendiskurse in den Debatten des EP 1969 bis 1986 zu untersuchen. Er wertet dafür Bestände des Archivs der Europäischen Union in Florenz aus, konkret 146 Protokolle der Debatten aus den Jahren 1969-1986, die er tiefenanalysiert.
Die Studie besteht aus zwei Teilen. Der erste trägt den Titel "Konzeptionelle und inhaltliche Grundlagen". Dieser Abschnitt kommt fast ohne Quellen aus und stellt eine sehr gute Zusammenfassung des Forschungsstandes zu Konzepten der Krise, den 1970er Jahren als Umbruchszeit, der europäischen Integrationsforschung und einer kurzen Einführung in die Geschichte des EP dar. Steinberg widmet sich zunächst der Diskussion des Krisenbegriffs, geht auf die internationale Krisenforschung ein und versucht Ansätze miteinander in Einklang zu bringen und voneinander abzugrenzen. Dieses erste Teilkapitel ist konzeptionell gut aufgearbeitet und kann inhaltlich überzeugen, da der Autor ebenfalls die europäische Integrationsforschung miteinbezieht. Im zweiten Abschnitt interpretiert der Autor die 1970er Jahre als Umbruchszeit, er folgt damit den gängigen Interpretationsmustern zwischen Aufbruch und Krisendeutung. Im Anschluss verortet Steinberg das Europäische Parlament im Integrationsgefüge. Jedem Teilkapitel ist ein Zwischenfazit angeschlossen, auch der gesamte erste Teil schließt noch einmal mit einem Fazit. Zwar sind die Zwischenfazits hilfreich, doch kommt es durch das Gesamtfazit des ersten Teils zu Redundanzen und Wiederholungen. Das gilt auch für den zweiten empirischen Teil der Arbeit: "Krisendiskurse im Europäischen Parlament in den langen 1970er Jahren". Steinberg spricht dem EP im ersten Teilkapitel eine Scharnierfunktion in den Gemeinschaften zu: Die Währungs- und Wirtschaftskrise sei der Beginn eines intensiven Krisendiskurses im Parlament gewesen, hier hätten sich Regeln und Strukturen des Metadiskurses Krise etabliert. Gleichzeitig, so der Autor, hatten diese Diskussionen um eine Krise eine integrierende Funktion für neue Angeordnete. Dennoch seien sich Abgeordnete bewusst gewesen, dass eine alleinige Deutung der Jahre bis 1973 als Krise die zukünftige Arbeit behindern würde. Steinberg macht zwei Pfeiler des Krisendiskurses anhand der Debatten aus, die das EP direkt betrafen: erstens eine institutionelle Krise und zweitens eine strukturell-systemische Krise. Beide wurden in den Debatten direkt mit der Frage nach der Zukunft und der Macht des Europäischen Parlaments verknüpft.
In den Jahren 1974 bis 1979 hatte sich die Wahrnehmung der europäischen Gegenwart als Krise in den Debatten etabliert. In den Jahren nach der ersten Direktwahl nahm sich das Parlament durch seine neue demokratische Qualität als zentraler Akteur in der Krise wahr, sah sich als gestaltend in seiner Arbeit aber doch durch Kommission und Rat ausgebremst. Die Zuspitzung der "Krise der Gemeinschaft" führte dazu, dass das EP zum Mahner für mehr Supranationalität wurde und vielleicht so zur Vertiefung beigetragen hat, ohne selbst mehr vertragliche Kompetenzen bekommen zu haben.
Im Selbstbewusstsein gestärkt durch die Direktwahl, koppelten die Abgeordneten in den Debatten bis 1986 die Krise der Gemeinschaft eng an die Frage der demokratischen Legitimation. So war es nur folgerichtig, dass die Handlungsstrategie auf ein Mehr an Macht hinauslief, was zu Konflikten mit Kommission und Rat führen musste. Kriseninstrumente, um aktiv im Diskurs mitzumischen, wurden das Haushaltsveto und die Haushaltsdebatten. Die Nichtbeachtung des EP in vielen Fragen jedoch (z.B. 1984 Spinelli-Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union) führten zu Resignation und Frustration, zur Wahrnehmungskrise im EP selbst.
Steinberg hat Tausende von Protokollseiten mit MAXQDA ausgewertet und danach analysiert. Sie bilden die Grundlage seiner Untersuchung und Schlussfolgerung, welche Krisendiskurse im EP geführt und was wie als Krise wahrgenommen wurden. Gerade bei der zweiten Frage nach der Wahrnehmung hätten Publikationen des Parlaments selbst, Autobiografien von Abgeordneten oder einzelne Interviews die Untersuchung Punkt zweifelsohne bereichern können. So hätten Aussagen wie "viele Abgeordnete dachten/waren der Meinung/meinten", die relativ oft im Text vorkommen, vermieden werden können. Zur Quellenkritik: Aus vorbereiteten/abgelesenen - zudem zeitlich begrenzten - Redebeiträgen, wie sie im Plenum meist präsentiert werden, können diese Behauptungen nur in Grenzen nachvollzogen werden. Eine durchgehende direkte Nennung der Rednerinnen und Redner hätte präzisen Aufschluss über ideologische Präferenzen der Fraktionen geben können. Sie hätte beantworten können, ob es bei unterschiedlichen Krisendiskursen unterschiedliche Meinungsführerinnen oder Meinungsführer gab und/oder bei den verschiedenen Fraktionen bevorzugte und benachteiligte Themen, die ihrer politischen Orientierung entsprachen.
Diese Fragen zeigen, wie wichtig Untersuchungen zum EP sind, weil die historische Parlamentarismusforschung in Deutschland hier immer noch in den Kinderschuhen steckt. Pilotstudien wie die von Steinberg gehen dabei einen ersten mutigen und konzeptionell herausfordernden Schritt und eröffnen Perspektive und Aufgabe für die zukünftige Forschung.
Anmerkung:
[1] Mechthild Roos: The Parliamentary Roots of European Social Policy. Turning Talk into Power, Cham 2021; Ines Soldwisch: Das Europäische Parlament 1978-2004. Inszenierung, Selbst(er)findung und politisches Handeln der Abgeordneten, Stuttgart 2021. (https://www.sehepunkte.de/2022/09/37070.html)
Richard Steinberg: Das Europäische Parlament in der Krise? Krisenwahrnehmung und Krisendiskurse im Europäischen Parlament in den langen 1970er Jahren (1969-1986) (= Studien zur modernen Geschichte; Bd. 66), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2025, 220 S., ISBN 978-3-515-13766-9, EUR 46,00
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