Unter den weltweit bekanntesten Geheimdiensten gilt die Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU) - der zentrale militärische Nachrichtendienst der Streitkräfte Russlands - als einer der am meisten verschlossenen und intransparenten. Er verfügt weder über ein öffentlich zugängliches Archiv noch über eine Pressestelle, und im Gegensatz zum Inlandsgeheimdienst (FSB) finden sich heute unter seinen ehemaligen Mitarbeitern fast nie hochrangige Politiker oder Führungskräfte großer Unternehmen. Der in einer Grauzone und außerhalb der Kontrolle ziviler politischer Institutionen operierende Militärgeheimdienst hat international eine miserable Reputation. Spektakuläre Morde, Enttarnungen von Agenten und die Einmischung seiner Einsatzgruppen in die Angelegenheiten fremder Länder haben diesen Ruf in den letzten Jahren nur verstärkt.
In der westlichen Geschichtswissenschaft, die sich bislang vor allem mit dem übermächtigen russischen FSB - je nach Zeitraum auch GPU, NKWD oder KGB - beschäftigt hat, bleibt die GRU deutlich stärker ein Forschungsdesiderat. Der Historiker Matthias Uhl setzt sich mit seinem Buch zur Gesamtgeschichte des russischen Militärgeheimdienstes erstmals das ehrgeizige Ziel, diese Wissenslücke zu schließen. Besonders hervorzuheben ist, dass er sich nicht nur auf im Westen unbekannte russischsprachige Fachliteratur, sondern auch auf Archivrecherchen in einer Vielzahl westlicher und russischer Archive stützt (darunter auch im GRU-Archiv), die heute für Forscherinnen und Forscher kaum zugänglich sind.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die verschiedene Aspekte der Geschichte des russischen und sowjetischen Militärgeheimdienstes behandeln. Der erste Teil beschreibt die Entstehung und Entwicklung der GRU vom Zarenreich bis zur Putin-Ära, ihre Rolle in militärisch-politischen Konflikten, insbesondere im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg, sowie ihre Struktur und Stellung in der Hierarchie der russischen Geheimdienste. Der zweite Teil beleuchtet die Tätigkeitsbereiche der GRU, darunter Agenteneinsatz, Funkaufklärung, Technikspionage und Luftaufklärung, sowie den Einsatz von Spezialeinheiten. Im dritten Teil werden die Schicksale ehemaliger GRU-Offiziere thematisiert, die als Doppelagenten in den Westen überliefen, sowie die Mechanismen ihrer Bestrafung durch den Geheimdienst. Ihre Geschichten verdeutlichen die extremen Konsequenzen solcher Entscheidungen, die nicht selten mit dem Tod der Überläufer endeten.
Dem Autor gelingt nicht nur ein facettenreiches Bild eines klandestinen Militärgeheimdienstes, sondern er verdeutlicht auch die Kontinuität zwischen Sowjetzeit und modernem Russland hinsichtlich seiner Organisation und Prioritäten. Insbesondere das Fehlen einer klaren Funktionstrennung war stets ein charakteristisches Merkmal der sowjetischen und russischen Geheimdienste. So verfügte der Inlandsgeheimdienst stets über eine eigene Auslandsabteilung, die ebenso wie die GRU für die militärische Aufklärung zuständig war, was zeitweise zu erbitterter Konkurrenz zwischen den Geheimdiensten führte. Zum anderen wurde - und wird - keine klare Grenze zwischen legaler und illegaler militärischer Aufklärung gezogen. Dies zeigt sich in der weit verbreiteten Praxis der Übertragung nachrichtendienstlicher Funktionen auf Mitarbeiter diplomatischer Vertretungen, darunter auch Militärattachés, die über ihnen unterstellte GRU-Offiziere Agentennetze führen. Nicht nur zu Sowjetzeiten, sondern auch heute noch ist der russische Militärgeheimdienst dafür bekannt, dass er sich trotz modernster Technik immer noch sehr stark auf menschliche Quellen verlässt. Wenig geändert hat sich auch an den brutalen und ostentativen Repressalien gegen Überläufer. Da es keine demokratische Kontrolle der Behörde durch das Parlament gibt, hat der GRU freie Hand bei der Wahl der Gewaltmittel.
Zu den Schwächen des russischen Militärgeheimdienstes zählt Matthias Uhl, dass die GRU-Offiziere bei der Erstellung ihrer Analysen häufig die von den politischen Entscheidungsträgern gewünschten Lagebilder bedienten, wie etwa beim Russisch-Japanischen Krieg 1904/05, dem deutschen Angriff 1941 und dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022. Ein weiteres Problem bestand in der fehlenden Analysearbeit. Die sowjetischen Staatschefs hielten davon so wenig, dass die GRU in der Stalin-Ära lange Zeit über keine eigenständige Abteilung zur Bearbeitung und Auswertung von Nachrichten verfügte. Für den Dienst gab es jedoch de facto keinen größeren Feind als den eigenen Staat. Dies zeigte sich während des Großen Terrors 1937-1938, als die Massensäuberungen in der Roten Armee auch den GRU hart trafen. Die sowjetische Militäraufklärung konnte dennoch auf zahlreiche erfolgreiche Operationen zurückblicken. Während des Zweiten Weltkriegs leistete die GRU einen wichtigen Beitrag zum Sieg über NS-Deutschland in den Schlachten um Moskau, Stalingrad und Kursk. Auch während der Berlin- und der Kubakrise 1958 bis 1961 und 1962 machte die GRU die politischen und militärischen Maßnahmen der westlichen Staaten für die sowjetische Führung weitgehend transparent.
Eine so grundlegende Studie gibt fast zwangsläufig auch Anlass zu Kritik. Sie betrifft in erster Linie den Aufbau des Werks, dem Zwischenfazits zu den drei Hauptabschnitten fehlen. Angesichts des Umfangs des Buches hätten diese zu einer strukturierteren Wahrnehmung des Materials beitragen können. Darüber hinaus wird in den abschließenden Schlussfolgerungen so gut wie keine Bezugnahme auf die Zarenzeit gemacht. Obwohl die untere chronologische Grenze das Jahr 1918 ist, widmet der Autor im ersten Teil seiner Arbeit ein ganzes Kapitel der Geschichte des russischen militärischen Nachrichtendienstes. Es wäre zu erwarten gewesen, dass am Ende der Studie die Frage nach der Kontinuität der Traditionen des militärischen Nachrichtendienstes zwischen dem Zarenreich und der Sowjetunion thematisiert wird.
Abschließend ist festzuhalten, dass Matthias Uhl auf Grundlage von umfangreichem Archivmaterial und einer Auswertung bisher unbekannter russischer Forschungsliteratur eine wissenschaftlich beeindruckende und äußerst spannend geschriebene Studie vorgelegt hat, die als Standardwerk zur Geschichte des sowjetischen und russischen Militärgeheimdienstes im deutschsprachigen Raum gelten kann.
Angesichts der Außenpolitik Putins nach dem Angriff auf die Ukraine erscheint Uhls Ausblick in die Zukunft jedoch besorgniserregend. Trotz ihrer Mängel bleibe die GRU ein entscheidendes Instrument für Russlands militärische Geheimdienstarbeit, da ihre Fähigkeit zu geheimen Operationen sie zu einem unverzichtbaren Teil der russischen Sicherheitsarchitektur mache. Der Historiker prognostiziert, dass die GRU, auch wenn sie Reformen benötige, weiterhin eine bedeutende Rolle in Russlands Geheimdienstoperationen spielen und die Konfrontation mit westlichen Staaten beeinflussen werde.
Matthias Uhl: GRU. Die unbekannte Geschichte des sowjetisch-russischen Geheimdienstes von 1918 bis heute, Darmstadt: wbg Theiss 2024, 751 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-534-61012-9, EUR 39,00
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