sehepunkte 22 (2022), Nr. 12

Michael Hirschfeld / Franz-Reinhard Ruppert: Arbeitswanderer in Delmenhorst in der Epoche des Kaiserreichs 1871-1918

Internationale Migration ist spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 wieder verstärkt in den Fokus von Wissenschaft und Politik gerückt. Dass auch schon vor über 100 Jahren innerhalb Deutschlands und über seine Grenzen hinaus Migration ein normales Phänomen war, machen Michael Hirschfeld und Franz-Reinhard Ruppert an einem konkreten Beispiel deutlich, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch massive Arbeitsimmigration gewachsenen nordwestdeutschen Industriestadt Delmenhorst bei Bremen. Auf 400 Seiten werden die Gründe für den Zuzug von Menschen aus unterschiedlichsten Herkunftsregionen - dem Osten des Deutschen Reiches, aber auch aus Österreich-Ungarn - dargestellt. Darüber hinaus werden die sozialen Verhältnisse in den Herkunftsregionen wie dem Egerland, dem Eichsfeld, Oberschlesien, Posen und Galizien beleuchtet und die Integration der Zuwanderer in die Delmenhorster Gesellschaft untersucht.

Basis der wissenschaftlichen Analyse ist eine Untersuchung der Delmenhorster Melderegister und Personalkarteikarten des größten Industrieunternehmens in der Stadt, der Norddeutschen Wollkämmerei & Kammgarnspinnerei (NW&K). Auf Basis dieser Quellen gelingt es den Autoren, zunächst ein statistisches Rahmenwerk zu schaffen, das die Herkunftsregionen der Arbeitsmigranten, ihre Alters- und Geschlechterverteilung sowie die zeitlichen Rahmen der Zuwanderung deutlich macht. Doch die Autoren gehen über diesen makrohistorischen Ansatz deutlich hinaus. Anhand von Fallbeispielen und Einzelschicksalen wird gemäß mikrohistorischer Methodik "individuellen Schicksalen vermehrt Beachtung geschenkt" (352). Das macht den besonderen Wert der vorliegenden Untersuchung aus!

Das Buch beginnt mit einem kurzen Forschungsüberblick sowie einer Beschreibung der Quellenlage. Dann wird die Geschichte der Stadt Delmenhorst, insbesondere ihre Entwicklung zu einer Industriestadt im 19. Jahrhundert, umrissen. Dabei wird vor allem auf die NW&K als größten Industriebetrieb der Stadt fokussiert. Im zentralen Kapitel werden dann die einzelnen Gruppen von Immigranten systematisch untersucht. Als zentrale Herkunftsregionen können die Autoren Böhmen, konkret das Egerland, den thüringischen Teil des Eichsfelds, den östlichen Teil des Kreises Neustadt in Oberschlesien, einige südliche Orte in der preußischen Provinz Posen sowie den Bezirk Krosno am Nordrand der Karpaten im österreichischen Galizien ausmachen. Dadurch ergibt sich ein interessantes Spektrum von Zuwanderern. Aus dem Eichsfeld, Posen und Oberschlesien kamen deutsche Staatsbürger, aus Böhmen und Galizien hingegen Untertanen der Habsburgermonarchie. Die Oberschlesier und Posener waren zumeist polnischsprachig (wobei in Oberschlesien ein besonderer Dialekt, das sogenannte Wasserpolnisch, gesprochen wurde), Eichsfelder und Böhmen hingegen deutschsprachig, die Galizier gehörten zur Gruppe der Ruthenen, die einen ukrainischen Dialekt sprachen. Auch konfessionell war die Gruppe der Zuwanderer sehr heterogen, wobei die Katholiken stark überwogen. Abschließend wird die Integration der Zuwanderer durch die sog. Naturalisation (das heißt die Einbürgerung in das Großherzogtum Oldenburg), ihre Vereinsbildung und ihre sich kontinuierlich verbessernden Wohnverhältnisse bei Bewahrung ihrer konfessionellen Identität untersucht.

Innerhalb der nach Herkunftsregionen eingeteilten Kapitel im Hauptteil wird die Analyse - soweit es die Quellenlage ermöglicht - äußerst systematisch durchgeführt. So beginnt das Kapitel Oberschlesien zum Beispiel mit einem kurzen Blick in die Geschichte Schlesiens, dann werden die Familiennamen der Einwanderer und ihre sprachlichen Verhältnisse untersucht. In einem weiteren Unterkapitel werden der zeitliche Rahmen der Einwanderung und das Geschlechterverhältnis analysiert. Zur Illustration haben Hirschfeld und Ruppert Grafiken erstellt, die den Migrationsprozess im Zeitablauf deutlich machen. Außerdem gehen die Autoren in diesem Unterkapitel auch auf die ausgeprägte Frömmigkeit der Migrantinnen aus Oberschlesien ein. Anschließend werden Einblicke in die Lebenswelt der Herkunftsdörfer im östlichen Kreis Neustadt/OS gewährt. Hinweise dazu, über welche Zwischenstationen die Oberschlesier und Oberschlesierinnen nach Delmenhorst kamen und wie sie durch Heirat und Familiengründung sowie Hausbau sesshaft wurden, schließen dieses Unterkapitel ab. Dabei werden zahlreiche konkrete Familien und deren Geschichte beschrieben, um die allgemeinen Aussagen zu untermauern und den Immigrationsprozess bildhaft darzustellen.

In den anderen Kapiteln über die Böhmen, Eichsfelder, Posener und Galizier gehen die Autoren ähnlich vor. Dabei fällt allerdings auf, dass die Zuwanderergruppen zum einen unterschiedlich groß waren und zum anderen auch die Quellenlage keinen einheitlichen Umfang aufweist. So sind die Unterkapitel bezüglich der Eichsfelder und der Galizier deutlich kürzer als die über Böhmen, Oberschlesier und Posener. Dennoch wird die Analyse allen Immigrantengruppen gerecht. Zudem haben sich die Autoren sehr gut in die Geschichte und Kultur der Heimatregionen eingearbeitet. Den Rezensenten - selber aus dem östlichen Kreis Neustadt/OS stammend - freute vor allem die differenzierte Analyse der sprachlichen und nationalen Verhältnisse in diesem Teil Oberschlesiens. Während in vielen älteren Publikationen alle "polnischsprachigen" Menschen aus dem Osten des Deutschen Reiches zum Beispiel als "Ruhrpolen" zusammengefasst werden, liefern Hirschfeld und Ruppert bezüglich der Immigranten nach Delmenhorst eine erfreulich anschauliche Darstellung ihrer kulturellen Verhältnisse, die sie von Polen aus dem Posener Raum, aber auch von deutschsprachigen Immigranten, zum Beispiel aus dem Eichsfeld, abgrenzen. Dadurch erreichen sie eine sehr differenzierte und konkrete Darstellung der Verhältnisse im Delmenhorst des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Das Buch stellt den Immigrationsprozess aus den genannten Regionen nach Delmenhorst somit einerseits anschaulich, aber andererseits auch wissenschaftlich korrekt dar. Neben kurzen statistischen Analysen stehen exemplarische Einzelschicksale. Zahlreiche Illustrationen - eigene Fotos der Autoren, Archivalien und weitere Dokumente, Postkarten etc. - veranschaulichen die im Text dargestellten Sachverhalte zusätzlich. Dadurch entsteht ein "bunter Bilderbogen" der Delmenhorster Zuwanderungsgeschichte, der auch die moderne Migration besser zu verstehen hilft.

Rezension über:

Michael Hirschfeld / Franz-Reinhard Ruppert: Arbeitswanderer in Delmenhorst in der Epoche des Kaiserreichs 1871-1918. Böhmen - Eichsfelder - Oberschlesier - Posener - Galizier in einer nordwestdeutschen Industriestadt (= Oldenburger Studien; Bd. 92), Oldenburg: Isensee 2021, 400 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7308-1755-1, EUR 35,00

Rezension von:
Ralph M. Wrobel
Westsächsische Hochschule Zwickau
Empfohlene Zitierweise:
Ralph M. Wrobel: Rezension von: Michael Hirschfeld / Franz-Reinhard Ruppert: Arbeitswanderer in Delmenhorst in der Epoche des Kaiserreichs 1871-1918. Böhmen - Eichsfelder - Oberschlesier - Posener - Galizier in einer nordwestdeutschen Industriestadt, Oldenburg: Isensee 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 12 [15.12.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/12/37597.html


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