Digitale Spiele, seien es Computerspiele, Apps auf Smartphones oder Konsolentitel überschlagen sich nicht nur in ihrer allgemeinen Beliebtheit, sie sind mittlerweile auch fester Bestandteil interdisziplinärer wissenschaftlicher Forschung geworden. Mannigfaltige Veröffentlichungen in den letzten Jahren zeigen nicht nur vielfältige Herangehensweisen und Untersuchungsansätze in der Geschichts- oder Sozialwissenschaft, sondern nun auch in der Medizin. Dies lässt sich nicht nur in Gestalt von Lebensanzeigen und Verletzungssystemen in Action-Shootern, sondern auch in Form von Erlebniswelten bestimmter Krankheitsbilder oder Trainingssoftware beobachten. Obwohl solche Aspekte schon seit mehreren Jahrzehnten Teil digitaler Spiele sind, hat es eine dezidierte Untersuchung dieser Verschränkung bisher nicht gegeben. Ein möglichst interdisziplinärer Ansatz war also schon längst überfällig und findet im vorliegenden Sammelband einen ausführlichen Versuch, Krankheiten in digitalen Spielen aus ganz unterschiedlichen Betrachtungswinkeln zu untersuchen.
Die Herausgeber haben dazu 33 Autor*innen "aus den Medien- und Kulturwissenschaften [...], der Medizin-, Wissenschafts- und Medienphilosophie, der Medizintheorie und -ethik, den Kulturwissenschaften und den Literaturwissenschaften" sowie aus der Medizin und der Produktentwicklung versammelt (11). Als Einführung in das Forschungsthema konzipiert, folgt der Band mit seinen vier Sektionen einer rein thematischen Logik und die recht knappe Einleitung gibt nur grobe gemeinsame Fragestellungen vor, die die einzelnen Beiträge eher für sich stehen lassen. Die verschiedenen Artikel stellen dabei jeweils eigene Fallstudien dar, die sich mit theoretischen wie praktischen Bezügen zu digitalen Spielen und Krankheiten beschäftigen und dabei auch selbst interdisziplinär arbeiten.
In der ersten Sektion (I. Theorien) wird gleich zu Beginn herausragende Pionierarbeit geleistet: So definieren Eugen Pfister und Arno Görgen nicht nur elementare analytische Begriffe neu (51-74), Görgen gelingt es zudem, das von dem Medizinsoziologen Peter Conrad erdachte Konzept der Medikalisierung [1] auf digitale Spiele anzuwenden und für das Untersuchungsobjekt digitales Spiel zu operationalisieren und so der Medien- und Kulturwissenschaft zugänglich zu machen (17-49). Nils Löffelbein und Katharina Fürholzer schaffen wichtige Grundlagen für das Verständnis der folgenden Beiträge, indem sie einerseits verschiedene Pathologietheorien, wie das biomedizinische und das biopsychosoziale Modell, entschlüsseln (97-112) und andererseits das Themenfeld der Pathografie und die medizinische Macht und ihre Beziehungen beleuchten (75-95).
Genauso gehaltvoll nähern sich die Beiträge der zweiten Sektion (II. Wahn|Sinn - Psychische Krankheiten in Games) der Darstellung und Wahrnehmung von psychischen Krankheiten in digitalen Spielen über verschiedenste Denkwege. Die Fallstudien von Bernhard Runzheimer und Sarah Beyvers stellen an Horrorspielen eine aus der Literatur entlehnte "unreliable Narration" (163-165 und 176-183) fest, die zusammen mit anderen Spielmechaniken eine "First Person Mental Illness" (147) erfahrbar macht. Die Untersuchungen von Stefan Heinrich Simond, Annika Simon, Henning Jansen sowie Rudolf Inderst und Sabine Schollas zeigen nicht nur, dass die negative Darstellung und Stigmatisierung psychischer Krankheiten in digitalen Spielen weit verbreitet ist (130f. und 149f.), sondern auch dass viele Titel alternative Darstellungskonzepte finden, die einen differenzierteren, gar heilenden Umgang mit psychischen Krankheitsbildern ermöglichen (133-137 und 197-201). Es zeigt sich, dass das biomedizinische Modell in Spielen mit hoher dichotomer Stigmatisierung Anwendung findet, während Darstellungen, die psychische Krankheiten im Sinne des biopsychosozialen Modells verstehen, differenzierter ausfallen (117-220 und 206f.).
Sektion drei (III. Bioschocker - Somatische Krankheiten in Games) widmet sich der Darstellung körperlicher Krankheiten und ihrer Deutung. Brandon Rogers sowie Alan McGreevy, Christina Fawcett und Marc Ouellette zeigen mutig entzifferte Konzepte toxischer Maskulinität und sexistischer Krankheitsdarstellung, die sich in dichotomen und rationalisierten Gesundheitssystemen (337-339) und Darstellungen von verkörperten Infektionskrankheiten (269-271) finden lassen. Elsa Romfeld und Torben Quasdorf wagen eine thematische Exkursion in das Brettspiel Pandemie und finden heraus, dass bedrohlich gezeichnete Krankheiten einen gemeinsamen Gegner und Motivationsfaktor für die Spielenden schaffen können (321). Die beiden Studien von Vanessa Platz und Brandon Niezgoda zeigen hingegen, wie Spiele beim besseren Verständnis und zur Verarbeitung von Krankheiten helfen sowie durch eine soziale Bindung zu den spielbaren Charakteren zum Nachdenken über medizinische Dogmen anregen können.
In Sektion vier (IV. Games for Health) gewährt ein ganzes Team von Forschenden einen detaillierten Einblick in die Anforderungen, Herausforderungen und Schritte der Entwicklung des serious game SanTrain für die Bundeswehr (387-416), während Martin Thiele-Schwez und Anne Sauer anhand fünf aufgestellter Thesen in die Thematik der Health Games einführen (367-386). Simon Ledder kann an mehreren Spielen kapitalistisch und biopolitisch geprägte Konzepte der Selbstdisziplinierung und -optimierung feststellen, die er mit Foucaults Begriff der Biomacht [2] überzeugend in Zusammenhang setzt und kritisch betrachtet (433-460). Kara Stone liefert zuvor mit der Untersuchung des Spiels #SelfCare einen Versuch, genau solchen Konzepten durch ludische Entschleunigung entgegenzuwirken.
Der Band entspricht trotz des mutigen Vorstoßes ins Unbekannte höchsten wissenschaftlichen Standards und lässt nur vereinzelte Kritik an Form und Formalia zu: So ist die Zitier- und Belegweise in wenigen Fällen inkonsistent, und auch wenn die gendergerechte Sprache des Werkes ausdrücklich begrüßt wird, bedient sich jeder Beitrag einer individuellen Auslegung, was hier jedoch zum Problem wird, da gleiche Schreibweisen in unterschiedlichen Artikeln verschiedene Bedeutungen aufweisen. Wünschenswert für einen leichteren Zugang wären zudem zusätzliche Erläuterungen zu den vielfach verwendeten Fachtermini im Fußnotenapparat gewesen, wie es leider nur wenige Artikel des Bandes realisieren. Hier hätte ein gemeinsames Glossar oder Register Abhilfe schaffen können, auf den die Herausgeber jedoch, wie auf die Vereinheitlichung oben genannter Formalitäten, leider verzichtet haben.
Insgesamt kann der Sammelband jedoch nicht nur inhaltlich, sondern vor allem methodisch überzeugen. Den Herausgebern sowie Autor*innen ist es durchgängig gelungen, verschiedenste Theorien und Methoden aus den unterschiedlichsten Forschungsbereichen für ihre Studien heranzuziehen und für weitere Forschungen im Bereich digitaler Spiele und Krankheiten gangbar zu machen. Die hier erbrachten Ergebnisse stellen eine beachtenswerte, fast bahnbrechende Leistung dar, die wertvolle sowie grundlegende Erkenntnisse für die "Medical Humanities" (9f.), aber auch für sein digitales Pendant schafft. Zusätzlich lobend zu erwähnen sind die Open-Access-Veröffentlichung und die den Artikeln vorangestellten Abstracts mit Keywords, die Zugriff, Übersicht und Lektüre für die weitere Forschung massiv erleichtern.
Der Band stellt damit einen großen Schritt in der Forschung von ludisch-medizinischen Wechselwirkungen dar, der nicht nur seinem interdisziplinären Ansatz gerecht wird, sondern sicherlich auch als essenzielle Basis für weitere Forschungen dienen wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Peter Conrad: The medicalization of society: On the transformation of human conditions into treatable disorders, Baltimore 2007.
[2] Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M. 1976.
Arno Görgen / Stefan Heinrich Simond (Hgg.): Krankheit in Digitalen Spielen. Interdisziplinäre Betrachtungen (= Medical Humanities; Bd. 6), Bielefeld: transcript 2020, 465 S., ISBN 978-3-8376-5328-1, EUR 49,00
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