sehepunkte 15 (2015), Nr. 2

Agnes Husslein-Arco / Sabine Grabner (Hgg.): Michael Neder

Mit der 2013/14 gezeigten Ausstellung "Michael Neder. Ohne Kompromisse", die vorliegendem Band zugrunde liegt, schließt die Österreichische Galerie im Belvedere an ihre jüngst begründete Tradition an, aus der eigenen umfangreichen Sammlung an Wiener Biedermeiermalerei monografische Werkbetrachtungen zu rekrutieren. [1]

Nach Ferdinand Georg Waldmüller und Josef Danhauser stellt sie mit Michael Neder (1807-1882) einen weiteren Vertreter dieser Stilrichtung vor, dessen Name allerdings weitaus weniger bekannt ist. Warum das so ist, ist die übergeordnete Frage dieses Buches.

Sabine Grabner, Kuratorin der Ausstellung, entwickelt in ihrem Beitrag das Bild eines Künstlers, der zwischen finanzieller Bedrängnis und der Leidenschaft für die Kunst hin und hergerissenen ist und dessen Lebensumstände ihn zu dem folgenschweren Schritt drängen, zumindest zeitweise in die Fußstapfen seiner Familie zu treten und das Schusterhandwerk auszuüben. "Schustermaler" hatte man Neder in der Folge genannt und damit seine Qualitäten als scharfer Beobachter seiner Zeit verkannt. Dies führte dazu, dass Neders Œuvre "weitgehend unerforscht wie unbeachtet" (6) blieb, wie Agnes Husslein-Arco als Leiterin der Galerie im Belvedere konstatiert. Dass dies ein vorschnelles Urteil der Zeitgenossen war, sucht der Katalog anhand von Beiträgen aus Kunstgeschichte und Kulturanthropologie sowie aus restauratorischer Sicht zu belegen.

Die gewählten Genres im Werk Michael Neders scheinen zunächst aus dem genannten beruflichen Zwiespalt heraus zu erwachsen. Sie sind beinahe ausschließlich im ländlichen Milieu angesiedelt und damit in jenem Umfeld, in dem sich Neder als Schuster bewegt: In der Dorfschänke ebenso wie in der Mägdekammer, in der Bauernstube wie im Stall oder vor der Werkstatt. Neder, der bereits während seiner Studienjahre an der k.k. Akademie der bildenden Künste Wien eine Randposition einnimmt, erkennt früh seine eigene Stärke in Schilderungen des "Leben[s] auf der Straße" (11) und trachtet danach, ein "Dokument des Hier und Jetzt" zu liefern (9). Topografisch sind seine Beobachtungen des Alltags auf den Stadtrand Wiens und den Geburtsort des Künstlers, Döbling, konzentriert. Querrechteckige Bildformate geben seinen Schilderungen von Zuständen den entsprechenden Raum, während die flächenhafte Malweise und die Vermeidung von Überschneidungen zu einer leichten Lesbarkeit der Bildinhalte führen (14f.). Ab den 1830er-Jahren wendet sich Neder verstärkt der Porträtmalerei zu, für die er das kleine Bildformat bevorzug. Hier wird das großartige Talent des Künstlers offensichtlich, sein Gegenüber nicht nur jenseits von Idealisierung und Beschönigung zu zeigen, sondern Einblick in dessen Inneres, die Psyche, zu geben. Dies hätte größere Beachtung verdient als die bloße Attestierung einer "sensiblen Menschenschilderung", wie Grabner es formuliert (20). Es ist nämlich der Punkt, in dem sich Neders Arbeiten "von der allgemeinen Tendenz der Malerei des Biedermeier zur oberflächlichen, unreflektierten Darstellung bürgerlicher Gesellschaftsidylle" unterscheiden (115). Eine ebenso genaue Beschreibung - man könnte beinahe sagen: des Seelischen - vollführt Neder in seinen Tierdarstellungen. Sei es das "Lieblingspferd" mit geblähten Nüstern und glänzendem Fell, die dreifarbige Katze auf dem Arm von Anton Jäger [2] oder der Hund als steter Begleiter des Menschen - des Künstlers Aufmerksamkeit ist ihnen ebenso gewiss wie den menschlichen Porträtierten, und nicht selten ist in den Tieren ein Spiegelbild ihrer Herrschaft zu erkennen.

Harald Krejci, dessen Beitrag sich der Werk-Rezeption Neders im 20. Jahrhundert in Wien widmet, sucht anhand verschiedener Beispiele künstlerische Fortschrittlichkeit im Œuvre des Künstlers aufzuzeigen. Es ist dies, neben den attestierten charakterlichen Porträtstudien, auch ein teils naiv anmutender Ansatz, der sich besonders in den Wirtshaus- und Kirchtagsszenen beobachten lässt.

Krejcis weitere Argumentation, (übrigens evidente) Zusammenhänge zwischen Neders Werk und Gestaltungselementen der Neuen Sachlichkeit der 1920er-Jahre herzustellen, bleibt jedoch im Versuch stecken: Zwar erhält der Leser einen Eindruck von der Sammlungs- und Ausstellungsgeschichte der Werke Neders; eine Analyse der zum Vergleich herangezogenen Vertreter der Neuen Sachlichkeit und ihrer Bezugnahme auf Arbeiten Neders erfolgt jedoch nicht. Dabei hätten als kleinster gemeinsamer Nenner allein die ähnlichen politisch-historischen Rahmenbedingungen beider Strömungen aufschlussreiche Parallelen offengelegt. Wie Krejci andeutet, ist beiden das Erscheinen in einer politischen Interimsphase gemein (Biedermeier zwischen Wiener Kongress und den 1848er-Revolutionen sowie Neue Sachlichkeit in den Jahren der Weimarer Republik und damit zwischen dem Ende des 1. Weltkriegs und der Machtergreifung durch Hitler 1933). Während sich die Kunst der Neuen Sachlichkeit aber sozialkritischen Themen verschreibt und dazu Stellung bezieht, ist dem Biedermeier der Rückzug ins Häusliche, im übertragenen Sinne Kleinformatige, zueigen, dessen gesellschaftskritische Bezüge im leisen Spott Widerhall finden.

Die These, Neders Œuvre habe den Wiener Vertretern der Neuen Sachlichkeit aufgrund seiner flächenhaften Gegenständlichkeit und den aus dem ländlichen Alltag gegriffenen Szenen als Anregung gedient, schließt inhaltlich an Beobachtungen zu Neders Maltechnik an. Starke Hell-Dunkelkontraste sowie das Modellieren des Körpers aus dem Dunkel heraus sind stilistische Merkmale, die vornehmlich bei seinen Porträtstudien auffallen. Dies sowie eine stark definierte Lichtführung machen Neders Bezugnahme auf niederländische Vorbilder plausibel, die er unter anderem in den Sammlungen des Kunsthistorischen Museums studiert haben könnte.

Eine spannende Ergänzung stellt der Bericht Elisabeth Foissners dar, die als langjährige Restauratorin der Galerie im Belvedere eindrücklich von der Arbeit mit dem Werk zu berichten weiß. Ihre materialtechnischen Beobachtungen lassen erhellende Rückschlüsse nicht nur auf Neders Experimentierfreude in Bezug auf Malmaterialien und Arbeitstechniken zu, sondern auch auf den ungeduldigen Charakter des Künstlers. Dieser hatte sich vermutlich mit der Verwendung von Asphalt, sicher aber von Schellack versucht, dessen glänzende Oberfläche keinen abschließenden Firnis benötigt und somit ein rasches Weiterarbeiten nach dem Vollenden einer Malschicht ermöglicht.

Der Kulturanthropologe Roland Girtler trägt schließlich auch dem Umstand Rechnung, dass sich in Neders Bildern eine nicht mehr existierende Welt des ländlichen Lebens um die Stadt Wien erhalten hat. Die fahrenden Händler und Werkstätten, die zahllosen Wirtsstuben und Weinschänken gibt es heute nicht mehr - sie überleben allein dank Neders Pinselstrich.

Zusammenfassend lässt sich der Band als gelungenes Einführungswerk zu Leben und Werk Michael Neders werten. Nicht zuletzt der mehr als 70 Seiten umfassende, in schöner Qualität erstellte Katalogteil vermittelt einen beeindruckenden Einblick in das Œuvre eines - zu Unrecht - wenig beachteten Vertreters des Wiener Biedermeier. Die teils etwas mager wirkenden Ausführungen zur Rezeption Neders und dessen Positionsbestimmung in der österreichischen Malerei des 19. Jahrhunderts mögen dem schmalen Umfang des Bandes geschuldet sein und lassen der Forschung noch Raum für weiterführende Betrachtungen.


Anmerkungen:

[1] Monografische Ausstellung zu Ferdinand Georg Waldmüller 2009 sowie die Sonderausstellung "Josef Danhauser. Bilderzählungen" 2011; beide gezeigt in der Österreichischen Galerie im Belvedere, Wien. Grundsätzlich ist seit der großangelegten Schau "Biedermeier. Die Erfindung der Einfachheit" aus den Jahren 2006/07 ein verstärktes Interesse an dieser Strömung des 19. Jahrhunderts festzustellen. Zu sehen war die Wanderausstellung im Milwaukee Art Museum; in der Albertina, Wien; im Deutschen Historisches Museum, Berlin sowie im Musée du Louvre, Paris.

[2] Anton Jäger mit seiner Frau Dorothea, geb. Freiin von Riefel, und Wirtschafterin, 1838.

Rezension über:

Agnes Husslein-Arco / Sabine Grabner (Hgg.): Michael Neder. Ohne Kompromisse, München: Hirmer 2013, 160 S., 126 Abb., ISBN 978-3-7774-2209-1, EUR 29,90

Rezension von:
Maximiliane Buchner
Institut für Kunstgeschichte, Leopold-Franzens-Universität, Innsbruck
Empfohlene Zitierweise:
Maximiliane Buchner: Rezension von: Agnes Husslein-Arco / Sabine Grabner (Hgg.): Michael Neder. Ohne Kompromisse, München: Hirmer 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 2 [15.02.2015], URL: https://www.sehepunkte.de/2015/02/24665.html


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