Von Stephan Lehnstaedt / Ruth Leiserowitz
Wieder einmal bewegt Polen eine Debatte um den Antisemitismus. Wieder einmal ist der Auslöser ein Buch von Jan Tomasz Gross. Und wieder einmal werden tiefe Gräben sichtbar, die zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Lagern verlaufen. Kurz gesagt geht es erneut um die Frage, wie sehr "die" Polen im Zweiten Weltkrieg von der Verfolgung der Juden profitiert haben bzw. diese in ihrer Totalität überhaupt erst ermöglichten.
Gross hat dazu, gemeinsam mit seiner Frau, Irena Grudzińska-Gross, im März 2011 einen Essay unter dem Titel Złote żniwa [Goldene Ernte] veröffentlicht. Die Autoren bezeichnen damit den Raub von Wertgegenständen aus Massengräbern in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Freilich geht ihr Interesse noch weiter, denn sie fragen letztlich danach, welchen Gewinn die Polen aus dem Leid ihrer jüdischen Mitbürger zogen - und ob sie damit zu (Mit)Tätern des Holocaust wurden.
Bereits vor dem Erscheinen des Bandes gab es zahlreiche Ankündigungen und Vorausrezensionen in der Presse. Auch in der Bundesrepublik wurde der Band von Karol Sauerland bereits im Februar vorangekündigt [1] und pünktlich zum Erscheinen im März umfangreich besprochen [2].
Fast zeitgleich legten zwei weitere Wissenschaftler, Barbara Engelking und Jan Grabowski, Studien zur Verfolgung der Juden auf dem Land vor. Sie untersuchen, wie Juden sich verstecken konnten, welche Hilfe gewährt wurde und inwieweit die nationalsozialistische Mordmaschinerie erst durch die Denunziationen und Mithilfe von Polen funktionieren konnte. Damit stellen sie ähnliche Fragen wie Gross.
Die Kritik an diesen Büchern ist teilweise sehr polemisch. Nicht zuletzt werfen Nationalkonservative den Autoren vor, nicht patriotisch zu sein und den guten Ruf Polens und der Polen zu beschmutzen. Unabhängig davon gibt es aber auch sachliche Argumente, und man kann davon ausgehen, dass die vorgelegten Werke inspirierend auf die weitere Auseinandersetzung mit dem Holocaust wirken. Nachdem man im Westen in den letzten Jahren primär nach den Motiven der Mörder fragte, wird immer deutlicher, dass diese den Massenmord nicht ohne die Mithilfe der Besetzten so vollständig hätten durchführen können.
Wir haben vier renommierte Forscher gebeten, uns ihre Einschätzung der drei genannten Werke sowie der Debatte zukommen zu lassen. Mit Jürgen Hensel vom Żydowski Instytut Historyczny [Jüdisches Historisches Institut] Warschau erläutert zunächst ein seit vielen Jahren in Polen lebender Deutscher die innerpolnische Debatte. Er stellt auch Adam Michniks mehrbändiges Werk Przeciw antysemityzmowi [Gegen Antisemitismus] vor, das im Januar 2011 erschien und das Problem des Judenhasses in Polen im 20. Jahrhundert ausführlich dokumentiert.
Als zweiter Deutscher wirft Ingo Loose vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin einen Blick auf das Buch von Gross, er geht aber auch auf die Bücher von Engelking und Grabowski ein. Loose betrachtet die Debatte als Außenstehender, der zugleich ausgewiesener Experte für die Geschichte der Judenverfolgung in Polen ist. Letzteres trifft auch auf Piotr Weiser, der ebenfalls am Jüdischen Historischen Institut in Warschau und der Krakauer Jagiellonen-Universität arbeitet, sowie auf Witold Mędykowski zu, der als Pole in Israel lebt und in Yad Vashem sowie an der Universität Haifa beschäftigt ist. Mędykowski schildert ausführlich die historischen Gegebenheiten im Umfeld der damaligen "Goldenen Ernte", während Weiser vor allem die künftigen Aufgaben der Holocaustforschung in Polen charakterisiert.
Durch die Texte von Hensel, Loose, Mędykowski und Weiser erhalten deutsche Leserinnen und Leser Einblicke in eine polnische Geschichtsdebatte, die, so lässt sich prognostizieren, noch lange anhalten wird. Wenn wir hier Inhalte der neuesten polnischen Forschungen und Positionen im Kontext dieser Diskussion vorstellen, geschieht dies vor allem, weil wir der Meinung sind, dass diese Einblicke in das polnisch-jüdische Verhältnis zur Besatzungszeit zur vergleichenden Forschung in anderen ostmitteleuropäischen Staaten anregen können, die mit ähnlichen Situationen konfrontiert waren und in denen die Beziehungen zu den Juden zur Besatzungszeit gleichfalls lange tabuisiert wurden bzw. sehr einseitige Zuschreibungen erhielten.
Andererseits weisen die vorliegenden Befunde der Arbeiten von Barbara Engelking, Jan Grabowski und in einem bestimmten Maß auch von Jan Tomasz Gross und seiner Frau die Richtung für weiterführende Fragen, die sich in drei Themenkomplexe einordnen lassen, nämlich den der sozial- und moralgeschichtlichen Fragen der Besatzung, den Bereich der Tabuisierung und Mythologisierung von "schwierigen" Ereignissen und schließlich der Problematik von persönlicher Erinnerung und kollektivem Gedächtnis. Bezüglich des Besatzungsgeschehens ließe sich fragen: Wie wirkte sich Besatzung generell auf dem Land aus? Kam es durch Verfolgungs- und Deportationsmaßnahmen zu einem sozialen Vakuum in den Dörfern und Kleinstädten und welche Folgen resultierten daraus? Und darüber hinaus allgemein: Wie können Personen, Gemeinschaften und Gesellschaften durch Besatzung deformiert werden?
Beim Thema Tabuisierung und Mythologisierung könnten folgende Aspekte untersucht werden: Inwiefern gelang der Bevölkerung der mentale Abschluss mit der Kriegszeit? Inwiefern wurden noch jahrelang Angewohnheiten und Verhaltensweisen aus der Besatzungszeit fortgesetzt? (Rafał Wnuk hat in einem anderen Zusammenhang gerade auf diverse Kontinuitäten in der polnischen Bevölkerung nach Kriegsende hingewiesen. [3] .) Inwieweit war ein von oben verordnetes Schweigen bequem und politisch opportun und in welchem Maße dienten probate Halbwahrheiten in der Form neuer Mythen als simplifizierende Erklärungen? Hier befinden sich Teile der polnischen Bevölkerung, aber auch anderer osteuropäischer Gesellschaften (z.B. derjenigen Litauens) in einem mühevollen Lernprozess, und manche einfachen Erklärungen erweisen sich als sehr langlebig.
Wenn es drittens um persönliche Erinnerungen und das kollektive Gedächtnis geht, darf nicht vergessen werden, dass die polnischen Juden häufig sehr emotionale Erinnerungen an ihre polnischen Nachbarn hatten. Über die Deutschen hatten sie vorher gehört, dass diese ihnen nicht wohl gesonnen seien. Von den Polen hingegen hatten sie ein derartig gleichgültiges bis feindliches Verhalten in diesem Ausmaß nicht erwartet, weswegen diese negativen Erfahrungen in tiefen, lang anhaltenden Enttäuschungen gipfelten. Die Historikerin Diana Pinto hat bereits 1996 gefordert, dass Juden und Polen ihre Erinnerungen neu konstruieren und dabei die unterschiedlichen und sich häufig widersprechenden Stränge zusammenfügen sollten. [4] Lässt sich also ein Kapitel des kollektiven Gedächtnisses unter Einbezug emotionaler Erinnerungen gemeinsam neu konstruieren oder werden diese Erinnerungen immer mehr konträr als komplementär bleiben?
Anmerkungen:
[1] Karol Sauerland: Goldrausch bei Treblinka, in FAZ, 15.02.2011, 31.
[2] Tomasz Kurianowicz: Die Wahrheit eines furchtbaren Buches, in FAZ, 11.03.2011, 33.
[3] Rafał Wnuk: Te pomniki nas nie połączą [Diese Denkmäler verbinden uns nicht], in: Gazeta wyborcza, 06.06.2011, 24f.
[4] Diana Pinto: Fifty Years after the Holocaust: Building a New Jewish and Polish Memory, in: East European Jewish Affairs 26, Nr. 2 (1996), 79-95, hier 80.