Walter-Müller Seidel ist in der Schiller-Forschung kein Unbekannter. Tatsächlich ist die vielfältige Beschäftigung des prominenten Literaturwissenschaftlers mit dem großen Dichter der Weimarer Klassik kaum anders als in einer Litotes auszudrücken. Denn Müller-Seidel hat das Werk Friedrich Schillers nicht nur als Editor, sondern auch als Literaturhistoriker und vor allem als Interpret umfassend begleitet, kommentiert und analysiert. [1] Nach seinem 90. Geburtstag im Jahr 2008 hat Müller-Seidel nun ein Buch vorgelegt, das als Substrat seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Dichter gelten darf. In diesem hohen Alter einen derart profunden Überblick über Schillers Verhältnis zur Politik zu geben, verdient besondere Wertschätzung und Anerkennung.
Die Arbeit ist in zehn Abschnitte gegliedert. Müller-Seidel setzt mit Schillers Reaktionen auf die Hinrichtung des französischen Königs am 21. Januar 1793 ein, skizziert die zeitgenössischen Debatten zum Widerstandsrecht und widmet sich im umfangreichsten vierten Teil den Dramen Schillers, die in Einzelinterpretationen mit Perspektive auf die darin enthaltenen politischen Konstellationen behandelt werden. Schillers drittes abgeschlossenes Drama, Kabale und Liebe, das Müller-Seidel bereits andernorts untersucht hat [2], bleibt ausgespart, wird aber im Verlauf eines späteren Kapitels kurz erwähnt (307). Die übrigen sechs Kapitel gruppieren sich um zwei große thematische Schwerpunkte: zum einen um Schillers Verhältnis zu Napoleon, zum anderen um Schillers Gestaltung historisch und menschlich großer Figuren.
Das Zentrum des Buches bildet Müller-Seidels detaillierte Untersuchung zu Schillers ablehnender Haltung, die der Dichter gegenüber Napoleon Bonaparte bezieht. Das Kapitel lässt sich wie ein Seitenstück zu Barbara Beßlichs Habilitationsschrift Der deutsche Napoleon-Mythos (2007) lesen [3], auf die Müller-Seidel wiederholt rekurriert. Dem problematischen Befund, der schlicht darin besteht, dass sich Schiller an keiner Stelle seines literarischen oder epistolaren Werkes über Napoleon geäußert hat, begegnet Müller-Seidel mit einem weitgespannten "Indizienbeweis" (212).
Ausgehend von Caroline von Wolzogens Erinnerung, derzufolge Schiller gesagt habe, dass ihm Napoleon "durchaus zuwider" (217) sei, rekonstruiert Müller-Seidel Schillers distanzierte Einstellung, kontextualisiert sie mit Wertungen über den französischen Feldherren aus Schillers direktem Umfeld (Madame de Staël, Friedrich von Gentz, Wilhelm von Humboldt) und versucht Schillers kritische Position anhand des politischen Gehalts seiner Dramen zu schärfen. So sehr die Argumentation im Detail überzeugen mag, so wenig erscheint jedoch Müller-Seidels Schlussfolgerung angesichts des dürftigen Faktenmaterials zwingend. Mit Peter-André Alt ließe sich vorsichtiger von der "inneren Distanz" Schillers gegenüber Napoleon sprechen. [4]
Anhand seiner Kernthese, der expliziten Distanznahme Schillers gegenüber dem französischen Eroberer Napoleon, verfolgt Müller-Seidel die Absicht, Schillers Dramen dezidiert zeithistorisch zu lesen. Das mehrfach wiederholte Plädoyer lautet daher: "Schillers Dramen ohne die zeitgeschichtlichen Bezüge verstehen zu wollen, kommt mir hermeneutisch verwegen vor." (20) Nun soll hier keineswegs die Tatsache bestritten werden, dass Schillers Dramen - vor allem ab der Wallenstein-Trilogie - mehr oder weniger deutliche Parallelen zur Zeitgeschichte aufweisen. Nur bleibt es bedauerlich, dass Müller-Seidel auf der apodiktisch vorgetragenen Deutungsrichtung beharrt, ohne sie einmal mit Schillers eigenen Einwänden zu konfrontieren. [5]
Mit seinen Hinweisen auf die Bedeutung der zeithistorischen Bezüge plädiert Müller-Seidel jedoch nicht für direkte Entsprechungen zwischen Literatur und Geschichte: "Schiller hat zu keiner Zeit Schlüsselromane in Dramenform verfasst." (213) Ungeachtet dieser eigenwilligen Gattungsverquickung vertritt Müller-Seidel vielmehr die These, dass Themen- und Motivbereiche wie die Inszenierung des Vaterländischen, die Verteidigung der Selbstherrschaft und die Gestaltung von Friedensabkommen zunehmend Schillers dramatische Arbeiten dominieren, seit "Bonaparte die politische Weltbühne betreten hat." (213)
Anhand von Wallensteins Tod stellt Müller-Seidel etwa heraus, dass der Kommandant von Eger, Gordon, den Heerführer nicht als Despoten und Tyrannen, sondern als einen "Diktator" (127) bezeichnet. Was zunächst nur "ungewöhnlich" (127) erscheint, wird an späterer Stelle als Argument für den Napoleon-Bezug gewertet. Die markante Qualifizierung sei "nicht zufällig in das Drama gelangt" (248) und erinnere an die Zeit der Eroberungskriege, in der sich Napoleon selbst zum Diktator ernennen ließ. Neben solchen punktuellen Bezügen korrespondiere die Wallenstein-Trilogie aber auch in übergreifender Hinsicht mit den Zeitverhältnissen: in der kritischen Darstellung des Tötens aus politischen Motiven, in der Demonstration des Wandels und der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und in der Gestaltung eines Bewusstseins von Selbstherrschaft, das auf "die Abwehr der Zerstückelung des Reiches" (136) ziele.
Auslegungen dieser Art konturieren Schiller als einen eminent politischen Denker, auch wenn der spezifisch politische Gehalt erst aus den Dramen herauspräpariert werden muss: "Zeitgeschichte und Zeitkritik werden im Gewande des Milieus einer vergangenen Zeit versteckt und verrätselt." (145) Gelingt die 'Dechiffrierung' des wirkungspolitisch Intendierten, schärft dies den Blick für Schillers differenzierte Betrachtung historischer und menschlicher Größe. Daran anknüpfend zieht Müller-Seidel in den abschließenden Kapiteln große, über Schiller hinausgehende ideengeschichtliche Linien - bis zur Relativierung menschlicher Exzeptionalität in Jacob Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen und bis zur Heldenverehrung des George-Kreises. Angesichts der Frage nach Schillers Kritik menschlicher Größe wäre es nicht unergiebig gewesen, gerade den Typus des Helden, den Schiller selbst problematisiert, näher in den Blick zu nehmen. [6]
Walter Müller-Seidels Studie bietet einen kenntnisreichen und weitgespannten Überblick über den politischen Schiller. Zwar integriert der Argumentationsverlauf die neueste Schiller-Forschung nur in Auswahl, dafür werden ältere, teilweise unabgegoltene Positionen ausführlich diskutiert. Fundiert arbeitet Müller-Seidel den politischen und zeithistorischen Gehalt der Dramen heraus, die in den Horizont zeitgenössischer Debatten - wie etwa der Frage nach dem Recht auf Widerstand - eingebettet werden. Der eingehend thematisierte Wertungsbegriff der historischen Größe fordert dazu heraus, die Bedeutung Napoleon Bonapartes für das Werk Schillers neu zu bedenken.
Anmerkungen:
[1] Vgl. zuletzt: Walter Müller-Seidel / Wolfgang Riedel (Hgg.): Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde, Würzburg 2003.
[2] Vgl. Walter Müller-Seidel: Das stumme Drama der Luise Millerin, in: Goethe-Jahrbuch 17 (1955), 91-103.
[3] Vgl. Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800-1845, Darmstadt 2007.
[4] Vgl. Peter-André Alt: Schiller. Leben - Werk - Zeit. 2 Bde, München 2000, Bd. 2, 379.
[5] Vgl. Schillers Brief an Johann Gottfried Herder vom 4. November 1795.
[6] Vgl. Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie (= Germanistische Forschungen; N.F. Bd. 26), Heidelberg 2008.
Walter Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik. Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe, München: C.H.Beck 2009, 400 S., ISBN 978-3-406-57284-5, EUR 29,90
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