Die Frage nach der Entstehung einer atlantischen Welt hat in der Geschichtswissenschaft einen lebhaften Forschungsdiskurs hervorgerufen. Dass sich die Lebenswelten der an den atlantischen Ozean angrenzenden Kontinente im langen 18. Jahrhundert intensiver miteinander verflochten haben, gilt als eine anerkannte Tatsache. Jedoch ist man sich noch uneins darüber, welche Kräfte diesen Transformationsprozess vorangetrieben haben. War es der Verlauf von Winden und Meeresströmungen, der die Segelschiffe über den Ozean trieb? Dynamisierten neuartige Technologien im Schiffsbau, größere Frachträume und regelmäßigere An- und Abfahrtszeiten die Integration der atlantischen Regionen? Oder mussten die großen europäischen Seemächte erst die richtigen politischen Rahmenbedingungen für diese Entwicklung schaffen?
David Hancock begibt sich in seiner Monografie "Oceans of Wine" erneut auf die Suche nach den Ursachen für die Entstehung eines atlantischen Wirtschaftsraums und seine Studien lassen ihn zu einer interessanten Schlussfolgerung kommen.
David Hancock vertritt die Auffassung, dass das Zusammenwachsen der verschiedenen Regionen rund um den Atlantik vorangetrieben wurde durch eine Imperien übergreifende soziale und ökonomische Aktivität, durch die Handlungsbereitschaft individueller Akteure, durch ein Netzwerk von Geschäftsbeziehungen, geknüpft durch Briefwechsel und Gespräche und durch neuartige Unternehmensformen. Seine Überzeugung, dass das selbständig handelnde Individuum und seine Tatkraft der Antrieb für die Transformation des transatlantischen Beziehungsgeflechts waren, veranschaulicht Hancock mittels der Geschichte des Madeiraweins.
In elf Kapiteln führt Hancock dem Leser vor Augen, wie der Wein aus Madeira die Lebens- und Arbeitsbereiche von Weinbauern, Händlern und Konsumenten verband und wie diese Menschen gemeinsam die atlantische Weinkultur über einen Zeitraum von über 175 Jahren (1640-1815) weiterentwickelten. Dabei konzentriert sich die Studie auf die drei Lebensstadien des Madeiraweins: Herstellung, Handel und Vertrieb in den britischen Kolonien in Nordamerika, den späteren Vereinigten Staaten, und den Verzehr in amerikanischen Tavernen und Haushalten.
Hancocks Untersuchung beginnt auf Madeira. Er beschreibt, wie die geografischen Gegebenheiten der Insel, ihre Bewohner und Fremde seit der Mitte des 17. Jahrhunderts dazu beigetragen haben, dass sich die Weinkultur gegenüber dem Zuckerrohranbau behaupten konnte. Der Leser erhält Einblicke in das alltägliche Leben der Weinbauern Madeiras und die saisonal bedingte Arbeit in den Weingärten. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts führten neuartige Anbaumethoden und Produktionsverfahren zu einer qualitativen Aufwertung des Inselweins, der sich zunehmender Beliebtheit in Europa und den Amerikas erfreute. Die steigende Nachfrage nach Madeirawein zog einen kontinuierlichen Preisanstieg nach sich, dem sich Händler und Konsumenten jedoch beugten. Die Kaufleute beteiligten sich sogar an der Aufwertung des Weins, indem sie Techniken und Hilfsmittel aufbrachten, die eine bessere Lagerung und einen sicheren Transport der kostbaren Ware gewährleisteten. Hancock betont immer wieder, dass das Wissen und die Mittel, die für die Weiterentwicklung des Produkts und Vertriebs unerlässlich gewesen sind, durch Interaktion und Kommunikation von überall aus der atlantischen Welt nach Madeira kamen.
Der mittlere Teil des Buchs widmet sich dem Warenverkehr innerhalb des atlantischen Wirtschaftsraums. Er schildert, wie sich der Handel mit Madeirawein vom 17. Jahrhundert an über den Atlantik bis nach Indien und Asien ausgebreitet hat. Es waren die europäischen und nordamerikanischen Kaufmannschaften, die dem Inselwein maßgeblich zu seinem Erfolg verhalfen. Hancock ist der Auffassung, dass sich der Weinhandel im 18. Jahrhundert langsam zu einem kapitalistischen Unternehmen formierte. Kaufleute begannen ihre Geschäfte mittels Fremdkapital zu finanzieren. Zudem erweiterten die Weinhändler Madeiras ihr Warenangebot; sie kauften Fisch aus der Baltischen See und Getreide aus den Amerikas - Güter, die auf Madeira gegen Wein eingetauscht wurden. Firmen waren gezwungen ihre Organisation zu überdenken. Die Beteiligung an Geschäften in entfernten Märkten verlangte nach immer weiter reichenden Handelsbeziehungen. So lösten Partnerschaften und das Agentenwesen die familiäre Betriebsform ab.
Auch die Geschäftswelt der amerikanischen Importeure erlebte einen signifikanten Wandel. War ihr Warensortiment zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch breit aufgestellt, spezialisierten sich im Verlauf der Zeit immer mehr Großhändler auf den Vertrieb von Weinen. Die Importeure waren gezwungen sich der steigenden Nachfrage und den Wünschen ihrer Kunden anzupassen. Die Einzelwarenhändler und Tavernenbesitzer des amerikanischen Hinterlands waren aber nicht nur bedeutende Geschäftspartner für die Weinimporteure der atlantischen Handelszentren, sondern auch unverzichtbare Informanten. Sie leisteten einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung eines nordamerikanischen Versorgungssystems.
Der letzte Abschnitt von "Oceans of Wine" untersucht die Trinkgewohnheiten der angloamerikanischen Gesellschaft. Hancock analysiert den Alkoholkonsum in den eigenen vier Wänden und in "quasi domestic" oder "quasi public" Räumen (278), wie der Kirche, der Universität, dem Krankenhaus oder dem Arbeitsplatz. Anders als die vorherrschende Forschungsmeinung vertritt Hancock die Auffassung, dass die Menschen des frühmodernen Nordamerikas den Genuss von Alkohol in der Öffentlichkeit nicht gegenüber dem Konsum im eigenen Heim bevorzugten. Sie waren vielmehr bestrebt in einer Umgebung zu trinken, die die heimische Atmosphäre widerspiegelte.
Wein sollte eine herausragende Stellung unter den Spirituosen Nordamerikas einnehmen. Es bildeten sich Weinsorten heraus, die nur von besonderen Personen, an besonderen Orten und zu besonderen Anlässen getrunken wurden. Sie repräsentierten Reichtum und Kultiviertheit. Die Weinkultur der atlantischen Welt erschuf eine eigene Sprache, die die Menschen, die diese Art der Kommunikation beherrschten, zu einer kosmopolitischen Gemeinschaft verband, aber alle Unwissenden ausschloss. Aber nicht nur der Wein selbst vermochte zu diskriminieren, auch die zeitgenössischen Diskurse über die Wirkung von Alkohol auf Körper und Geist spalteten die amerikanische Nation. Wein wurde zum Träger von Identität und Klassenzugehörigkeit in der angloamerikanischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts.
In seiner Untersuchung relativiert Hancock den Einfluss von Staatspolitik und die Macht der großen Imperien im Formierungsprozess der atlantischen Welt. Seiner Meinung nach war das aktiv handelnde und supranational denkende Individuum die maßgeblich treibende Kraft. Jedoch muss auch Hancock eingestehen, dass man die Bedeutung von Politik nicht unterschätzen darf, öffnete doch erst der Navigation Act von 1663 den angloamerikanischen Markt für portugiesische Waren (394) und hatten die Schiffs- und Handelembargos der britischen Regierung während der Amerikanischen Revolution schwerwiegende Auswirkungen auf den transatlantischen Handel (395).
Insgesamt gesehen leistet Hancocks "Oceans of Wine" jedoch einen bereichernden Beitrag zur gegenwärtigen Geschichtsforschung, der vor allem durch die Interpretation vielfältigen Quellenmaterials und durch einen Ansatz, der eine interessante Perspektive auf die sozialen und ökonomischen Entwicklungen innerhalb der atlantischen Lebenswelt eröffnet, überzeugt.
David Hancock: Oceans of Wine. Madeira and the Emergence of American Trade and Taste (= The Lewis Walpole Series in Eighteenth-Century Culture and History), New Haven / London: Yale University Press 2009, XXIX + 632 S., ISBN 978-0-300-13605-0, GBP 40,00
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