sehepunkte 10 (2010), Nr. 2

Beatrix Zug: Die Anthropologie des Raumes in der Architekturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts

Mit seiner anthropologisch begründeten Theorie des Raumes leitete der Kunstwissenschaftler August Schmarsow (1853-1936) am Ende des 19. Jahrhunderts einen Paradigmenwechsel ein, der architekturtheoretische Debatten bis in die Gegenwart beeinflusst. Auch wenn die philosophischen Grundlagen der Schmarsow'schen Theorie in ihrer Bedeutung kaum erfasst worden sind, gilt seine Definition der Architektur als "Raumgestalterin" noch heute. An dieser "verkürzten Rezeption" (10) mag es liegen, dass Schmarsows Werk und Wirken trotz seiner fundamentalen Bedeutung heute nur Wenigen bekannt ist. Zwar steigert sich die Erwähnung seines Namens in den einschlägigen architekturtheoretischen Werken seit etwa zwei Dekaden, doch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Werk blieb bisher Desiderat. Diesem Umstand versucht Beatrix Zug mit ihrer Studie Abhilfe zu schaffen. In sympathisch kurzem Umfang widmet sich die Autorin der Architekturtheorie August Schmarsows und ihrer kritischen Rezeption in den 1920er-Jahren am Beispiel Paul Zuckers.

Schmarsow war Kunsthistoriker. Als solcher versuchte er die ihm gängigen Kriterien ästhetischer Beschreibung für eine Analyse räumlicher Strukturen nutzbar zu machen. Diesen kunsthistorischen und kunstphilosophischen Hintergrund bezieht Zug ganz bewusst ein und bezeichnet ihn als "Grundlage" ihrer Untersuchung. Diese nimmt ihren Ausgangspunkt daher bei Schmarsows Verortung der Kunstgeschichte im System der Geisteswissenschaften, die er in seiner Leipziger Antrittsvorlesung "Das Wesen der architektonischen Schöpfung" (1893) vorgenommen hat. Dabei wird Schmarsows Forderung nach einer "Ästhetik von Innen", an der sich die Kunstwissenschaft zu versuchen habe und die zur Grundlage seiner eigenen Raum- und Architekturtheorie wird, von Zug verständlich skizziert und mit Bezügen auf Dilthey, Wölfflin und Wundt in den geistesgeschichtlichen Kontext eingebettet.

Auf dieser Grundlage analysiert Zug im folgenden Kapitel Schmarsows Modell des Raumes, wobei sie als zweite wichtige Quelle den Aufsatz "Über den Wert der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde" (1896) heranzieht. Herausgestellt wird besonders die fundamentale Bedeutung, die Schmarsow der leiblichen Verfasstheit des Menschen für die Deutung von Räumen zugemessen hat, wobei Zug an dieser Stelle zu Recht auf die Nähe zur Phänomenologie Edmund Husserls verweist. "Der Leib des Menschen wird als Instrument begriffen, um die Richtungen im Raum zu unterscheiden und festzulegen" (24-25). Die Achsen des eigenen Leibes bestimmen die menschliche Vorstellung des Raumes als eines dreidimensionalen Raumes, so Schmarsows Theorie. Indem er dem Sehsinn den Tastsinn bei der Raumwahrnehmung zur Seite gestellt hat, wandte sich Schmarsow gegen "die Dominanz des Optischen in der Architekturtheorie" (86). Auch bei ihm blieb das Sehen jedoch unabdingbares Mittel zur Wahrnehmung des Raumes, da er die Fläche nur als optisches Phänomen erklären konnte (28-29). Mit kritischem Blick verweist die Autorin an dieser Stelle auch auf Unplausibilitäten in Schmarsows Theorie und zeigt die Widersprüche zwischen den Texten von 1893 und 1896 auf.

Mit seinem Modell des Raumes und seiner Theorie der Raumwahrnehmung hat Schmarsow die Grundlagen geschaffen, um in seiner Theorie der Architektur dem menschlichen Bedürfnis nach Raumgestaltung auf den Grund zu gehen. Dies ist, wie Zug betont, das eigentliche Anliegen Schmarsows, dessen Architekturtheorie dann von der Autorin im vierten Kapitel vorgestellt wird. Architektur ist für Schmarsow die "schöpferische Auseinandersetzung des menschlichen Subjects mit seiner räumlichen Umgebung, mit der Aussenwelt als einem Raumganzen, nach Maassgabe seiner eigensten Natur" (35-36). Auf dieser Grundlage ist zunächst einmal jede "Umschließung eines Subjekts" (38) als Architektur anzusehen. Dies lässt die Autorin zu Recht fragen, "was ein solch abstrakter Begriff von Architektur noch an deskriptiver Bestimmung leisten kann" (43). Als Kriterium für eine ästhetische Beschreibung von Architektur bestimmte Schmarsow den "Rhythmus", der aus seinem "Konzept der Bewegung" resultiert. Der "Rhythmus" als Kriterium der Architektur bei Schmarsow wird daher abschließend in diesem Kapitel vorgestellt.

Dass der Rhythmus-Begriff als Kategorie ästhetischer Beschreibung bereits auf eine lange Tradition zurückblicken kann, zeigt Zug unter der Überschrift "Leibniz' Ästhetik und Diltheys Programm" im nachfolgenden Kapitel. Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, derer sich Schmarsow bedient hat, um Architektur überhaupt als Kunst definieren zu können, werden an dieser Stelle kurz skizziert. Sehr schön wird darüber hinaus geschildert, wie Schmarsow bei dem Versuch ein "System der Künste" zu entwickeln, letztlich doch zu einer "Apotheose des Sehens" (63) gelangt. Damit verweist die Autorin erneut kritisch auf die Mängel der Schmarsow'schen Theorie.

In den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts versucht der Architekt und Kunsthistoriker Paul Zucker (1888-1971) über eine kritische Auseinandersetzung mit Schmarsow eine eigene Architekturtheorie zu entwickeln. Grundlegend stimmt er mit Schmarsow dahingehend überein, dass auch er die Bedeutung der Bewegung für die Deutung von Architektur anerkennt. Hinzu tritt bei Zucker in Anlehnung an die Architekturtheorie Paul Frankls jedoch eine zweckgerichtete Handlung innerhalb des architektonischen Raumes. Architektur braucht nach Zucker eine "zeitliche Zweckfunktion" (87) im Sinne der Erschaffung eines Rahmens für Handlung und Erlebnis. Angebracht wäre hier die Frage, inwieweit nicht Zucker die Fundamentalität des anthropologischen Gedankens bei der Deutung von Räumen gegenüber Schmarsow wieder einschränkt. Denn nach Schmarsow entsteht Architektur aus dem menschlichen Bedürfnis zur Abgrenzung, das zur Raumbildung führt. Durch die Kategorie der "zeitlichen Zweckfunktion" weist Zuckers Theorie jedoch über die menschlichen Grundbedürfnisse hinaus in eine Sphäre der intentionalen Weltformung, die weit über die reine Befriedigung des Raumwillens hinausgeht. Diesen Gedanken nimmt Zug obgleich ihrer ansonsten sehr kritischen Haltung leider nicht auf.

Beeindruckend ist vor allem die enorme Dichte dieses kurzen Werkes. Zug versteht es, eine komplexe Materie mit einer großen Fülle an Informationen zu verbinden und dennoch klar strukturiert zu präsentieren. Überzeugen konnte die Autorin darüber hinaus mit fundierten Kenntnissen des geistesgeschichtlichen Kontextes der Theorien von Schmarsow und Zucker sowie durch ihre stets kritische Betrachtungsweise der Protagonisten. An keinem Punkt der Darstellung wird dem Leser eine reine Zusammenfassung der Theorien Schmarsows und Zuckers präsentiert, sondern diese geht stets mit einer kritischen Infragestellung der Plausibilität einher. Hierdurch gewinnt das Buch von Zug an wissenschaftlichem Wert. Durchaus wünschenswert wäre jedoch eine abschließende Zusammenfassung gewesen. Angesichts der Kürze des Buches, schmälert dies den Wert des Werkes jedoch kaum. Mit ihrer kritischen Studie zu Werk und Wirken August Schmarsows hat Beatrix Zug ein Grundlagenwerk vorgelegt, das obgleich der Informationsfülle erstaunlich gut zu lesen ist und das daher an dieser Stelle wärmstens empfohlen sei.

Rezension über:

Beatrix Zug: Die Anthropologie des Raumes in der Architekturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen: Ernst Wasmuth Verlag 2006, 111 S., ISBN 978-3-8030-0674-5, EUR 14,50

Rezension von:
Ole Fischer
Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Empfohlene Zitierweise:
Ole Fischer: Rezension von: Beatrix Zug: Die Anthropologie des Raumes in der Architekturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen: Ernst Wasmuth Verlag 2006, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 2 [15.02.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/02/13677.html


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