Der Reichstag war die zentrale Verfassungsinstitution des Alten Reiches. Seine Verstetigung zum so genannten 'Immerwährenden Reichstag' 1663 lag sicher auch im andauernden Informationsbedürfnis der Stände begründet. Eine kontinuierliche Aufrechterhaltung der Kommunikation konnte Konflikte entschärfen und wirkte stabilisierend auf das Reich. Das Gesandtschaftswesen der Reichsstände war zwar schon Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, doch über ihre Namen hinaus wurden für einzelne Reichstagsgesandte in der Regel keine weiteren biografischen Daten mitgeteilt. Mit den beiden hier anzuzeigenden Bänden, einer bei Prof. H. Henning an der Universität Duisburg-Essen entstandenen Dissertation, liegt eine sehr materialreiche Arbeit vor, die das Gesandtenwesen durchgängig unter dem Aspekt der Biografie und der Personengeschichte behandelt. Im Mittelpunkt stehen die Gesandten der beiden mittleren Territorien Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt zu den Reichstagen und großen Kongressen des 17. und 18. Jahrhunderts, für die bisher auch keine Arbeit vorlag.
Durch "einen personengeschichtlichen Zugriff auf die einzelnen Gesandten" soll die "Vielfalt der Fragestellungen, die die besondere Stellung des Reichstages und seiner Gesandten für die Sozialgeschichte ermöglicht [...], aufgeschlossen werden" (18 f.). Wichtig sind für von Lehsten auch, dies betont er wiederholt, "die Indikatoren eines sich entwickelnden Typus des Gesandten", weswegen er zum Vergleich den Untersuchungszeitraum in vier Abschnitte einteilt: 1600 bis 1659, 1660 bis 1719, die "erste Phase des Immerwährenden Reichstags", die folgenden 60 Jahre bis ca. 1780, in denen der "Typus des Reichstagsgesandten als selbständiger Vertreter der Fürsten oder der Reichsstände [...] seine eigentliche Ausfaltung erfahren hat", und schließlich die Zeit bis zum Wiener Kongress, als sich "der Typus des unabhängigeren Reichstagsgesandten wieder in den eines Beamten im Ministerium des Auswärtigen" verändert (24). Als Quellen zieht von Lehsten die Akten der auswärtigen Beziehungen der beiden hessischen Höfe in den Staatsarchiven Darmstadt und Marburg heran, aber auch (etwa wegen der großen Kriegsverluste in Darmstadt) die von Archivaren gebildete Beamtenkarteien, biografische Angaben in der Sekundärliteratur und "die am ausführlichsten herangezogene Quellengruppe der Leichenpredigten" (34 f.).
Als Vergleich zu den hessischen Verhältnissen, aber auch um die Entwicklung in der Diplomatie(-geschichte) deutlich zu machen, wird in einem allgemeinen Teil der Kreis aller Gesandten zum Westfälischen Frieden berücksichtigt (Kap. 2, 91-186), dem "Wendepunkt der Diplomatie im Reich"; denn "die Notwendigkeit, zu einem gemeinsamen Friedenswerk zu gelangen", sei "die Bedingung für die Entwicklung des Gesandtschaftswesens" gewesen (100). Um die Karriereschritte einzelner Gesandter erfassen zu können, verfolgt von Lehsten zunächst die Entwicklung der Territorialverwaltung beider Hessen und ihren Personalbestand für die Regierungszeit jedes einzelnen Fürsten bis zum Ende des Alten Reiches (Kap. 3, 187-293), da viele der hessischen Gesandten vorher Positionen in der Verwaltung des jeweiligen Landesteils innehatten. Eine Darstellung der Verwaltung soll im Übrigen auch "die genaue Bestimmung der Position [der einzelnen Gesandten] und damit [besonders für die adligen Diplomaten, 49] auch der Distanz oder Nähe zum Fürsten" (27) ermöglichen.
Die ausgedehnte prosopografische Untersuchung der hessischen Reichstagsgesandten (Kap. 4, 295-531) bietet als Ausgangspunkt die personengeschichtlichen Rekonstruktionen sowohl der Einzelbiografien wie der Genealogien und Verwandtschaften der Gesandten. Weiterhin gehören dazu Bildung und Ausbildung (höhere Schulen, Ritterakademien, Kollegien, Universitäten), der gesellschaftliche Umgang (den von Lehsten "Netzwerk" nennt), die Karriere als Reichstagsgesandter (Mehrfachstimmenvertretung, Wechsel an einen anderen Fürstenhof) sowie deren soziales Leben in Regensburg.
Seit der Reichstag zum ständig tagenden Reichsorgan wurde, vollzog sich seine allmähliche Wandlung vom Fürstenkongress zum "reinen Gesandtenkongress" (536). Damit waren ständige Gesandte auch für mittlere Territorien wie Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt notwendig geworden.
Zum Schluss des ersten Teils seiner Arbeit versucht von Lehsten, den Reichstagsgesandten als einen "Typus" zu bestimmen (533-543). Durch die Mehrfachstimmführung, d. h. die Übernahme des Stimmrechts auch anderer Fürsten durch einen Reichstagsgesandten, habe sich in den Karrieren der Gesandten eine auffällige Spezialisierung gezeigt. Gerade dies habe zur Ausprägung eines "Typus des Reichstagsgesandten" geführt, "dessen Karriere sich nun nicht unbedingt nur in Abhängigkeit von seinem jeweiligen Dienstherrn und Fürsten entwickelte" (537). Adlige Abstammung, aber auch Bildung und Ausbildung sowie vorherige "Karriereposition(en)" am Hof und in der Regierung des Fürsten hätten zur Entwicklung eines Vertrauensverhältnisses zum Fürsten und Dienstherren beigetragen. Trotzdem galten weder "altadlige Herkunft" noch Bildung, Karriere oder "spezielle Position in der Verwaltung oder am Hof" als "Präferenzen für die Auswahl als [...] Reichstagsgesandter". Als "durchgängige Voraussetzungen" für eine Berufung zum Gesandten habe die "Mitgliedschaft im Geheimen Rat und der adlige Stand" zu gelten (539). Folgt man von Lehsten weiter, dann wurde der Gesandte als Vertrauter seines Fürsten durch seine Tätigkeit beim Immerwährenden Reichstag aber auch von seinem Dienstherrn wieder entfernt. Kaiserliche Privilegien, aber auch die Mehrfachstimmführung "förderten den Dienstherrenwechsel". Gesellschaftlichen Aufstieg führte aber auch ein erweitertes Konnubium herbei. Ungeachtet ob Adliger oder gelehrter Jurist, "die Permanenz des Reichstags" erweist sich "als entscheidende Voraussetzung für die Entstehung des Typus eines ständigen Gesandten am Reichstag" (540). Quellen-, Literaturverzeichnis und ein Personenindex beenden den ersten Band.
Von Lehsten verzichtet auf das in wissenschaftlichen Arbeiten allgemein übliche Kapitel "Forschungsziele" oder Ähnliches, das bei der Länge seiner Einleitung von 89 Seiten durchaus angebracht gewesen wäre, da er Angaben zu seinen Aufgaben und Zielen über verschiedene Stellen dieses Kapitels verteilt hat. Zwischenzusammenfassungen hätten dem Leser die Literatur des mit unendlich vielen Namensbelegen versehenen Textes sicher erheblich erleichtert.
Der zweite Band bietet zunächst die biografischen und genealogischen Daten der Gesandten der Reichsstände zum Westfälischen Frieden (11-102) und der Hessischen Gesandten auf Reichstagen 1480 bis 1806 (103-124). Den Hauptteil des Bandes bilden die "genealogisch-biographische[n] Personalblätter der [70] Gesandten, die die Stimmen Hessen-Kassels und Hessen-Darmstadts auf den Reichstagen und auf den Kongressen bis 1815 vertreten haben" (125-536). Die Zusammenstellung zeugt von einer imponierenden Arbeitsleistung. Entstanden ist so ein Handbuch, das nicht nur Daten liefert für die Verwaltungs- und Diplomatiegeschichte der beiden hessischen Territorien, sondern auch von den Forschern benutzt werden wird, die Informationen benötigen zum Einstieg in die Genealogie und Familiengeschichte einzelner Geschlechter im Umkreis der hessischen Fürsten.
Lupold von Lehsten: Die hessischen Reichstagsgesandten im 17. und 18. Jahrhundert. Bd. 1: Prosopographische Untersuchung (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte; Bd. 137), Darmstadt: Hessische Historische Kommission Darmstadt 2003, 644 S., ISBN 978-3-88443-090-3, EUR 88,00
Lupold von Lehsten: Die hessischen Reichstagsgesandten im 17. und 18. Jahrhundert. Bd. 2: Anhang: Listen und biographisch-genealogische Blätter der hessischen Gesandten zu den Reichstagen im 17. und 18. Jahrhundert (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte; Bd. 137), Darmstadt: Hessische Historische Kommission Darmstadt 2003, 536 S., ISBN 978-3-88443-091-0, EUR 88,00
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