header

Klaus Garber / Heinz Wismann (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung (= Frühe Neuzeit; Bd. 26/27), Tübingen: Niemeyer 1996, 2 Bde.: XVIII + 1840 S., ISBN 3-484-36526-9, DM 718,00

Rezensiert von:
Martin Mulsow
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Diese beiden gewichtigen Bände machen zusammen eine ganze Forschungsbibliothek aus: 71 Aufsätze, entstanden zum großen Teil anlässlich eines Kongresses in Paris im Herbst 1989, just in den Tagen des Falls der Berliner Mauer. Die Grundidee, die Sozietäten der frühen Neuzeit in europäischer Perspektive und zudem im Zusammenhang mit der demokratischen Entwicklung zu sehen, erläutert Klaus Garber im einleitenden Beitrag "Sozietät und Geistes-Adel: Von Dante zum Jakobiner-Club". Die 'nobilitas', so Garber, musste im frühen Humanismus als kulturpolitisches Programm neu definiert werden. Weder adelige Herkunft noch Beharrung im Ideal der lateinischen Sprache können Privilegien begründen, sondern allein Tugend und Geistesadel. Der wahre Adel, sagt Dante im Traktat vom wahren Adel im vierten Buch des Convivio, zeigt sich im intellektuell-moralischen Kern einer Person, nicht in ihrer sozialen Deszendenz.

Garber betrachtet diesen Traktat als "ideelle Gründungsurkunde der europäischen Sozietätsbewegung [...], die in ihren Satzungen wie in ihren symbolischen Interaktionsformen und ästhetischen Entwürfen als den eigentlichen Dokumenten ihres geheimen Selbstverständnisses von der Philosophie des wahren Adels bis ins 18. Jahrhundert hinein zehren wird" (11). Allerdings ist Dante noch eine andere Gründerfigur zur Seite zu stellen, die Ähnliches für den Bereich der geistlichen und spirituellen Sozietäten erreicht hat. Garber sieht hier den kalabresischen Abt Joachim von Fiore mit seiner Lehre vom dritten Reich einer ecclesia spiritualis in der entsprechenden Position. Die politisch-organisatorischen Konsequenzen seien in eine ähnliche Richtung gegangen wie im weltlichen Falle des vera nobilitas-Ideals.

Vor dem Hintergrund dieses historischen Anfangsszenarios stellt Garber acht Thesen auf, von denen einige hier einzeln aufzuführen lohnt, da sie weitreichende Aussagen über die Verflechtungen von Geist und Politik, Ideal und organisatorischer Wirklichkeit machen: 1. Die Sozietät ist ein privatrechtliches Institut, das seine staatlich und politisch nicht sanktionierte Stellung zum Entwurf, zur Erprobung und zur Diskussion einer alternativen gesellschaftlichen Organisationsform samt der ihr zugrundeliegenden letztlich vernunftrechtlichen Begründungen nutzt. 2. Vornehmster Grundsatz der Sozietät ist der der Egalität. 4. Es bedarf einer Begründung für das zu beobachtende Zusammengehen von gelehrten Humanisten und regierendem Fürstentum. 5. Eine auf Leistung, auf Kompetenz, auf disziplinären Sachverstand rekurrierende Sozietäts-Programmatik und -Praxis traf sich mit dem Modernisierungsanspruch des modernen Fürstenstaats. 6. Sozietäten haben Kritik an der Formierung der Konfessionen geübt. 8. Die Konfliktzonen bleiben gleichwohl bestehen: Repriviligierung des Adels oder Rekonfessionalisierung seit Mitte des 17. Jahrhunderts stoßen in den Sozietäten auf Kritik.

Gezielt ist also auf ein spannungsvolles Miteinander von Sozietäten und Fürstenstaat. Garber kann sich für das 18. Jahrhunderts auf Reinhart Kosellecks bekannte These vom Politischwerden der Sozietäten gerade durch Ausgrenzung eines gesellschaftlichen Innenraumes stützen. Er möchte diese These aber offensichtlich weiter zurück in die frühe Neuzeit verlängern und mit den Idealen des Frühhumanismus verkoppeln. Dass Akademiegründungen dabei als Produkt einer "Bewegung" verstanden werden, stellt sie in ihrer aktiven Komponente heraus, Ideale zu verwirklichen, und postuliert zugleich die (europaweite) Konnexion der partikularen Bemühungen. Garber wehrt sich gegen die übliche Kritik - etwa: Bukolik sei nicht als Utopie misszuverstehen, oder: die Praxis der Sozietäten sei keineswegs egalitär gewesen - mit einem enschiedenen Plädoyer für die Relevanz und historische Signifikanz von Programmatiken.

Das ist auch nötig, denn nur mit dieser Prämisse kann es Garber - und dem ganzen Band - gelingen, den ambitionierten Bogen von Dantes vera nobilitas-Konzeption bis hin zu den Jakobinerklubs des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu schlagen. Wenn die These richtig ist, dass demokratisches Potential im doppelten Beginn bei Dante und Joachim angelegt ist (und wenn man dies trotz aller Pervertierungen vor allem des Joachitismus bis hin zu Hitlers tausendjährigem Reich aufrecht erhalten will), dann gilt es, Spuren zu sichern und in den jeweiligen Ausformungen der "Sozietätenbewegung" nach ihren demokratischen, egalitären und utopischen Momenten zu suchen. Das ist die gestellte Aufgabe für die Beiträge. "Der Kongress stellt seinem Anspruch nach nicht weniger und nichts anderes als den Versuch dar, unter gebührender Berücksichtigung der antiken Grundlagen diesen in der Frührenaissance anhebenden Prozess der weltlichen wie geistlichen Sozietätsbildung nach Maßgabe des Möglichen in seiner gesamteuropäischen Dimension einschließlich ausgewählter außereuropäischer Derivate und im gesamten Zeitraum der Frühen Neuzeit bis an die Schwelle der bürgerlichen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts gleichermaßen auf der ideellen und proklamatorischen wie der faktischen und organisatorischen Ebene zu verfolgen" (16). Angestrebt ist also auf 1800 Seiten eine in Fallstudien durchgeführte histoire totale der europäischen Sozietätsbewegung.

Es folgen zehn Sektionen, die geographisch nach nationalen Traditionen gegliedert sind. Hervorzuheben ist, dass 'Europa' hier einmal nicht mit Frankreich, Deutschland, Italien und England gleichgesetzt ist, sondern dass - neben Skandinavien und Spanien - ausführlich auch die ostmittel- und osteuropäischen Nationen vertreten sind. Das ist keineswegs selbstverständlich, kennzeichnet aber die Ausrichtung von Garbers Osnabrücker Forschungsstelle zur Literatur der Frühen Neuzeit. Nach einer "Vergewisserung" der Traditionen von Sozietäten in Antike und Mittelalter (I, 43-170) folgt die Aufarbeitung des Ursprungs der Akademiebewegung in Italien (II, 171-286). Dieser Ursprung spielt für die Konzeption des Bandes eine große Rolle und wird etwa von Manfred Lenzen für die gewichtige Accademia Platonica in Florenz und von Bodo Guthmüller für eine eher provinzielle Region wie Vicenza dargestellt.

Frankreich als "nationales Paradigma" folgt in einem umfangreichen Abschnitt (III, 287-512). Unter den Bedingungen des machtvoll formierten Nationalstaates sind die Sozietäten in ganz neue Positionen gerückt - viel näher an die politische Führung im Großen. Hartmut Stenzel beschreibt in diesem Sinne die Anfänge der Academie francaise, und Wolfgang Asholt konfrontiert sie mit der ökonomisch-gesellschaftlichen Realität.

Der iberoromanische Bereich, bis hin zu einem Blick auf Mexiko, erhält eine eigene Sektion (IV, 513-668). Auch in diesem Bereich zeigt sich die Vielfalt der Sozietäten von gelehrten Akademien über ökonomische Gesellschaften bis zu literarischen Insitutionen und Salons. Um dies alles mit der Vokabel ‚Sozietätenbewegung' zu umgreifen, bedarf es in der Tat der großen historiographischen Geste und des Optimismus, der Konnex mit den Gründungsurkunden und ihren Idealen lasse sich immer wieder aufweisen.

Englands Rolle in der Sozietätenbewegung wird als "insularer Sonderweg" begriffen (V, 669-836). Man kann hier an die Royal Society denken, die aus den international geprägten Projekten der Bürgerkriegszeit wie auch den Empfindlichkeiten der Restaurationsepoche hervorgegangen ist, aber auch an frühe Formen von Frauengemeinschaften.

Der Fall der Vereinigten Niederlande bietet das Exemplum von Akademien in einer frühneuzeitlichen Republik (VI, 837-928). Anders als in Frankreich oder Spanien gab es hier nicht die Möglichkeit - und die Verführung -, sich panegyrisch in den Dienst eines absoluten Monarchen zu stellen. So können Fallstudien wie die von Mieke Smits-Veldt privaten Akademien wie der von Samuel Coster nachgehen oder sozialgeschichtliche Untersuchungen wie die von Wijnand Mijnhardt die Herausbildung eines gebildeten Publikums studieren.

Skandinavien wurde oft vergessen in geistesgeschichtlichen Untersuchungen zur Frühen Neuzeit, - hier nicht (VII, 929-950); und auch zu Ungarn und "der Welt der Slaven" gibt es eine Sektion, die nicht einmal klein ausgefallen ist (VIII, 951-1068). Dort geht es von der Rekonstruktion von Akademiebemühungen im Ungarn der Renaissance bis zur Petersburger Akademie der Wissenschaften.

Schließlich folgt der so heterogene deutsche Sprachraum (IX, 069-1698) - mit über sechshundert Seiten bei weitem der umfangreichste Teil. Der Bogen, der hier gespannt wird, reicht vom humanistischen Freundeskreis des Conrad Celtis bis zu Lessing und Wieland. Besonders hier wird deutlich, dass tatsächlich der ‚joachimitische' Anteil an der Sozietätenbewegung nicht zu gering zu veranschlagen ist. So untersucht etwa Wilhelm Kühlmann die Rosenkreuzerbewegung und kann in ihr die Überkreuzungen von Wissenschaft und reformerischer Utopie einer ecclesia spiritualis feststellen. Natürlich darf die ´Fruchtbringende Gesellschaft´ nicht fehlen und auch nicht die Berliner Akademie der Wissenschaften, die von Conrad Grau, Barbara Bauer, Dominique Bourel und Heinz Dieter Kittsteiner aus je anderem Blickwinkel untersucht wird. So verschieden die Autoren (das gilt natürlich für alle Beiträge), so verschieden das Interesse an Sozietätenphänomen, und so unterschiedlich die Ergebnisse. Doch diese Pluralität ist bei einem Band wie diesem, so präzise sein Programm ausgearbeitet und so energisch die Vernetzung der Beiträge angestrebt ist, nicht nur unvermeidlich, sondern auch zu begrüßen.

Der Band schließt mit einem der geographischen Gliederung entzogenen "Ausblick auf die Bildenden Künste" (X, 1699-1804). Man kann nämlich etwa architektonische Eigenheiten und Bedingungen akademischer Zusammenkünfte zum Thema machen, oder die Rolle von Bildern und Statuen in diesen Akademien erwägen. Das kann dann einige erhellende Fußnoten zum bisher Erreichten beisteuern.

Ob der Anspruch der Konzeption in jedem Beitrag eingeholt und verifiziert worden ist, muss hier nicht pauschal entschieden werden. Vielmehr sollte für den Band gelten, was Klaus Garber für die Einschätzung der Sozietäten selbst fordert: dass Anspruch und Ideal selbst signifikant sind, weil sie reale Konsequenzen nach sich ziehen. Das ist auch hier geschehen. Entstanden ist ein beeindruckendes, plurales Kompendium, wie es zu dieser Thematik kein zweites gibt, und das auf einem durchweg hohem wissenschaftlichen Niveau.

Empfohlene Zitierweise:

Martin Mulsow: Rezension von: Klaus Garber / Heinz Wismann (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, Tübingen: Niemeyer 1996, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=86>

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

footer