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Benigna von Krusenstjern / Hans Medick (Hg.): Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 148), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, 625 S., ISBN 3-525-35463-0, DM 98,00

Rezensiert von:
Michael Rohrschneider
Bonn

Der vorliegende Band versammelt die überarbeiteten Beiträgeeiner in Zusammenarbeit mit der Mission Historique Française en Allemagne im November 1997 veranstalteten, international besetzten und interdisziplinär angelegten Tagung des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte sowie vier zusätzliche Aufsätze. Er enthält zahlreiche Abbildungen, Diagramme und Tabellen und bietet mit seinen insgesamt 26 Beiträgen, darunter fünf in deutscher Übersetzung aus dem Schwedischen bzw. Französischen, gerade auch jüngeren Historikern ein Forum, einem breiterem Publikum Ergebnisse aus ihren bereits abgeschlossenen oder noch in Entstehung begriffenen größeren Arbeiten zu präsentieren. Um es vorwegzunehmen: Die Bereitschaft der Herausgeber, auch jüngere Fachkollegen zu Wort kommen zu lassen, wird durch die Ergebnisse dieses Tagungsbandes durchaus gerechtfertigt, da sich deren Beiträge zumeist durch die Erschließung neuer Quellen und Forschungsgegenstände auszeichnen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wäre ein Autorenverzeichnis, das leider fehlt, wünschenswert gewesen.
Die konzeptionellen Probleme vieler umfangreicher Tagungsbände, thematisch, methodisch und chronologisch sehr unterschiedlich angelegte Beiträge sinnvoll zu gruppieren, sind auch in vorliegender Veröffentlichung spürbar; sie finden sich jedoch im großen und ganzen gut gelöst. Ja, es ist sogar das erklärte Ziel, dem Phänomen Dreißigjähriger Krieg, "jener langen Zeit verdichteten Sterbens" (Krusenstjern: Tod und Sterben in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges), durch Berücksichtigung der regionalen Vielfalt und Rückgriff auf unterschiedlichste Quellen und Fragestellungen gerecht zu werden. Und so reicht das Spektrum der in den Beiträgen herangezogenen Quellen von der in den letzten Jahren stark beachteten Gattung der Selbstzeugnisse (Burschel: Tagebuch eines Söldners; Tersch: Selbstzeugnisse aus dem Umkreis des Kaiserhofes; Krusenstjern) über Schadensverzeichnisse (Theibault: Kriegserfahrungen auf Amtsebene) bis hin zu ikonographischen (Wade: Hochzeit und Gipfeltreffen in Kopenhagen 1634; Choné: Kriegsdarstellungen Callots), literarischen (Ernst: Grabinschrift Gryphius' für seine Nichte) und musikalischen (Veit: Musik und Frömmigkeit) Quellen, um nur einige zu nennen.
Das die Tagung strukturierende Erkenntnisinteresse findet sich explizit in der Einleitung formuliert: Es gelte, das spannungsreiche Verhältnis zwischen Alltag und Katastrophe mittels einer Verschränkung mikro- und makro-historischer Perspektiven zu untersuchen, den Großen Krieg gewissermaßen "aus der Nähe" zu betrachten. Nicht ganz zufällig findet sich daher auch der Hinweis darauf, daß der Ausgangspunkt der Tagung die langjährige, letztlich aus primär mikro-historischem Interesse resultierende Beschäftigung mit Selbstzeugnissen aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges war, nicht aber das der Ereignisgeschichte entnommene Datum 1648 (bzw. 1998), das 350. Jubiläum des Westfälischen Friedens.
Im Zentrum vieler Beiträge steht die Frage der Perzeption: Wie wurde dieser "Störfall frühneuzeitlicher Geschichtserfahrung" (Burkhardt) von den unmittelbar Betroffenen - etwa den Überlebenden der Zerstörung Magdeburgs (Medick: Eroberung und Zerstörung Magdeburgs 1631), den Bewohnern des schwedischen Dorfes Andersvattnet (Lindegren: Frauenland und Soldatenleben) oder auch den Einwohnern Augsburgs (Mauer: Kalenderstreit; Gantet: Friedenswahrnehmung 1648) - und von späteren Generationen (Fuchs: Erinnerungszeugnisse von 1726/28) wahrgenommen? Welche Auswirkungen hatte der Krieg auf die zeitgenössischen Wahrnehmungen des Alltags? Welche Überlebensstrategien entwickelte man im Angesicht der Erfahrung der zumindest in bestimmten Regionen schier endlos erscheinenden Folge von Krieg, Zerstörung und Tod? Gab es Reste von Handlungsspielräumen, die zur Schadensbegrenzung ausgenutzt werden konnten (Zeng: Mühlhausen)?
Im Zentrum stehen auch - ausgesprochen oder unausgesprochen (vgl. den Kommentar von Gérald Chaix) - Günther Franz und sein in erster Auflage 1940, zuletzt 1979 erschienenes und immer noch als unverzichtbares Standardwerk geltendes Buch "Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk". Denn in der Tat ist Franz' Darstellung nach wie vor Ausgangspunkt der Erforschung der Folgen des Krieges, obwohl - und dies nochmals aufgezeigt zu haben, ist sicherlich ein Verdienst der Tagung - seine Untersuchung in vielerlei Hinsicht als überholt gelten muß (vgl. z.B. die Beiträge von Landsteiner/Weigl über Niederösterreich und Winnige über Göttingen). Die Notwendigkeit, Franz' Ergebnisse weiter anhand von regionalen Detailuntersuchungen zu korrigieren oder zu bestätigen und sein Standardwerk im Rahmen einer großen Synthese der neuesten Forschung zu ersetzen, wird dem Leser dieses Tagungsbandes überaus deutlich vor Augen geführt.
Dieses Desiderat drängt sich, unabhängig von der Diskussion über die Richtigkeit der Quantifizierungen Franz', gerade auch angesichts des Beitrags von Wolfgang Behringer über Franz' politische Vergangenheit auf. Behringers eindringlichen Ausführungen, die sicherlich starke Beachtung finden werden, gelingt es, eine bloße Zurschaustellung der NS-Vergangenheit dieses deutschen Historikers, der vergleichsweise früh ein Anhänger Hitlers wurde und u.a. in der SA, der SS und im SD tätig war, zu vermeiden und statt dessen der erkenntnisfördernden Frage nach dem Zusammenhang zwischen der politisch-weltanschaulichen Gesinnung Franz' und dem Inhalt und Zweck seiner historischen Arbeiten nachzugehen. Behringers Ergebnisse sind überzeugend. Franz' war ein hochpolitischer Historiker; sein mit vielen Mängeln behaftetes Standardwerk über den Dreißigjährigen Krieg war erkennbar im Hinblick auf den laufenden Krieg, den Zweiten Weltkrieg, konzipiert: War das "deutsche Volk" - so resümiert Behringer die Anschauung Franz' und die intendierte Nutzanwendung besagter Monographie - durch den Dreißigjährigen Krieg zwar stark geschwächt worden, so gelang es ihm trotzdem, diesem historischen Tiefpunkt gestärkt zu entsteigen. "Das verlorene Reich würde unter Führung der NS-Partei wiederhergestellt werden und die deutsche Geschichte ihrer Erfüllung zustreben." (S. 569) Vor diesem Hintergrund gelte es, wie Behringer betont, von der in vielerlei Hinsicht unzulänglichen und zudem mit der klaren Absicht einer politischen Instrumentalisierung geschaffenen Untersuchung Franz' Abschied zu nehmen.
Behringer ist es auch, der in einem weiteren Beitrag die für die zukünftige Erforschung der Frühen Neuzeit nach Ansicht des Rezensenten interessanteste und daher hier etwas näher auszuführende These dieses Tagungsbandes liefert. In seinem Aufsatz über die Bedeutung des Zeitungs- und Nachrichtenwesens während des Dreißigjährigen Krieges plädiert er nachdrücklich dafür, stärker den Einfluß des sich verändernden Kommunikationswesens auf die Wahrnehmung der Menschen zu berücksichtigen. Dem Großen Krieg kam, so Behringer, katalysatorische Bedeutung bei der Entwicklung des - stets pluralistischen - Zeitungswesens zu. Die Etablierung einer periodischen Presse war zweifellos nicht nur im Hinblick darauf bedeutsam, daß die politischen und militärischen Entscheidungsträger des Krieges angesichts der Probleme der Informationsübermittlung und der Schwierigkeiten einer richtigen Gewichtung der eintreffenden Nachrichten auf möglichst schnelle und verläßliche Informationen für die konkrete Gestaltung der Politik und der militärischen Operationen angewiesen waren; folgenreich war sie auch infolge der Tatsache, daß die Regierungen nun meinungsbildende Informations- und Medienpolitik gegenüber einer Öffentlichkeit betrieben, die infolge des veränderten Zeitungs- und Nachrichtenwesens über Möglichkeiten zur differenzierten Informationsgewinnung zu verfügen begann. Zukünftige Forschungen in diesem Bereich werden diesen von Behringer in den Vordergrund gerückten Aspekt sicherlich stärker als traditionell gewichten müssen.
Insgesamt gesehen ist das Bemühen des Tagungsbandes erkennbar, Bekanntes unter neuen Blickwinkeln auf den Prüfstand zu stellen, neue Arbeitsfelder zu öffnen und Zugänge zu bisher in der deutschen Forschung eher vernachlässigten Regionen - augenfällig ist hier die umfangreiche Einbeziehung des schwedischen Großreichs (Lindegren; Villstrand: Nachwirkung des Dreißigjährigen Krieges in Finnland; Jansson: Soldaten und Vergewaltigung) - zu ermöglichen. Dabei erweist es sich als Tenor der Tagung, so resümieren Johannes Burkhardt und Bernd Roeck in ihren Kommentaren, daß die Betonung des Zäsur- und Katastrophencharakters des Krieges unangefochtene Gültigkeit beanspruchen kann. Konsens besteht ferner darin, in methodischer Hinsicht die Erkenntnischancen einer verschränkenden Betrachtungsweise von Mikro- und Makro-Historie herausstellen und somit die Perspektiven eines produktiven Miteinanders in den Vordergrund rücken zu wollen. Auch die Notwendigkeit weiterer regionaler Differenzierungen dürfte nach wie vor außer Frage stehen, liegen doch Welten zwischen den mittel- wie unmittelbaren Kriegsauswirkungen auf die in diesem Band behandelten Beispiele des Kriegsprofiteurs Hamburg (Zunckel) und der 1631 dem Erdboden gleich gemachten Stadt Magdeburg (Medick).
An Forschungsdesideraten aus dem Umfeld des Dreißigjährigen Krieges herrscht kein Mangel, wie die von Roeck aufgezeigten Perspektiven der Forschung nachdrücklich vor Augen führen. Ergänzend zu seinen Ausführungen sei an dieser Stelle allerdings darauf hingewiesen, daß ebenso für den weitgehend ausgeklammerten Bereich der internationalen Politik nach wie vor Forschungsbedarf besteht, nicht zuletzt hinsichtlich der in diesem Band so zentralen Frage der Perzeption: Auch im Hinblick auf die Konturierung der an den politischen und militärischen Entscheidungsprozessen maßgeblich beteiligten Akteuren ist die Untersuchung der Frage nach der Wahrnehmung des Krieges und des jeweiligen Gegners ein lohnendes Forschungsfeld.
Der anzuzeigende Tagungsband schließt mit einem Beitrag von Norbert Winnige über das Projekt eines "Informationssystems Dreißigjähriger Krieg" (IDK), d.h. eines EDV-gestützten Sammelorgans für Informationen jedweder Art über den Krieg und seine Folgen, das per Internet allgemein zugänglich sein soll. Zweifel an der Realisierbarkeit (und Finanzierbarkeit!) dieses löblichen Riesenvorhabens seien hier angemeldet, und man wird gut daran tun, sich im Falle eines Versuchs, dieses Projekt in die Tat umzusetzen, realistische Vorgaben zu setzen.
Abschließend sei der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß die Anregungen dieses Tagungsbandes angemessen rezipiert und die in einigen Beiträgen aufgezeigten Wege neuerer und zukünftiger Forschungen tatsächlich weiterverfolgt bzw. neu beschritten werden.

Empfohlene Zitierweise:

Michael Rohrschneider: Rezension von: Benigna von Krusenstjern / Hans Medick (Hg.): Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=8>

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