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Angela Taeger: Intime Machtverhältnisse. Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden Ancien Régime (= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution; Bd. 31), München: Oldenbourg 1999, VI + 181 S., ISBN 3-486-56423-4, DM 68,00

Rezensiert von:
Gerhard Sälter
Berlin

In jüngster Zeit wiederholt sich die Forderung nach einer produktiven Diskussion Foucaults in der Geschichtswissenschaft. Mit der hier vorliegenden, 1997 als Habilitationsschrift an der Universität Oldenburg angenommenen Studie zur Entwicklung des Strafrechts und der Verfolgungspraxis am Beispiel der Homosexualität liegt eine solche Annäherung vor. Die Autorin versucht am Beispiel des Vorgehens der Pariser Polizei gegen Homosexualität im 18. Jahrhundert zu zeigen, dass die spezifisch französische Tradition des Moral- und Sexualstrafrechts nicht auf der Basis politischer Diskurse entstand, sondern durch eine entsprechende Praxis der Polizei vorbereitet und eingeübt worden ist. Ziel der Studie ist es, makrohistorische Theorien über den Verlauf des Geschichtsprozesses seit dem Spätmittelalter zu überprüfen.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist die verbreitete These einer zunehmenden Unterdrückung und Kanalisierung des Sexuellen in der langfristigen historischen Entwicklung der westlichen Gesellschaften, die sich einfügen in die allgemeine Tendenz einer Übermächtigung im Zuge der Modernisierung. Die auch mit den Mitteln des Strafrechts betriebene Repression, deren Höhepunkt allgemein im 19. Jahrhundert verortet wird, findet beispielsweise ihren Ausdruck in der Normierung von Sittlichkeit und Sexualität im preußischen Strafgesetzbuch von 1851. Allerdings haben solche Normen im französischen Strafrecht keine Entsprechung gefunden, was der These zunehmender Repression zu widersprechen scheint. Im revolutionären Strafgesetz von 1789 und im code pénal von 1810 werden sexuelle Handlungen nur unter Strafe gestellt, insofern sie Rechtsgüter anderer Bürger beeinträchtigen Können. Deshalb hält Taeger das französische Beispiel für geeignet, Foucaults Kritik an der These zunehmender Repression und seinem Vorschlag nachzugehen, die Geschichte der Repression nur als einen Bestandteil der Entstehung "produktiver Machtverhältnisse" aufzufassen. Da ihr theoretischer Ausgangspunkt die unterschiedlichen Modernisierungs-, Disziplinierungs- und Zivilisationstheoreme sind, hätte ich mir in der Einleitung eine eingehende Auseinandersetzung mit diesen Theorien, mit Foucault und dem Stand der Diskussion in der Geschichtswissenschaft gewünscht, die allerdings ausbleibt. Der Leser wird auf eine nicht sehr ausführliche Diskussion im 3. Kapitel verwiesen.

Foucaults Argument stützt sich auf eine andere Lesart der historischen Entwicklung, wobei er, anders als die Repressionstheorie, auf Diskurse rekurriert. Während des 18. Jahrhunderts sei der normative Diskurs über Sexualität, der sich hauptsächlich auf das Thema Ehe bezog, langsam verstummt und sukzessive durch einen Diskurs ersetzt worden, der das Sammeln von Informationen über menschliche Sexualität zum Ziel gehabt habe. Foucault habe diese Veränderung interpretiert als Lockerung der sittlichen Normen zum Zweck der Anhäufung von Wissen über menschliche Sexualität. Diese Deutung soll anhand der normativen Diskurse über männliche Homosexualität im Zeitraum zwischen dem Ende des 17. Jahrhunderts und 1810 überprüft werden. Taeger bezieht sich als Quellengrundlage ausschließlich auf die Textproduktion zentralstaatlicher Institutionen und darunter fast nur auf die der Polizei. Dieses Vorgehen erfährt seine Begründung in der zumindest problematischen Annahme, dass andere Instanzen wie Familie, Community und Kirche bereits im 18. Jahrhundert an Relevanz für die Definition moralischer und sexueller Normen verloren hätten. Eine zentrale Rolle in der Neustrukturierung des normativen Diskurses weist Taeger dagegen der Pariser Polizei zu, die einen "produktiven" Umgang mit Homosexualität im Sinne Foucaults praktizierte.

Einer kurzen Darstellung der in Paris mit der Verfolgung und Bestrafung von Homosexualität befassten Instanzen (Parlement als Obergericht, Châtelet als erste gerichtliche Instanz, Polizei) folgt die Auseinandersetzung mit Homosexualität als Gegenstand des Strafrechts und der Gerichte. Während 'sodomie' im Mittelalter als Verbrechen gegen die göttliche Ordnung und damit als Häresie gewertet wurde, verliert sie während der frühen Neuzeit ihren häretischen Charakter. Gleichzeitig geht ihre Bestrafung von der kirchlichen auf die weltliche Gerichtsbarkeit über und wird in Frankreich spätestens in der Ordonnance criminelle von 1670 als zur Kompetenz der königlichen Justiz gehörend definiert. In Paris befasst sich de facto bald ausschließlich die Polizei damit. Ob mit dieser Zuschreibung gerichtlicher Zuständigkeit automatisch "die traditionell religiöse Verurteilung" einer "rationalen Beurteilung als Verstoß gegen öffentliche Interessen" (23) weicht, würde ich allerdings etwas vorsichtiger beurteilen. In dieser Passage hat sich auch ein sachlicher Fehler eingeschlichen, denn in der Ordonnance criminelle wird 'sodomie' zwar als von den königlichen Gerichten abzuurteilendes Delikt definiert, auf keinen Fall jedoch wird es dort der Kompetenz der Polizei zugewiesen (25/26, 48). Deren Zuständigkeit ist eher das Ergebnis informeller Arrangements. Die einschlägigen juristischen Kommentare des 17. Jahrhunderts sehen noch den Teufel als Urheber homosexueller Handlungen an und bestätigen den Feuertod als einzig mögliche Strafe. Diese Beurteilung macht im 18. Jahrhundert einer Auffassung Platz, die sie als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung interpretieren. Dieser Bedeutungswandel ist nicht Ergebnis einer aufgeklärten Debatte. Die Protagonisten der französischen Aufklärung reagieren, wie Taeger in einem Überblick zeigt, ambivalent auf das Problem. Exemplarisch argumentieren Montesquieu und Beccaria, die Straffreiheit für homosexuelle Handlungen verlangen, sie aber von der öffentlichen Moral geächtet sehen wollen. Die libertine Romanliteratur und vor allem Sade gehen über diesen Standpunkt hinaus, indem ein auf individuelles Glück und privates Vergnügen gerichtetes Handeln legitimiert wird. Andere aufgeklärte Meinungen betonen den Abscheu und einige verlangen Bestrafung. Letztendlich, so Taeger, trägt die Aufklärung wenig zur Inszenierung eines liberalen Diskurses bei. "Ohne maßgebliches Zutun französischer Aufklärer" (44) endet mit der Revolution die lange Kontinuität harter Strafrechtsnormen.

Im Strafgesetz von 1791 und im code pénal von 1810 wird Homosexualität nicht mehr aufgeführt. Die Voraussetzung dieser abrupten Veränderung, die nicht im theoretischen Normendiskurs aufzufinden war, wird aus der Praxis der Polizei im 18. Jahrhundert verständlich. Homosexuelle Handlungen zwischen Männern waren im Paris des 18. Jahrhunderts ein verbreitetes Phänomen, die "Szene" war gut organisiert und umfasste alle sozialen Schichten. Polizei und Gerichte befassten sich mit ihnen. Todesurteile waren im 18. Jahrhundert bereits sehr selten. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts verfügte die Pariser Polizei über eine eigene Abteilung für Homosexualität. Bis ca. 1730 inhaftierte die Polizei zahlreiche Homosexuelle in der Bastille und im Hôpital Général. Nach diesem Zeitpunkt werden Homosexuelle selten an die Gerichte überstellt und gar nicht mehr in der Bastille inhaftiert. Dagegen findet eine intensive Überwachung des öffentlichen Raumes und der bekannten Treffpunkte statt. Verdächtige wurden überwacht, verhaftet, verhört und registriert. Danach wurden sie jedoch fast immer freigelassen. Das Sammeln und Organisieren von Informationen wird somit die wesentliche Tätigkeit der Polizeiinspektoren. Wichtige Informationsquellen sind neben den Aussagen der Verhafteten verdeckte Ermittler und agents provocateurs. Die Überwachung und Informationssammlung wird im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer mehr zu einem integralen Bestandteil polizeilicher Tätigkeit, die Homosexualität verliert in diesem Prozess immer mehr an Brisanz: es wird verfolgt, wenn es die öffentliche Ordnung stört. Ohne dass eine Änderung der strafrechtlichen Normen erfolgt ist, hat sich die Praxis in bezug auf Homosexualität im Alltag der Polizei gewandelt.

Die Bagatellisierung des Delikts Homosexualität geht einher mit dem Aufstieg der Polizei und dem Ausbau ihrer Kompetenzen. Beide Prozesse bedingen einander, da die Polizei durch ihre tatsächliche Zuständigkeit für Homosexualität in Paris Ressourcen akkumulieren kann und aus demselben Grund keine schweren Strafen mehr verhängt werden, die in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden könnten. Die Justiz versucht zwar, ihren Kompetenzbereich durch Angriffe gegen die teilweise illegalen Praktiken der Polizei zu wahren, fördert damit aber nur diese Entwicklung, weil sie die Polizei durch die Angriffe zu verstärkter Professionalisierung zwingt und damit zu ihrer Institutionalisierung beiträgt.

Im dritten Teil wird die mit der Professionalisierung der Polizei eingehende Bagatellisierung der Homosexualität in einen theoretischen Kontext eingeordnet. Als historischen Bezugsrahmen definiert Taeger die Konsolidierung von Herrschaftsstrukturen, die klassisch unter den Stichwort Absolutismus gefasst wurde. Das Konzept der Sozialdisziplinierung, das sie als auf "Neo-Sozialisierung" aller Schichten der Bevölkerung abzielend begreift, könne jedoch, so argumentiert sie, diese Entwicklung nicht erklären. Denn Kirche und Justiz, die nach Gerhard Oestreich wesentliche Instanzen der Regulierung individuellen Verhaltens waren, seien durch die zunehmende Macht der Polizei in Paris vom Zugriff auf Homosexualität ausgeschlossen gewesen und die Praxis der Polizei habe den Anpassungsdruck für Homosexuelle eher vermindert.

Neben das Konzept Oestreichs stellt sie ihre Auffassung von Foucault. Foucault habe argumentiert, dass sich die Technik von Herrschaft im 18. Jahrhundert von einem Konzept des Strafens in ein Konzept produktiven Wissens gewandelt habe. Herrschaft habe zunehmend darauf gezielt, "Leben zu 'bewirtschaften'". (128) Grundlegend für diese neue Form der "Bio-Macht" sei Wissen über Sexualität, das sowohl zur Regulation von Verhalten als auch zur Disziplin der Körper eingesetzt werden kann. Es entstanden Apparate, dieses Wissen zu sammeln und zu organisieren. Als einen solchen Apparat habe Foucault die Polizei begriffen. Dieser Interpretation der Polizei stimmt Taeger zu, jedoch wird, und das widerspräche Foucault, das strafrechtliche Regelwerk erst in der Revolution und nicht im 18. Jahrhundert "suspendiert" und ein vollständiger "Systemwechsel" bleibt aus. Foucaults Ansatz greife also nicht weit genug (134).

Gegen Oestreich und Foucault schlägt Taeger in Anlehnung an Marc Raeffs "wohlgeordneten Polizeistaat" und einschlägige Arbeiten Ernst Hinrichs vor, die von ihr beschriebene Entwicklung als Modernisierung in einer durch Merkantilismus und Kameralismus geprägten Gesellschaft zu begreifen. In ihrer Sicht zwingen der "Niedergang der überkommenen kirchlichen und feudalen Autoritäten" und "rasch expandierende konsumptive Bedürfnisse" die Zentralgewalt seit dem Ende des 17. Jahrhundert, neue Herrschaftstechniken zu generieren. (135) Dies geschieht in Paris in der Einrichtung der Polizei, in der sich eine bürokratische Modernisierung institutionalisiert. Jedoch führt ihre Einrichtung zu Konflikten mit der Justiz, die auszugleichen der Krone wegen eines Legitimitätsverlustes nicht gelingt. Aufgrund der mangelnden Unterstützung durch die Krone kann die Polizei Delikte in den ihr zugewiesenen Bereichen zwar registrieren, sie gelangt aber nicht zu einer wirksamen Regulierung des entsprechenden Verhaltens. So dient ihr die "Dramatisierung von Devianz" hauptsächlich zur Legitimierung ihrer Existenz und zur Akkumulation von Ressourcen. Je mehr Erfolg sie damit hat, desto weniger bedarf sie dieser Dramatisierung und am Ende des Jahrhunderts ist 'sodomie' deshalb zu einem fast belanglosen Gegenstand der Polizei geworden, der als solcher nach der Revolution auch vom Strafrecht behandelt wird.

Obwohl die theoretische Auseinandersetzung nicht so tief geht, wie man es sich wünschen könnte, gelingt Taeger in der Schilderung des praktischen Vorgehens der Pariser Polizei gegenüber Homosexualität als Verwaltungsroutine, die sich eher aus dem Verhältnis zu anderen Institutionen als aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Delikts rechtfertigt, eine überzeugende Darstellung. Der Verweis auf Praktiken von Behörden als Faktoren für die Bildung und Veränderung sozialer Normen und ihre Deutung der sich gegenseitig beeinflussenden Dynamik von Institutionalisierung und öffentlicher Wahrnehmung von Devianz stellen interessante Aspekte dar, welche die Diskussion anregen dürften. Ob andererseits die Behandlung von Homosexualität in Paris eine ausreichende empirische Basis für die Revision umfassender Theorien historischer Entwicklung bildet, scheint mir durchaus zweifelhaft.

Empfohlene Zitierweise:

Gerhard Sälter: Rezension von: Angela Taeger: Intime Machtverhältnisse. Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden Ancien Régime, München: Oldenbourg 1999, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 6, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=77>

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