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Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500-1800, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, 395 S., ISBN 3-525-36240-4, DM 58,00

Rezensiert von:
Joachim Schmiedl
Philosophisch-Theologische Hochschule, Vallendar

Die "Faszinationskraft der Religions- und Frömmigkeitsgeschichte der Frühen Neuzeit" (S. 345) möchte Kaspar von Greyerz, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Basel, einfangen. Der Autor ist für dieses Unterfangen bereits ausgewiesen durch eine Vielzahl von Einzelstudien. Das vorliegende Buch stellt eine Gesamtschau dar und ist in diesem Sinn doppelt bemerkenswert: Einerseits bezieht Greyerz die Pluralität der Konfessionen und konfessionellen Sondergruppen in seine Darstellung mit ein, andererseits beschränkt er sich nicht auf ein einzelnes Land, sondern schlägt einen Querschnitt durch das Westeuropa der Jahrhunderte zwischen 1500 und 1800.

In seinen methodischen Vorüberlegungen stellt Greyerz die neuzeitliche Religiosität zunächst in einen kulturellen und wissenschaftlichen Kontext. Religion sei ein kulturelles Phänomen, in dem auch die "Magie" ihren Platz habe. Religion müsse sich der Herausforderung durch die moderne Wissenschaft stellen, und hierzu zählten auch "Brüche und nicht linear verlaufende Entwicklungen" (S. 41). Mit diesen einleitenden Bemerkungen öffnet der Autor den Horizont für ein breites Verständnis der Frühneuzeit, das er in drei großen Anläufen präsentiert.

"Umbruch und Erneuerung" (S. 43-171) ist der erste Durchgang durch die Jahrhunderte von 1500 bis 1800 überschrieben. In einem den aktuellen Forschungsstand referierenden und gleichzeitig den mikrohistorischen Blick nicht verlierenden Überblick behandelt Greyerz die Reformation und die Gegenreformation. In der Konfessionalisierungsdebatte plädiert er zu Recht für eine weniger etatistische denn vielmehr lokale, ja dörfliche Perspektive. Mit Peter Hersche möchte er mehr die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten zwischen den national-regionalen Katholizismen hervorheben, wie er auch die begrenzte Wirkung der Sozialdisziplinierung und Kirchenzucht betont. Umsichtig setzt sich der Autor mit Implikationen des Konfessionalisierungsparadigmas auseinander, ob mit der Bedeutung der Bildung oder der Delumeau'schen Christianisierungsthese oder soziologischen Modernisierungstheorien.

Erneuerung durch die Reformation bzw. die "zweite Reformation" (Greyerz möchte eher an diesem Begriff festhalten, als ihn durch die "reformierte Konfessionalisierung" zu ersetzen) stand aber bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts in der Gefahr der Erstarrung. Greyerz beschreibt die Versuche, dieser Erstarrung zu entgehen, indem er auf die niederländische "nadere Reformatie" und den Pietismus, den Puritanismus, den Jansenismus und die Bewegungen der Herrnhuter und Methodisten blickt.

Mit dieser Ausweitung des Blickwinkels macht der Autor deutlich, wie sehr ihm an der Vielfalt religiöser Phänomene liegt. Im zweiten Durchgang durch die Frühneuzeit nimmt er folgerichtig die Binnenperspektive in den Blick und behandelt "Integrierte, Ausgestoßene und Auserwählte" (S. 173-284). Religion in der Frühen Neuzeit war ein Gemeinschaftsphänomen. Hier setzt sich Greyerz mit dem Kommunalisierungsmodell Peter Blickles auseinander und weist auf katholische Parallelen hin. Die Akzentuierung der Ehe durch die Reformatoren sieht der Autor parallel zu einer stärkeren Aufmerksamkeit für Sexualität und die soziale Bedeutung von Familie. Volksreligiosität wurde ein "kollektives Ritual" (S. 190), bei dem Wunder- und Magieglauben sowie die Astrologie eine wichtige Rolle spielten. Wer nicht unter diese integrierenden Funktionen von Religion fiel, mußte als ausgestoßen gelten. Das galt für die Juden, die bis in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts marginalisiert wurden. Das zeigte sich in den Hexenverfolgungen, die meist Frauen betrafen, aber in einem sehr viel höheren Maß als allgemein bekannt auch Gegner auf den Plan riefen. Und das zeigte sich in den vom ´Mainstream´ der Religiosität abgesonderten Gruppierungen wie den Täufern, den Baptisten und Quäkern sowie dem radikalen Pietismus.

Ein letzter Durchblick konzentriert sich weitgehend auf das 18. Jahrhundert. Die "Fragmentierung der Religiosität" (S. 285-341) äußerte sich in einer zunehmenden Privatisierung von Frömmigkeit. Durch die Aufklärung wurde die Religion in den Prozeß der Individualisierung einbezogen. An drei Länderbeispielen führt Greyerz diese These vor. In England kam es am Ende des 17. und im 18. Jahrhundert zu einer Trennung zwischen Bildungs- und Volkskultur. Die Déchristianisation in Frankreich zeigt der Autor mit Michel Vovelle und anderen am Rückgang des explizit Religiösen in Publikationen, Testamenten sowie anhand der beginnenden Geburtenkontrolle auf. Auch für die Säkularisierung in Deutschland werden Buchbesitz und religiöse Formeln in Testamenten als Belege herangezogen, freilich immer mit der Einschränkung, wie wenig wir über die Religiosität der unteren Bevölkerungsschichten wirklich wissen. Daß sich an dieser Stelle in der Frühen Neuzeit eine epochale Mentalitätsveränderung vollzogen hat, verdeutlicht Greyerz mit der These, religiöse Prozesse des 15. und 16. Jahrhunderts seien weitgehend von "Externalität", also von einem äußerlich erkennbaren und nachprüfbaren Verhalten, bestimmt gewesen, während die späte Frühe Neuzeit eher Prozesse der "Internalität" kenne. Letzteres diskutiert Greyerz anhand der Max-Weber-These zum Einfluß der calvinistischen Berufsethik auf die Entstehung des kapitalistischen Geistes; für eine gerechte Beurteilung fordert er freilich, daß viel stärker als bisher auch die Entwicklungen im Katholizismus und Webers Bild vom Katholizismus in die kontroversen Debatten mit einbezogen werden müßten.

Kaspar von Greyerz hat ein magistrales Werk geschrieben, das aus der Lehrtätigkeit erwachsen und für das Studium geeignet und empfehlenswert ist. Seine drei Durchgänge durch die frühe Neuzeit Führen ihn in konzentrischen Kreisen von der einen Epochenscheide um 1500 immer näher an die andere um 1800 heran. Er referiert die wichtigen Debatten der Frühneuzeitforschung und bezieht selbst Stellung. Wohltuend ist auch die stilistische Abwechslung zwischen theoretischen Konzepten und der Nagelprobe für diese Theorien in Form mikrohistorischer Belege. Für einen relativ knappen und dennoch profunden Überblick über die Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit ist dieses - wegen der Breite der behandelten Themen zur Zeit wohl einzigartige Werk - in jedem Fall zu empfehlen.

Empfohlene Zitierweise:

Joachim Schmiedl: Rezension von: Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500-1800, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=61>

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