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Ralf-Peter Fuchs: Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht (1525-1805), Paderborn: Schöningh 1999, VIII + 387 S., ISBN 3-506-79600-3, DM 78,00

Rezensiert von:
Francisca Loetz
Universität Heidelberg

Wenn in der Frühen Neuzeit um die Ehre gestritten wurde, ging es bekanntlich um die Wurst. Diesem Umstand widmet sich die Dissertation von Ralf-Peter Fuchs. Sie beruht auf denjenigen Akten des Reichskammergerichts, die im Münsteraner Staatsarchiv überliefert sind - insgesamt 155 Injurienfälle. Die Frage, welche Bedeutung der Ehrbegriff als "konstitutives Element traditionalen Selbstverständnisses" (S. 2) hatte, steht im Zentrum. Fuchs geht es darum, Konfliktaustragung aus der Perspektive "historischer Wahrnehmungs- und Gefühlswelten" (S. 2) zu analysieren. Er stellt sich also die Aufgabe, die gesellschaftlichen Implikationen der frühneuzeitlichen Ehrsemantik zu erfassen. Somit knüpft Fuchs an Problemstellungen an, die für die deutsche Historische Kriminologie derzeit eine besondere Rolle spielen.

Mit seinem Programm verbindet Fuchs zwei zentrale empirische Untersuchungsaspekte. Er geht der Frage nach, inwiefern Ehrempfindlichkeiten gesellschaftlich systemstabilisierend oder konfliktfördernd wirkten. Er untersucht dabei, worin der Sinn der Einschaltung des Reichskammergerichts bestand. Somit wirft Fuchs das Problem auf, welche Funktionen Justiz in der Praxis der Frühen Neuzeit erfüllte. Seine zwei Grundsatzfragen dekliniert Fuchs zum einen an den formalen Aspekten der Injurienvarianten (Beleidigung mit Worten, mit Schmähsymboliken, mit körperlicher Gewalt und mit Schmähschriften) durch. Die gesellschaftlich konstitutiven Faktoren frühneuzeitlicher Ehre zum anderen bestimmt er anhand der standes-, schicht-, gemeinschafts- und geschlechtsspezifischen Kennzeichen von Ehre. Hierzu arbeitet Fuchs die Ehrempfindlichkeiten heraus, die jeweils Adlige, Juristen, gehobenes Stadtbürgertum, Familien, Zünfte und das Dorf als "Vaterland" aufwiesen. Um sein Thema konzeptionell in den Griff zu bekommen, diskutiert er einleitend die Ehrkonzepte von M. Weber, G. Simmel, P. Bourdieu, E. Claverie, R. Walz und M. Dinges. Im empirischen Teil weist er diesen Konzepten allerdings unterschiedliche Gewichtungen zu. An Weber, Simmel und Claverie knüpft er thematisch an, wenn er sich dem Adelsstand, dem Rollenkonflikt zwischen "innerer" und "äußerer" Ehre und dem Ehrverständnis von Familien zuwendet. Konzeptionell konzentriert sich Fuchs hingegen auf das Problem des Bourdieuschen Kapitals und des Dingesschen Ehrspiels in einer Walzschen agonalen Gesellschaft.

Die von Fuchs ausgewerteten Fälle machen nach seinen eigenen Angaben 2,1% des Gesamtbestandes der Münsteraner Reichskammergerichtsakten aus. Bereits diese Zahl verweist darauf, daß das Reichskammergericht für die Zeitgenossen nicht das prädestinierte Organ für Injurienklagen darstellte. Injurien, so betont Fuchs selbst, wurden mehrheitlich auf der Ebene der niederen Gerichte oder außergerichtlich geregelt. Als Instanz, die einen Mindeststreitwert von 50 Gulden für die Eröffnung eines Verfahrens festlegte und die allein reichsunmittelbaren Personen oder Appellanten zugänglich war, spiegelt das Reichskammergericht nur einen kleinen, spezifischen Sektor von Injurienfällen wider. Die Ehre, von der Fuchs spricht, ist nicht nur überwiegend die Ehre höherer Gesellschaftsschichten. Sie ist auch die Ehre von Konfliktparteien, die in die Appellation gegangen waren und aus instanzenrechtlichen Gründen vorwiegend den Fürstbistümern Münster und Paderborn entstammten. Weiterhin gibt Fuchs zu bedenken, daß das Reichskammergericht aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Aufgaben eher zivilrechtliche als strafrechtliche Verfahren behandelte. Die gefällten Urteile sind vielfach nicht überliefert.

Die Grenzen seines relativ "konventionellen" Quellenbestands verliert Fuchs nicht aus den Augen. Er benennt sie eindeutig und weist im Laufe seiner Argumentation wiederholt auf sie hin. Doch unterstreicht er zurecht die Vorteile seines Materials: Es erlaubt ihm, den Ehrbegriff stände-und schichtenübergreifend zu betrachten. Darüber hinaus lassen die Argumentationen der Betroffenen deren Wertvorstellungen von Ehre erkennen. Der besondere Vorzug des Korpus schließlich besteht darin, daß Fuchs über den Stoff für eine Langzeitstudie verfügt.

Um die Entwicklung des Prozeßaufkommens, die Verteilung der Sachverhalte und die Muster der sozialen Konstellationen zu beurteilen, wertet Fuchs seine Akten quantitativ aus. Alle weiteren Fragen beantwortet er auf der Grundlage dicht beschriebener, möglichst mikrohistorischer Fallstudien. Er entscheidet sich somit für ein methodisches Vorgehen, das mittlerweile zwar an Originalität verloren, aber seine Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat.

Fuchs gelangt mit seiner vorrangig qualitativ orientierten Untersuchung zu soliden und differenzierten empirischen Ergebnissen. Sie lassen sich in vier Haupthesen formulieren. Erstens: Im Rechtssystem des Reiches standen kontroverse Entwicklungstendenzen einander gegenüber. Einer "modernisierenden" Richtung folgten die Juristen; sie suchten eine konsistente Injurienlehre zu entwickeln. Das Reichskammergericht stand ebenso für Veränderung; es suchte ein zentralisiertes, vereinheitlichtes Rechtssystem zu stärken. Demgegenüber behinderten traditionale lokale und regionale Institutionen und Rechtsvorstellungen die Verrechtlichung der Injurie. Zweitens: Bei Injurienkonflikten ging es weniger "um direkte soziale Rangkämpfe und um symbolisches Kapital als um eine generelle Zurschaustellung der Fähigkeit, sich zu verteidigen" (S. 191). Affekt und sozialer Sinn sind nicht "per se als sich gegenseitig ausschließende Handlungsgrundlagen zu betrachten, sondern für viele dieser Auseinandersetzungen komplementär zu setzen" (S. 326). Frühneuzeitliche Gewalt als Kennzeichen einer ungenügend zivilisierten Gesellschaft zu verstehen, ist ebenso unzutreffend wie die Annahme, die Akteure hätten allein aus Interesse an der Mehrung des eigenen Kapitals bzw. unter dem allgegenwärtigen Zwang zur Wahrung des eigenen Sozialprestiges gehandelt. Heiratsangelegenheiten ausgenommen, eigneten sich Ehrkonflikte nicht dazu, das eigene ökonomische oder symbolische Kapital zu mehren. Ebensowenig standen die Akteure lediglich unter dem Zwang einer sozialen Logik. Vielmehr wußten die Betroffenen bestehende Handlungsfreiräume zu nutzen, um von innen heraus aus verletztem Individualstolz und zugleich nach außen hin für die Interessen ihres sozialen Bezugssystems (Ehe, Familie, Zunft, Juristenstand, Dorf) zu reagieren. Drittens: In Bezug auf Ehre koexistierten gegensätzliche Grundeinstellungen. Trotz des gesellschaftlichen Ideals der Friedfertigkeit herrschte stetige Gewaltbereitschaft. Obwohl die Ständeordnung den Vorrang des Adels vorsah, orientierte sich das Reichskammergericht in seinen Urteilen stark an dem Prinzip der Gleichheit. Adlige Ehre genoß keinen prinzipiellen Vorrang vor der Ehre der Untertanen. "Die gerichtlichen Entscheidungen folgten in erster Linie dem obrigkeitlichen Bedürfnis nach innergesellschaftlicher Befriedung" (S. 228). Viertens: Die Stellung des Reichskammergerichts war ambivalent. In den Händen der Obrigkeit und der Kläger konnte es zum Druckmittel bzw. Repressionsinstrument werden. Es diente Verurteilten aber gleichfalls dazu, gegen Urteile niedriger Instanzen Einspruch einzulegen oder sich gegen persönliche Kontrahenten zur Wehr zu setzen. Aus Sicht der Obrigkeit konnte der zeitliche und finanzielle Aufwand eines Verfahrens den Vorteil haben, daß sich die gegnerischen Parteien anderweitig einigten. In diesem Falle bewirkte Justiz, daß sich für die Obrigkeit Konflikte von "alleine" lösten. Justiz wurde also nicht nur von der Obrigkeit geübt, sondern ließ sich auch nutzen.

Die Orientierung in den Ausführungen von Fuchs fällt leicht. Eilige Leser werden für die Einführungen in den jeweils relevanten Forschungsstand zu Anfang eines jeden Kapitels dankbar sein. Weiterhin kommen sprachlich oder optisch abgesetzte Zwischenbilanzen solchen Lesern entgegen. Trotz dieser gelungenen "Rezeptionshilfen" sollte man die Argumentation selbst nicht überschlagen. Schließlich liefern die insgesamt flüssig erzählten Fallbeschreibungen die Grundlagen für die Thesen von Fuchs. Das Verständnis erleichtert ein Glossar über die wesentliche Rechtsterminologie. Ein Sachregister hätte allerdings bessere Dienste leisten können als das Orts- und Personenregister. Schade ist, daß die Bibliographie nicht zwischen gedruckten Quellen und Sekundärliteratur trennt. Hier ist die Orientierung etwas mühsam.

Fuchs vermag - und wer kann das schon ? - nicht in allen Punkten zu überzeugen. Er hebt in seiner Quellendiskussion auf die Kunst des gerichtsrelevanten Erzählens in Justizakten ab. Leider begnügt er sich dabei mit rein textinternen Überlegungen (Frage der Autorenschaft oder der Argumentationsstrategien etwa). Das Stichwort von der Fiktion in den Archiven fällt, auf eine explizite konzeptionelle Stellungnahme zu Problemen des linguistic turns wartet man jedoch vergebens. Ebensowenig zu erfahren ist darüber, welche Konsequenzen die Gattungsunterschiede in den herangezogenen Textsorten für die Quelleninterpretation haben. Wenn Fuchs brav Weber, Simmel und Clavier nach ihren Ehrkonzepten befragt, ohne sie in seiner empirischen Argumentation explizit zu diskutieren, erinnert sein Rückgriff eher an eine thematische als an eine konzeptionelle Anleihe. Die Kritik, die Fuchs an dem Bourdieuschen Kapitalbegriff und dem Dingesschen Ehrspiel übt, wäre stärker, würden nicht nur empirische Gegenargumente dargestellt, sondern auch konzeptionelle Alternativen entwickelt. Neben diesen Hinweisen auf einige methodische Schwächen seien auch Einwände inhaltlicher Art erlaubt. Läuft Bourdieus Konzept des Formen des Kapitals wirklich allein auf den Aspekt der Akkumulation hinaus? Ist die Dingessche Konzeption vom Ehrspiel tatsächlich so mechanistisch zu verstehen? Geben die Akten zum politischen Aspekt des Obrigkeit-Untertanen-Verhältnisses nicht mehr her oder hätte man da weiter bohren können?

Die Arbeit von Fuchs hat zweifellos große Stärken. Liegen für Frankreich oder Großbritannien bereits einige Monographien zur Problematik der Ehre vor, gehört Fuchs für Deutschland zu den empirischen "Vorreitern", die sich des Themas in aller Ausführlichkeit annehmen. Fuchs gelingt es dabei, die "subjektiven" Wertaussagen der Beteiligten zu verfolgen, so daß ein anschauliches und dabei differenziertes Bild frühneuzeitlicher Justiz entsteht. Die feinen Nuancierungen, mit denen er dieses Bild zeichnet, sind für derzeitige Kontroversen in der Historischen Kriminologie zentral. Statt an vermeintlich befriedigenden Modellen wie der Humanisierung des Rechts, der Zivilisierung der Sitten oder der Justiz als Repressionsapparat festzuhalten, führt er die Komplexität des frühneuzeitlichen Ehrbegriffs vor. Seine abwägenden Ausführungen zur Gemengelage individueller wie sozialer Ehre oder zum ambivalenten Charakter von Justiz fordern empirisch wie auch methodisch heraus. Die Betonung der Handlungsspielräume, die den Konfliktparteien zur Verfügung standen, verdeutlicht, daß die bisherigen Vorstellungen von der "Logik" in den Verhaltensmustern frühneuzeitlicher Menschen noch zu mechanistisch sind. Seine Ergebnisse verdeutlichen, daß vorhandene Interpretationsmodelle weiterzuentwickeln bleiben, die frühneuzeitliche Ehre in ihren paradoxen Zügen besser beschreiben können. Außerdem ist die Debatte zu den konzeptionellen Konsequenzen der "fiction in the archives" wohl noch nicht abgeschlossen. Wenn Fuchs betont, wie wichtig die außergerichtliche Regelung von Injurienprozessen war, so steht zu hoffen, daß die Historische Kriminologie diesen Hinweis konsequent verfolgen wird. Ebenso macht die Untersuchung von Fuchs deutlich, daß es fruchtbar ist, Delikte wie die Ehrbeleidung nicht nur aus strafrechtlicher, sondern auch aus zivilrechtlicher Perspektive zu betrachten. Die Bemerkungen von Fuchs zur Nutzung von Justiz schließlich zeigen, daß es sich lohnt, den Griff nach den "Waffen der Justiz" genauer zu untersuchen. Fuchs regt zu weiterführenden Überlegungen an - und das ist nicht wenig.

Empfohlene Zitierweise:

Francisca Loetz: Rezension von: Ralf-Peter Fuchs: Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht (1525-1805), Paderborn: Schöningh 1999, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=5>

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