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Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806, München: C.H. Beck 1999, 459 S., ISBN 3-406-45335-X, DM 78,00

Rezensiert von:
Wolfgang Burgdorf
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München

"Im Ergebnis einte der [Dreißigjährige, W. B.] Krieg die deutsche Nation zwischen Alpen und Meer in einem gemeinsamen System komplementärer Staatlichkeit" (S. 176). Mit dieser Interpretation des Zentralereignisses der frühneuzeitlichen deutschen Geschichte überhaupt schließt Georg Schmidt sich der im späten 17. und im 18. Jahrhundert herrschenden Auffassung der Reichspublizistik an, wenngleich diese weniger dem Krieg als dessen Folge, dem Westfälischen Frieden, diese Funktion zusprach. Schmidt vollzieht somit eine radikale Umwertung. Waren sich doch die borussischen, südwestdeutschen, aber auch österreichischen Historiker des 19. Jahrhunderts unter unterschiedlichen Vorzeichen einig, dass 1648 einen Tiefpunkt der deutschen Geschichte darstelle, den Anfang vom Ende des Reiches. Diese Ansicht läßt sich erklären, standen doch all diese Historiker im Dienste von Staaten, welche durch den Erwerb ihrer Souveränität vom Untergang des Alten Reiches profitiert hatten. Zu Recht weist der Verfasser darauf hin, dass das Grundgesetz von 1648 "die deutsche Staatlichkeit weit länger als alle nachfolgenden Verfassungsordnungen geprägt hat" (S. 191).

Georg Schmidt versucht die deutsche Geschichte von 1495 bis 1806 auf 356 Textseiten darzustellen. Für jedes der 311 Jahre bleibt somit wenig mehr Raum als eine Seite. Ein kühnes Unternehmen auch im Vergleich zur monumentalen Trilogie Karl Otmar von Aretins, der in drei Bänden lediglich die Zeit von 1648 bis 1806 behandelt. Beide Darstellungen zusammen ergeben eine komplementäre Reichsgeschichte. Während von Aretin vom späten 18. Jahrhundert, vom Reich mit seinen entwickelten Institutionen, auf die vorrangehenden Epochen der Reichsgeschichte blickt, schaut Schmidt von der relativ offenen Verfassungssituation des frühen 16. Jahrhunderts auf die folgende Zeit. Während von Aretin die Tages- und Bildpublizistik weitgehend ausspart, benutzt Schmidt sie intensiv, was seiner Darstellung einen ganz eigenen Charme verleiht, während die Ereignisgeschichte bei ihm zuweilen in den Hintergrund tritt, ja einzelne Stränge ganz verschwinden.

Das Buch von Georg Schmidt enthält eine Fülle interessanter Aspekte, vieles davon wird die Diskussion anregen. Die Gliederung ist im wesentlichen chronologisch, wobei immer wieder auch systematischen Betrachtungen zum Beispiel über die Entwicklung des Freiheitsbegriffes, die Entwicklung von Recht und Herrschaft, Selbstverwaltung und Partizipation, Raum gegeben wird. Ausgehend von der antiken Tradition und der deutschen Realität nennt Georg Schmidt zunächst vier unterschiedliche Reichsvorstellungen, welche an die Begriffsbildung von Peter Moraw erinnern: 1. das abendländisch-universal gedachte Reich, die verfaßte Christenheit, 2. den auf den Kaiserhof ausgerichteten Reichslehnsverband, der über Deutschland hinaus weite Teile Europas umfasste, 3. das auf die deutschen Stände und Lande konzentrierte Reich, welches im Regelfall heute mit dem Begriff "Altes Reich" oder "Reich" gemeint ist, und 4. das auf die kleinteiligen Gebiete in Schwaben, Franken und am Rhein konzentrierte Kernreich, welches gemeint war, wenn es in Kurbrandenburg, -sachsen oder Österreich hieß, man begebe sich ins Reich (S. 10).

Schmidt schließt mit seiner eigenen Begriffsbildung an die dritte Reichsvorstellung an. Das zweite Kapitel ist ganz dem Verhältnis von "komplementärem Reichs-Staat" und deutscher Nation gewidmet. Die wechselseitige Bezogenheit von Reichskonstitution und Nation sieht Schmidt erstmals in den Beschlüssen des Wormser Reichstags von 1495 und dem Ausbau der Reichskreisverfassung bis 1512, dem Höhepunkt der spätmittelalterlichen Reichsreformbemühungen, konkretisiert.

Wenngleich der Verfasser konzediert, dass der Fürstenstaat der Gewinner des 16. Jahrhunderts war, so betont er doch, dass "die Niederlage der Bauern zur Modernisierung der Reichsverfassung und zum Ausbau der komplementären Staatlichkeit" des Gesamtsystems beitrug (S. 72). Hierbei ist neben den innerterritorialen Regelungen insbesondere an den Untertanenschutz der obersten Reichsgerichte zu denken. Neben der Notwendigkeit, einen Umgang mit der konfessionellen Spaltung zu finden, führte die Regelung der Kompetenzen der in der Reichsreformperiode neu geschaffenen Institutionen und die Türkenabwehr zum Ausbau der komplementären Staatlichkeit. "Die Reichstage der vierziger Jahre sahen daher mit der Beteiligung der kaiserlichen Klientel aus dem Nordwesten und den niederdeutschen Bundesständen eine erste raumgreifende Ausdehnung des Reichs-Staates auf Niederdeutschland". Schmidts Schlussfolgerung, "der Schmalkaldische Bund hat merklich zum Zusammenwachsen der beiden Reichsteile beigetragen" (S. 87), wird wohl noch diskutiert werden. Zwar liefert der Autor schlüssige Argumente dafür, "die Reformationszeit nicht nur als Trennung, sondern auch als Phase eines beschleunigten politischen Zusammenwachsens" zu charakterisieren (S. 92), doch ist zu fragen, ob letzteres ohne die konfessionelle Spaltung, unter dem Druck der Türkenabwehr, nicht in weniger retardierenden Bahnen erfolgt wäre? Trotz der Sprengkraft des Konfessionellen profitierte der Reichs-Staat nach Schmidt von der Bindekraft der Konfessionen. "Die von den Bekenntnissen ausgehende Mobilisierung brachte neue, regionenübergreifende Verklammerungen" (S. 133). Die konfessionelle Feindschaft vermochte die gemeinsame politisch-staatliche Tradition nicht zu überlagern. Sie beruhte auf der breiten Akzeptanz der Reichsverfassung und des öffentlichen Rechts, einer "spezifisch deutschen Disziplin". Die Lehrfreiheit über das Reichsstaatsrecht, dieser teilweise hoffnungsbeladene Diskurs, war eine deutsche Besonderheit. "Es gelang, das Reich als eine auf Deutschland bezogene Handlungseinheit im politischen Diskurs zu verankern", wenngleich die Einzelheiten umstritten blieben (S. 136). Die über die zunehmend verrechtlichte Konfliktkultur erfahrene Wirklichkeit von Kaiser und Reich wirkte als Korrektiv territorialer Herrschaft. Untertanenprozesse wurden "für Fürsten oder Grafen zum Schnellkurs in Sachen komplementärer Staatlichkeit", während die relativ guten Rechtspositionen der Untertanen, insbesondere hinsichtlich der Sicherung des Eigentums dazu führten, dass eine verbreitete "Kleineigentümermentalität" die politische Risikobereitschaft der Untertanen dämpfte (S. 243). Damit hat Georg Schmidt einen Grund genannt, warum es in Deutschland nicht wie in Frankreich zu einer Revolution kam. Jenes noch heute in der "Neuen Bundesrepublik" zu beobachtende Phänomen, dass der Rechtsweg als Politikersatz genutzt wird, ist somit tief in der frühneuzeitlichen deutschen Geschichte verankert. In diesem Zusammenhang betont Schmidt, "die Gesellschaft Alteuropas war ständisch, aber nicht statisch" (S. 237) und zeichnet die Entwicklung der Vorstellung von einer "angeborenen deutschen Freiheit" nach (S. 241).

Das besondere Interesse des Autors gilt dem frühneuzeitlichen deutschen Nationalbewußtsein. Er zeigt, wie unmittelbar nach der Reformation gerade die Protestanten in einem bislang nicht gekannten Ausmaß die nationale Rhetorik pflegten. Dies kann nicht nur als Äußerung eines sich entwickelnden Nationalgefühls gedeutet werden, da eine Motivation dieser Publizistik auch kompensatorischer Art war. Sie sollte kompensieren, dass es die Protestanten waren, die den religiösen Konsens aufgekündigt hatten und sich sehr bald gegen die katholische Mehrheit der Deutschen und die katholische Spitze des Reiches stellten, sich sogar mit den französischen "Erbfeind" verbündet hatten (1532 und 1552). Dies kostete das Reich Metz, Toul, Verdun und Cambrai, was schon damals den Vorwurf des Reichsverrats hervorrief (S. 80 und 90).

Georg Schmidt zeigt, wie bereits im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges die Liebe zum Vaterland in der Publizistik der konfessionellen Solidarität übergeordnet wurde. Die Nation wurde zum "Letztwert" (Langewiesche) wenn es galt, Deutschland gegenüber fremden Truppen und vom Ausland gesteuerten Kräften zu verteidigen. Der Begriff des "Patrioten" erlebte um 1620 eine erste Konjunktur, und auch das Konzept der "Deutschen Freiheit" wurde erstmals nicht nur auf die Ständenation, sondern auf alle "Reichsbürger" angewandt. Nun entstand auch die Vorstellung, dass die Räson des Reiches in der Erhaltung seiner Verfassung bestand (S. 158f. u. 176). Aber 1630/31 und noch einmal 1635 wurde die Chance des Friedens "leichtfertig verspielt", da der Kaiser weder auf das Restitutionsedikt von 1629 noch auf den Ausschluß der Calvinisten verzichten wollte (S. 162). Durch den Verzicht auf eine Generalamnestie blieben zu viele Stände vom Frieden ausgeschlossen. Andererseits war auch der Vorschlag Landgraf Wilhelms von Hessen-Kassel, dem König von Frankreich zur Niederringung des Hauses Habsburg die Krone des Reiches anzubieten, selbst unter den calvinistischen Ständen nicht mehrheitsfähig (S. 166). Dem Urteil des Verfassers, dass, wenn die 1635 geschaffene vereinigte Reichsarmada erfolgreich gewesen wäre, der Prager Frieden "weit oben in der Vorgeschichte des deutschen Nationalstaats" stünde (S. 170), ist beizupflichten. Sehr interessant sind die Ausführungen, die der Autor zu frühen Konzeptionen eines "Dritten Deutschland" während des Dreißigjährigen Krieges macht (S. 230), wenngleich das Thema mit dem Übergang von der "Alten Bundesrepublik" zur "Berliner Republik" an Aktualität verloren zu haben scheint.

Die drei Schlesischen Kriege werden als deutsche "Bruderkriege" dargestellt. Die Hoffnungen von Aufklärern und Patrioten auf das Reich oder auch der konkurrierende Entwurf einer "preußischen Nation" werden thematisiert. Die Vereinigung der großen wittelsbachischen Territorien Pfalz und Bayern 1777 hatte für Karl Theodor die unangenehme Folge, dass er seine geliebte Mannheimer Residenz aufgeben, und gemäß den Familienverträgen von dem damals glanzlosen, provinziellen München aus regieren mußte. Gerne hätte er das ungeliebte Bayern gegen ein belgisches Königreich eingetauscht, was jedoch am Geiz Kaiser Josephs II., den bayerischen Landständen und am von Preußen geführten Fürstenbund scheiterte.

Der Fürstenbund von 1785, selbst eine Folge der Verfassungskrise des Reiches und des Dualismus der deutschen Großmächte, wurde, nach der im Anschluß an den Siebenjährigen Krieg geführten Nationalgeistdebatte, für die Deutschen der letzte große Anlaß, ihre politische Verfassung zu überdenken, bevor die Französische Revolution das gesamte politische Denken auf eine neue Grundlage stellte. In der Diskussion um den deutschen Fürstenbund wurde alles, was seit 1648 auf der politischen Agenda stand, unterschiedliche Nations-, Freiheits- und Staatskonzeptionen, noch einmal im Pathos von Patriotismus und Aufklärung verhandelt.

Gegen Habermas und Gestrich gewendet, betont Georg Schmidt, dass die politische Öffentlichkeit keine "Erfindung" der Aufklärung (S. 144) war. Gerichtliche Auseinandersetzungen, ebenso wie Türken- und Franzosenabwehr und fast jede "Staatsaktion" in der Frühen Neuzeit, erfuhren eine publizistische Begleitung. Durch die intensive Heranziehung der zeitgenössischen Publizistik und Lyrik gibt Schmidt seiner Darstellung ein ganz eigenes Kolorit. Die Auswahl dieser Quellen erfolgte jedoch selektiv, unter den Gesichtspunkten Nation, Vaterland und Freiheit. Dies führt zu Verzerrungen, da weder das thematische Spektrum der jeweiligen zeitgenössischen Publizistik vorgestellt, noch die Auswahl gewichtet wird.

Die Funktion der vielen Quellenzitate ist vorrangig illustrativ. Abgesehen von der gelegentlichen Erwähnung des konfessionellen Bezuges bleibt die zeitgenössische Text- und Bildpublizistik bei Schmidt losgelöst von den konkurrierenden territorialpolitischen Interessen und den Antagonismen innerhalb der Reichsfürstenhierarchie. Die Herkunft und die zeitgenössische Instrumentalisierung dieser Quellen wird nicht weiter thematisiert. Genau dies wäre aber wichtig, denn dieses Schriftgut entstand in der Regel auf Veranlassung bestimmter Obrigkeiten und sollte auf dem Umweg über die öffentliche Meinung, häufig aber auch durch einen direkten Appell, die Politik der anderen Reichsstände beeinflussen. Diese Quellen sind in ihrer Mehrzahl Teil eines intergouvernementalen Diskurses. Die große Zahl der Reichsstände und ihre unterschiedlichen Interessen führten zu einer enormen Dynamik ihres öffentlichen Diskurses, die auch regierungsunabhängige Publizisten in ihren Sog zog und den Arkananspruch der frühneuzeitlichen Politik unterminierte. Das sich ständig erweiternde Spektrum der veröffentlichten Meinung ließ sich letztlich nicht mehr reglementieren. Dies wiederum bot ideale Voraussetzungen für die Emanzipation von Schichten, die bislang nicht über die Möglichkeit zur politischen Partizipation verfügten. Die seit dem 17. Jahrhundert an der Politik bestimmter Obrigkeiten im Reich, der Reichsverfassung und an den Reichsinstitutionen geübte Kritik brachte so neue Institutionen hervor, nämlich die Wissenschaft der Reichsstaatsrechtslehre und die politische Öffentlichkeit. Im steten Wechsel zwischen Positivismus und Polemik, Realität und Ideal, Beharrung und Bewegung produzierten die Publizisten ein unerschöpfliches Reservoir an kurz- bis langfristigen politischen Zielprojektionen, einen kaum zu überbietenden Ideenfundus für die Politik in Deutschland. Dennoch unterließen es die politisch Handelnden zu keiner Zeit, diesen Vorrat weiter zu vermehren oder vermehren zu lassen. Etwas zu teleologisch wird der Untergang des Alten Reiches dargestellt. Es geht völlig unter, dass das Schicksal des Reiches, selbst die Durchsetzung einer anderen, eher zentralistischen Reichskonzeption nach 1795 wesentlich vom Erfolg und Mißerfolg der österreichischen Waffen abhingen. Die französischen Erfolge beruhten nicht nur auf der Überlegenheit eines neuen Systems, sondern auch auf den Mängeln der gegnerischen Seite. Selbst Napoleons Feldherrenruhm litt, wenn Erzherzog Karl ihm mit hinreichenden Mittel und Kompetenzen entgegentrat, was jedoch sein eifersüchtiger Bruder, der letzte Kaiser des Reiches, immer wieder verhinderte. Manche Formulierungen Schmidts versetzen den Leser hier unweigerlich in anhaltende Nachdenklichkeit: "1803 erfolgte ein tiefgreifender Umbau des nicht mehr existenten Reichs-Staats" (S. 340). Der Hintergrund dieser Formulierung ist, dass Schmidt das Ende des Reiches mit der infolge des Friedens von Basel 1795 vollzogenen Spaltung des Reiches gekommen sieht. Bereits der Siebenjährige Krieg trug nach Schmidt "Züge eines Sezessionskrieges" (S. 264).

Man mag an dieser Einführung in die Reichsgeschichte seit 1495 vieles vermissen: der über das Ende des Reiches hinausgehende Kampf um die Ryswiker Klausel von 1697 wird kaum gestreift, die Germania Sacra und das Reichskirchensystem sowie anderes kommen nicht vor, dennoch wurde hier auf wenig Raum beeindruckend vieles dargestellt. Mit seinem aus einem Quellenbegriff des 17. und 18. Jahrhunderts, nämlich "Reichs-Staat", und einem analytisch-deskriptiven Teil zusammengefügten Begriff "komplementärer Reichs-Staat" hat Schmidt der Forschung zudem ein tragfähiges Konzept gegeben. Dieses ist wesentlich konkreter als der früher zuweilen herangezogene Systembegriff. Der mit dieser Begriffsbildung verbundene Anspruch, das Reich als frühneuzeitlichen Staat der deutschen Nation darzustellen, wird sicherlich in Teilen der Zunft Widerspruch finden, vom Rezensenten jedoch voll und ganz geteilt. Es ehrt Georg Schmidt zudem, dass er seine Darstellung auch für eine Hommage an seinen früh verstorbenen Lehrer Volker Press genutzt hat (S. 41), dem es nicht vergönnt war, eine vergleichbare Synthese vorzulegen.

Empfohlene Zitierweise:

Wolfgang Burgdorf: Rezension von: Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806, München: C.H. Beck 1999, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 3, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=38>

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