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Thomas Nutz: Strafanstalt als Besserungsmaschine. Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft 1775-1848 (= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution; Bd. 33), München: Oldenbourg 2001, 435 S., ISBN 3-486-56578-8, € 49,80

Rezensiert von:
Petra Recklies-Dahlmann
Swisttal

Thomas Nutz bietet in seiner Studie eine äußerst verdienstvolle Zusammenfassung der Wissenschaftsgeschichte der Gefängniskunde. Er beginnt mit einem knappen Überblick über die Forschungslage, wobei neben dem deutschen der anglo- amerikanische Bereich im Vordergrund steht, doch auch die Debatte um Foucault nicht fehlt. Die Darstellung macht außerdem klar, dass trotz einzelner Detailstudien aus neuerer Zeit unter anderem zu Deportationen, zur Strafpraxis in einzelnen Staaten oder zum Strafvollzug bei Jugendlichen, die vor allem in Frankreich und in den Vereinigten Staaten erschienen sind, deutliche Forschungsdesiderate hinsichtlich Vollzugspraxis, Konstruktion und Einrichtung der Strafanstalten vor allem in Deutschland bestehen. Des weiteren fehlen bis heute detaillierte Studien hinsichtlich des Wissenstransfers zwischen europäischen und nordamerikanischen Staaten.

Ziel des Verfassers ist es, "die Formierung eines Diskurses über die Reform der Haftanstalten und des neuen Wissensgebietes der Gefängniskunde" sowie den "Prozeß der Erfindung der neuen, im wesentlichen pädagogisch-therapeutischen Strafanstalt von 1770 bis ca. 1850" zu untersuchen (10f.). Er will allerdings nicht die "Realität" in den Haftanstalten näher betrachten, sondern die Entwicklung der Praktiken des Denkens und Sprechens über den Vollzug der Haftstrafen. Seine Untersuchungsgegenstände sind der "Diskurs über die Reform der Gefängnisse im deutschen Sprachraum als soziale Praxis des Sprechens über die Konzeption der Strafhaft" (11) und die Entwicklung des disziplinspezifischen Fachwissens im internationalen Rahmen. Einen dritten Bereich bildet die Beschreibung der Entwicklung konkreter Reformen im Gefängniswesen anhand des Beispiels Preußen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen aber auf der theoretischen Ebene, auch die konkreten Reformen, auf die er in Form von zwei Exkursen eingeht, beschränken sich auf Entwicklungen und Diskussionen auf der Stufe der Ministerialbürokratie. Sein Interesse gilt nicht der Strafpraxis, wobei zu berücksichtigen ist, dass Vorarbeiten zu diesem Themenkomplex weitgehend fehlen.

Grundlage der Forschung Nutz' sind im wesentlichen gedruckte deutschsprachige Text über die Organisation des Gefängniswesens, die auf Grund des regen internationalen Austausches durch wichtige englisch- und französischsprachige Texte ergänzt werden. Die archivalischen Quellen stammen hauptsächlich aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin.

Das Buch gliedert sich in drei Teile: Zunächst beschreibt Nutz die Formierung eines spezifischen Gefängnisreformdiskurses am Ende des 18. Jahrhunderts und die Entwicklung eines gefängniskundlichen Fachwissens. Hier weist er auf die Wegbereiter der Reform, vor allem John Howard, hin und schildert die "Erfindung" der Strafanstalt zwischen den Jahren 1770 und 1850, mit der die Abkehr von der öffentlichen Strafe einherging und sich eine neue Form der Bestrafung innerhalb von Strafanstalten herausbildete. In diesen Zusammenhang gehört auch die Theoriebildung über die Strafanstalt als Besserungsmaschine und der aufklärerische Glaube an die grundsätzliche Möglichkeit, die Delinquenten wieder aufzurichten und zu bessern. Voraussetzungen dafür wurden nicht nur im baulichen Bereich der Gefängnisse überprüft und langfristig diskutiert, wozu vor allem Fragen nach dem Standort, Ventilationssystemen und Sanitärtechniken gehörten. Dazu kam auch der Bereich der Gesunderhaltung der Einsitzenden und deren Besserung, wozu etwa Bewegung, Arbeit, Bildung und Religion gehörten.

Ein anderer Teil widmet sich der systematischen Analyse der diskursiven Formation der wissenschaftlich ambitionierten Disziplin der Gefängniskunde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hier beschreibt der Verfasser vor allem die charakteristischen Teilnehmertypen, zu denen Wissenschaftler, Praktiker des Strafvollzugs, Juristen, aber auch Architekten gehörten. Außerdem werden die institutionellen Orte, an denen die Diskussion stattfand, dazu gehören etwa verschiedene Vereine, Gefängniskongresse, aber auch die staatliche bürokratische Ebene, untersucht. Informationen über diese Diskussionen sind in unterschiedlichen Quellen überliefert, wozu Abhandlungen, Reiseberichte, Fachzeitschriften, Korrespondenzen und auch Handbücher gehören.

Ein weiteres Unterkapitel widmet Nutz dem langwierigen Streit der Vertreter der unterschiedlichen Haftformen, den "Pennsylvanisten", die eine strenge Einzelhaft für das einzig wahre Mittel hielten, sowie den "Auburnisten", die für eine Mischform plädierten, bei der die Gefangenen tagsüber schweigend gemeinsam ihre Arbeit verrichteten, nachts aber allein in Zellen untergebracht waren. Dazu kommen die oben erwähnten zwei Exkurse, die sich mit Gesetzesänderungen und ministeriellen Verordnungen in Preußen beschäftigen, wobei sich in der Entwicklung bis 1806 (Exkurs I) eine erstaunliche Modernität Preußens, auch im Vergleich zu ähnlichen Reformbestrebungen in England und Frankreich, zeigt. Diese Reformen fanden allerdings 1806 ein jähes Ende und konnten erst nach den napoleonischen Kriegen mühsam wiederbelebt werden, wobei aber nicht vor 1830 erneut von Reformen in größerem Ausmaß gesprochen werden kann. Hier sind das Rawiczer Reglement, das die einheitliche Ordnung der inneren Verwaltung der Strafanstalten verbindlich regelte sowie der Neubau von Strafanstalten nach neuesten gefängniskundlichen Erkenntnissen in Insterburg, Sonnenburg und Köln zu nennen. Sehr eingehend werden die einzelnen Reformschritte von Nutz nachgezeichnet.

Die Folgen der Märzereignisse von 1848, die "Verordnung über die Einführung des öffentlichen und mündlichen Verfahrens mit Geschworenen" vom 1. April 1849 sowie die Einführung des preußischen Strafgesetzbuches am 14. April 1851 führten dann aber zum Stillstand beziehungsweise sogar Rückschritt. Die Zahl der Häftlinge verdoppelte sich fast und die damit verbundene hoffnungslose Überfüllung der Gefängnisse setzte allen Reformbestrebungen zunächst ein Ende. Waren die Gefängnisreformen zu Beginn des Jahrhunderts unter Friedrich Wilhelm III. trotz einer modernisierungsbereiten Bürokratie an außenpolitischen Faktoren gescheitert, so sieht Nutz in der reformunwilligen Bürokratie in den 1840er-Jahren den Grund für das erneute Scheitern. Seine Vermutung geht sogar dahin, dass Friedrich Wilhelm IV. mit seiner massiven Einmischung in die von der Bürokratie für sich in Anspruch genommene Autonomie diese von weiteren Reformen abgehalten hat.

Insgesamt liegt mit diesem Buch zum ersten Mal eine auf breiter Quellenbasis erstellte Gesamtschau der theoretischen Hintergründe der Gefängnisreform in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. Da Theorie und Praxis allerdings häufig doch weiter auseinander klaffen als gedacht, steht zu hoffen, dass zukünftige Arbeiten sich stärker mit der Umsetzung der Ideen in die Realität des Strafvollzugs beschäftigen. Anspruch und Wirklichkeit gingen zumindest in den preußischen Rheinlanden selten zusammen. Dort waren die Strafanstalten ständig überfüllt, an eine umfassende Klassifikation der Gefangenen war ebenso wenig zu denken wie an einen Einzelstrafvollzug. Hier sind in der Forschung lediglich Anfänge gemacht.

Redaktionelle Betreuung: Stephan Laux

Empfohlene Zitierweise:

Petra Recklies-Dahlmann: Rezension von: Thomas Nutz: Strafanstalt als Besserungsmaschine. Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft 1775-1848, München: Oldenbourg 2001, in: PERFORM 3 (2002), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=298>

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