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Jenny Thauer: Gerichtspraxis in der ländlichen Gesellschaft. Eine mikrohistorische Untersuchung am Beispiel eines altmärkischen Patrimonialgerichts um 1700 (= Berliner Juristische Universitätschriften; Bd. 18), Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz 2001, 333 S., ISBN 3-8305-0131-5, € 35,00

Rezensiert von:
Winfried Schulze
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Kaum eines der vielen Felder der frühneuzeitlichen Geschichte hat sich als so ergiebig erwiesen wie die Untersuchung der gerichtlichen Quellen. Die Analyse der frühneuzeitlichen Bauernrevolten ist dadurch ebenso möglich geworden wie die der Disziplinierungsstrategien, der innerdörflichen Konflikte und der Auseinandersetzungen, die späteren Hexereibeschuldigungen zu Grunde lagen. Die vielen alltagshistorischen Beiträge, die unser Verständnis der Funktionsweise dieser Gesellschaft erweitert haben, greifen immer wieder auf Gerichtsquellen zurück. Inzwischen sind sowohl die Quellen der Reichsgerichte genutzt worden wie auch die der vielen unterschiedlichen Gruppen der territorialen und örtlichen Gerichte. Der unschätzbare Vorteil dieser Quellen ist ohne Zweifel, dass sie die Normalität des Lebens wiederspiegeln, denn gerade in vor Gerichten ausgetragenen Konflikten zeigen sich die elementaren Strukturen des Lebens, des Wirtschaftens, des Überlebens. Methodisch orientiert sich die Untersuchung trotz ihrer rechtshistorischen Herkunft insgesamt an den Überlegungen, die von der Potsdamer Arbeitsgruppe um Jan Peters entwickelt wurden. Hier hatte sich unter der Leitung von Jan Peters ein erfreulicher - aber leider nicht weitergeführter - Schwerpunkt gebildet, der sich die Analyse der ostelbischen ländlichen Sozialverfassung zur Aufgabe gemacht hatte. [1]

Die vorliegende Untersuchung gewinnt ihren besonderen Reiz aus zwei Gründen. Zum einen stellt sie eine Detailauswertung des Schulenburg'schen Gesamtgerichts dar, also eines Gerichts, das für alle Teilbesitztümer der Familie Schulenburg zuständig war. Es kommt hinzu, dass dieses Gericht schon in der neueren Studie von Ulrike Gleixner ausgewertet wurde, [2] sodass sich jetzt zum einen interessante Vertiefungen unserer Kenntnisse, zum anderen aber auch manche Korrekturen zu dieser Arbeit ergeben, dies umso eher, als die Verfasserin diese Differenzen im Allgemeinen deutlich ausspricht. Gegenstand der Untersuchung ist freilich nur ein zeitlich begrenzter Ausschnitt aus der Geschichte des Gerichts, nämlich die Amtszeit des Richters Annisius an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert (1698-1709). Die vor ihm geführten zirka 620 Prozesse sind der engere Gegenstand der Untersuchung.

Diese Analyse wird jedoch hinreichend breit eingeordnet. Nicht nur das relativ große Gericht in der Gegend von Salzwedel wird hervorgehoben (zirka 70 Dörfer und Höfe), auch der Weg zum Gericht, die handelnden Personen (Richter, Vögte, Dorfschulzen, Anwälte) und der Ablauf der Prozesse an den verschiedenen Gerichtsorten werden sorgfältig beschrieben. Im Hauptkapitel werden dann die verschiedenen Konfliktgruppen analysiert, die vom Gericht zu entscheiden waren. Nach der Häufigkeit der Fälle werden Injurienprozesse, Schuldprozesse, Unzuchtprozesse, Besitz- und Pfändungsprozesse sowie Prozesse um Diebstahl und Feiertagsverletzungen behandelt. Diese Reihenfolge der Prozessgegenstände erstaunt den nicht, der die Konfliktlagen des Dorfes kennt. Diese Verfahren wurden im "nicht normierten, sog. unbestimmt summarischen Prozess" durchgeführt, einer rechtstheoretisch kaum vorhandenen, praktisch aber sehr wirksamen Variante des frühneuzeitlichen Gerichtsverfahrens, die dem Richter eine starke Rolle zuwies und schriftliche Aktionen und damit Anwälte praktisch überflüssig machte.

Ein daran anschließendes Kapitel über die gerichtlichen Entscheidungen belegt noch einmal - auch dies nicht überraschend - die Neigung des Gerichts zur gütlichen Beilegung der Streitfälle; die Grundlagen künftigen Zusammenlebens durften nicht zerstört werden.

Das letzte Kapitel behandelt - nicht ganz ideal platziert - den institutionellen Kontext der ländlichen Gerichtsverfassung. Hier werden die Jurisdiktion der Amtmänner, die Kompetenzen der Dorfgerichte, die Kirchengerichte und die Kriminalgerichtskompetenzen des Gesamtgerichts thematisiert, das sich in diesen Fällen der Aktenversendung bedienen musste. Abgeschlossen wird dieser Teil durch einen knappen Hinweis auf das Altmärkische Quartalsgericht, vor dem allein um Abgaben und Dienste gestritten werden konnte. Von diesem konnte natürlich noch an das Kammergericht appelliert werden. Dies wird zwar als intensiv genutzte Möglichkeit betont, leider ohne jedoch diese Aussage genauer zu belegen.

So entsteht insgesamt ein sehr präzises Bild einer keineswegs "schiedlich-friedlichen" dörflichen Gesellschaft, ein Topos früherer Forschung, der in den letzten beiden Jahrzehnten so gründlich destruiert wurde, dass heute kaum mehr von ihm auszugehen ist. Auch erscheint der Forschungsstand zur dörflichen Gerichtsbarkeit keineswegs mehr als so rudimentär, wie ihn die Verfasserin offensichtlich sieht (21). Erfreulicherweise haben die neueren Forschungsarbeiten - wenn auch oft aus speziellen Blickwinkeln - viel zur Analyse der dörflichen "Streitgesellschaft" beigetragen. Es ist so gleichsam zu einem Erkenntnisüberschuss im Bereich der dörflichen Sozial- und Alltagsgeschichte gekommen, dem möglicherweise detaillierte rechtshistorische Arbeiten noch nicht in hinreichender Zahl gegenüberstehen. Auf der anderen Seite zeigt die vorliegende Arbeit, dass auch eine rechtshistorisch angelegte Arbeit sozialgeschichtlicher Tiefenschärfe ermangeln kann, da etwa Grundfragen der dörflichen Sozialstruktur nicht in den Blick genommen werden, obwohl dies natürlich für Fragen zum Beispiel der Eigentumsdelikte hilfreich gewesen wäre. Auch die Frage der bäuerlichen Besitzrechte (überwiegendes Erbzinsrecht, also keine klassische gutsherrschaftliche Struktur) wird knapp abgehandelt. Sehr viel genauer informiert dagegen die Arbeit über die Strategien der Dorfbewohner, sich zur Klärung bestimmter Fragen an das Gericht zu wenden. Hier erhärtet sich die Vermutung einer tiefen Verwurzelung rechtlicher Verfahren in der ländlichen Gesellschaft ebenso wie der durchaus strategische Umgang mit dem Gericht und bestimmten Argumentationsfiguren, mit denen man den Richter zu überzeugen suchte.

Es ist auch schade, dass die Verfasserin zwar auf die Möglichkeiten der Prozessführung vor Quartalsgericht und Kammergericht hinweist, dies aber nicht vertieft. Damit soll keine zweite Arbeit angemahnt werden, denn dies hätte natürlich ein Studium anderer Quellen erfordert. Gleichwohl bleibt der Verweis auf diese Möglichkeit etwas in der Luft hängen, zumal die Frage ja nahe liegt, ob es Korrespondenzen zwischen der innerdörflichen Streitlust und der Prozesshäufigkeit gegen die Gerichtsherren gab. In jedem Fall aber ergibt die Studie ein außerordentlich hohes Maß an Autonomie des Gerichts, das kaum gutsherrliche Eingriffe zu gewärtigen hatte, auch dies ein Beleg für die fortgeschrittene Verrechtlichung des ländlichen Bereichs. Die Arbeit stellt ohne Zweifel einen wichtigen Beitrag für die noch zu schreibende Geschichte des frühneuzeitlichen Patrimonialgerichts dar.

Anmerkungen:

[1] Hierbei entstanden bislang folgende Publikationen: Jan Peters (Hg.): Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995; ders. (Hg.): Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der frühen Neuzeit, Göttingen 1995; ders. (Hg.): Gutsherrschaftsgesellschaften im europäischen Vergleich, Berlin 1997; Axel Lubinski u.a. (Hgg.): Historie und Eigensinn. Festschrift für Jan Peters zum 65. Geburtstag, Weimar 1997; Thomas Rudert/Hartmut Zückert (Hg.): Gemeindeleben. Dörfer und kleine Städte im östlichen Deutschland (16.-18.Jahrhundert) (= Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft; 1) Köln/Weimar/Wien 2001 (weitere Bände der Reihe sind in Vorbereitung). - Eine Zusammenfassung der Arbeitserträge findet sich in Jan Peters: Neue Ansätze zur Erforschung der Geschichte der ländlichen Gesellschaft, in: Lieselott Enders/Klaus Neitmann (Hg.): Brandenburgische Landesgeschichte heute, Potsdam 1999, S. 33-68, und ders.: Gutsherrschaftsgeschichte und kein Ende. Versuch einer Auskunft zu aktuellen Ergebnissen und Schwierigkeiten in der Forschung, in: Ernst Münch/Ralph Schattkowsky (Hg.): Festschrift für Gerhard Heitz zum 75. Geburtstag (= Studien zur ostelbischen Gesellschaftsgeschichte; Bd. 1), Rostock 2000, S. 53-80.

[2] Gleixner, Ulrike: "Das Mensch" und "der Kerl". Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtverfahren der Frühen Neuzeit (1700-1760), Frankfurt a.M. 1994.

Redaktionelle Betreuung: Matthias Schnettger

Empfohlene Zitierweise:

Winfried Schulze: Rezension von: Jenny Thauer: Gerichtspraxis in der ländlichen Gesellschaft. Eine mikrohistorische Untersuchung am Beispiel eines altmärkischen Patrimonialgerichts um 1700, Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz 2001, in: PERFORM 3 (2002), Nr. 11, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=255>

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