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Christoph Motsch: Grenzgesellschaft und frühmoderner Staat. Die Starostei Draheim zwischen Hinterpommern, der Neumark und Großpolen (1575-1805) (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 164), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, X + 486 S., 12 Abb., 14 Tabellen, 7 Karten, ISBN 3-525-35634-x, € 52,00

Rezensiert von:
Ursula Löffler
Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg

Christoph Motsch widmet sich nur auf den ersten Blick einem Randthema der Frühneuzeitforschung. Die Starostei Draheim wurde 1657 von der polnischen Krone an Preußen verpfändet. Mit ihren achtzehn Dörfern und der Stadt Tempelburg scheint sie kaum der Erwähnung wert - tatsächlich war dieser Untersuchungsgegenstand einem Zufallsfund im Archiv geschuldet (19). Anhand dieses Beispiels befasst Motsch sich allerdings mit einigen Fragen, die weit über den lokalen Horizont hinausweisen und zum Teil für die gesamte Frühe Neuzeit von Bedeutung sind. So will er in Abgrenzung zur bisherigen Forschung nicht den Zentralapparat der preußischen Verwaltung in den Blick nehmen, sondern die lokalen Verwaltungsinstitutionen und ihre Beziehungen zur Zentrale in Berlin. Es geht ihm um das dynamische Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, um die lokale Praxis des Aushandelns von Macht und Herrschaft. Die "kleine" Herrschaft in Draheim war mit der "großen" Herrschaft in Berlin eng verschränkt und durch wechselnde Konstellationen auf sie bezogen, gleichzeitig aber durch die Randlage in weiten Teilen nahezu autonom.

Die zweite wichtige Fragestellung wird bereits im Titel genannt: Die Bedeutung der Nähe der Grenze für die Einwohner der Starostei und ihren Umgang mit Herrschaft. Was bedeutete Grenze an sich? Wie wurde sie behauptet oder in Frage gestellt? Diese Fragen sind nicht nur für den lokalen Kontext von Bedeutung, sie sind geeignet, die komplexe Dynamik frühneuzeitlicher Grenzbildung zwischen landesherrlichen, adeligen und bäuerlichen Interessen aufzuzeigen.

Motsch hat seine Studie mikrohistorisch angelegt, was nicht in erster Linie eine Methode, sondern vielmehr eine Perspektive bezeichnet:[1] mittels einer mikrohistorischen Fallstudie lässt sich der Erkenntnishorizont erweitern. Dies zeigt der Verfasser im Laufe seiner Arbeit. Folgerichtig sind ihm weniger die Größen Mikro- und Makrohistorie wichtig als die Wechselseitigkeit gesamtstaatlicher und lokaler Herrschaft. Seine Grundannahme ist, dass Herrschaft nie an und für sich gegeben ist, sondern sich immer als Auseinandersetzung, Verhandlung, Kompromiss ereignet (15). Genauso will er Grenze verstanden wissen: sie ist keine normativ-statische, sondern eine dynamisch-soziale Struktur.[2]

Als dritter Prüfstein dienen dem Verfasser die Konfessionen und ihr Zusammenhang mit politischen Konflikten. Insgesamt soll auf diese Weise ein Bild des "ausgehandelten und ausbalancierten Herrschaftsaustrags" (17) entworfen werden, um schließlich die "kleine" Geschichte Draheims und die "große" Geschichte Preußens zueinander in Beziehung zu setzen.

Die Lage an der Grenze, die Art der Herrschaftsverfassung und die Rechtsstellung der Bauern hingen unmittelbar miteinander zusammen. Im Sinne von Frederic Jackson Turners Frontier-Hypothese spricht Motsch von einer besonderen Bedeutung der Grenze für die Geschichte der Starostei (68-69). Die Grenzbesiedlung brachte eine enge Herrschaftsbeziehung zwischen Grundherren und Untertanen mit sich, weil beider Interessen in besonderem Maße übereinstimmten und sie sich daher gegenseitig verpflichtet waren. Die besondere Lage brachte es aber auch mit sich, dass die Untertanen sich dem Herrn zuwandten, der sie am besten schützen konnte, bzw. der ihnen die günstigsten Rechte einräumte: "Herrschaftsbehauptung realisierte sich als gelungene Untertänigkeit an der Grenze." (61)

Auf Grund ihrer Lage im Grenzgürtel zwischen der Neumark, Hinterpommern und Großpolen hatte die Starostei Draheim eine hohe politische Bedeutung. Nach der Verpfändung 1657 behielt sich die polnische Krone bis 1773 das Recht vor, die Pfandherrschaft jederzeit wieder einzulösen, sobald die entsprechende Summe Geldes zur Verfügung stand. Weil stets mit der Einlösung des Pfandes gerechnet werden musste, blieb die Lage in der Starostei unbestimmt und in der Schwebe. Motsch gelingt es, eine Gruppe von Mittelsmännern zwischen alter und neuer Herrschaft nach der Verpfändung zu identifizieren (103-109).

Die Sozialstruktur Draheims wird nicht um ihrer selbst willen untersucht, sondern um die zentralen Fragen beantworten zu können. Damit präsentiert der Verfasser auch eine gute sozialgeschichtliche Arbeit. Die ländliche Gesellschaft Draheims war durch kleinbäuerliche Stellen und Subsistenzwirtschaft geprägt. Besonders auffallend war die hohe Zahl an Freischulzen, die nur selten besser gestellt waren als die Vollbauern. Sie erwarteten von der Herrschaft, dass ihre Rechte und Privilegien bestehen blieben, während die brandenburgische Amtsverwaltung bestrebt war, die Gewinne zu maximieren und die Privilegien zu beschneiden. Dieser Interessengegensatz mit seinen politischen Folgen bestimmte zu einem großen Teil den Herrschaftsaustrag zwischen Obrigkeit und Untertanen.

Einen Exkurs nutzt Motsch zu theoretischen Überlegungen und weitergehenden Reflexionen außerhalb des unmittelbaren lokalen und zeitlichen Kontextes. Er schließt daraus, dass die Beschwerden der Schulzen die Berliner Regierung immer wieder dazu zwangen, die alten Rechte zu bestätigen. Die Klageverfahren der Schulzen gegen den Amtmann müssen als dynamisches Moment der Herrschaftspraxis begriffen werden. Die offene Situation im Amt Draheim zwischen Brandenburg-Preußen und Großpolen wurde reproduziert, indem die Preußen sich gezwungen sahen, alte polnische Rechte zu bestätigen. "Das Grenzamt existierte also nicht einfach als gegeben und unhinterfragt, sondern war in den lokalen Auseinandersetzungen gewissermaßen fortwährend zur Verhandlung gestellt." (161) Der Grenzcharakter war nicht festgeschrieben, sondern ereignete sich. Die Herrschaft in Draheim wiederum war gekennzeichnet von der gleichzeitigen Anbindung an das Berliner Zentrum, dem es als Schatullamt direkt unterstellt war, und der vergleichsweise großen Autonomie, die der Grenzlage zu verdanken war. Dementsprechend war die Stellung des Amtmannes gleichzeitig machtvoll und verletzbar, die Proteste der Schulzen gleichzeitig aussichtslos und politisch folgenreich (194). Nicht nur der direkte Kontakt zur Kammer in Berlin war schuld daran, auch die Möglichkeit der Untertanen, Beschwerden an den nahen polnischen König zu richten und so eine internationale Komponente hinzuzufügen.

Im Dualismus von weltlicher und geistlicher Obrigkeit waren die Machtadressen nicht hierarchisch, sondern optional angeordnet. Genau wie zwischen Schulzen und Amtmann war die konkrete Herrschaftsausübung von Brechungen und ihrer Relativierung geprägt. Um die Bedeutung der Konfessionen für das Amt Draheim näher zu beleuchten, erfährt das katholische Pfarrhaus als politischer, sozialer und spiritueller Raum eine eingehende Betrachtung (209-314). Jede Auseinandersetzung religiöser Art erinnerte den preußischen Pfandnehmer an den labilen Charakter seiner Hoheit.

Was die Grenze angeht, folgt der Verfasser in seiner Grundannahme Owen Lattimore: Grenzen seien sozialen, nicht geografischen Ursprungs (317). Grenzen waren Ausdruck behaupteter Herrschaftsrechte. Die trennende Struktur von Grenze produziert diesseits und jenseits der Grenze eine Zone gemeinsamer Interessen der Menschen, die sie benutzen. Grenze soll daher über die Interessen ihrer Protagonisten identifiziert werden. Die Grenze zu ziehen und sie zu behaupten, so eine These Motschs, oblag in erster Linie der Grenzgesellschaft und nicht der Landesherrschaft (326). Grenzen waren instabil, weil sie den schwankenden lokalen Kräfteverhältnissen unterworfen waren. Sie blieben vor allem feudalherrschaftlich und lokal. Am Beispiel Draheims ist nichts zu erkennen von einer zonalen Grenze, die sich allmählich in eine lineare umwandelt. Auch bei der Regulierung der Grenze zeigte sich die lokale Herrschaftspraxis geprägt durch die relative Autonomie und die gleichzeitige Anbindung an die Kammer in Berlin (346).

Seine Auseinandersetzung mit der Forschung streut Motsch immer wieder in die Darstellung ein. Er verknüpft seine Ergebnisse mit denen angrenzender Disziplinen. In langen Passagen werden mithilfe von Informationen und Zitaten aus den Quellen bestimmte Situationen beschrieben, womit stets eine Einordnung in den gesamten Kontext der Untersuchung und eine Interpretation verbunden ist. Immer wieder erfolgt der Rückgriff auf die zentrale These der ausgehandelten Herrschaft in der Starostei Draheim. Die Erkenntnisse aus den Quellen werden darauf bezogen, sie unterstützen die These. Der Verfasser baut auf diese Weise ein Gesamtbild von ausgehandelter Herrschaft auf. So wechselten zwischen Katholiken, Protestanten und weltlicher Obrigkeit die Verhältnisse zueinander ständig. Je nach Lage der Dinge wurden mit der einen oder der anderen Seite Allianzen geschmiedet. Kollaboration und Konflikt zwischen der weltlichen Obrigkeit und dem katholischen Pleban konnten durchaus gleichzeitig auftreten. Der lokale Befund scheint übergeordneten Begrifflichkeiten wie Verstaatlichung oder Verfestigung konfessioneller Identitäten zu widerstreben. Ob man preußischer oder polnischer Untertan war, machte man von der Situation abhängig. Die Prozesse vor Ort können zwar größeren historischen Bezügen zugeordnet werden, sind ihnen aber nur zum Teil subsumierbar (314). Die grundlegende Annahme der Dialektik von Zentrum und Peripherie kann Motsch bestätigen. Die Ausbalancierung zwischen den verschiedenen Machtgruppen in der Starostei führte zu eigenständigen Ausprägungen von Herrschaft und zu Kompromissen, aber auch zum entschiedenen und unmittelbaren Eingriff der Berliner Oberbehörde in die Vorgänge im Amt Draheim. Motsch zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass in der genannten Dialektik zwischen Zentrum und Peripherie ein Hauptcharakteristikum frühneuzeitlicher Herrschaft liegt.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Hans Medick, Mikro-Historie, in: Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994, (40-53). Giovanni Levi, The Origins of the Modern State and the microhistorical Perspective, in: Jürgen Schlumbohm (Hg.), Mikrogeschichte - Makrogeschichte - komplementär oder inkommensurabel? Göttingen 1998, (53-82).

[2] Vgl. hierzu auch Wolfgang Schmale und Reinhard Stauber (Hg.), Menschen und Grenzen in der frühen Neuzeit, Berlin 1998.

Redaktionelle Betreuung: Michael Kaiser

Empfohlene Zitierweise:

Ursula Löffler: Rezension von: Christoph Motsch: Grenzgesellschaft und frühmoderner Staat. Die Starostei Draheim zwischen Hinterpommern, der Neumark und Großpolen (1575-1805), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 7, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=234>

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