header

Hans-Martin Gerlach (Hg.): Christian Wolff - seine Schule und seine Gegner (= Aufklärung; 12,2), Hamburg: Meiner 2001, 144 S., ISBN 3-7873-1455-5, € 36,00

Rezensiert von:
Oliver-Pierre Rudolph
Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA), Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg

Der Band versammelt in seinem ersten, dem thematischen Titelschwerpunkt gewidmeten Teil eine Einleitung des Herausgebers, vier Abhandlungen und eine Kurzbiographie. Wie in der Halbjahresschrift "Aufklärung" üblich, schließen sich Tagungsberichte und Rezensionen ohne Bezug auf das titelgebende Thema an, auf die an dieser Stelle nicht einzugehen ist.

In seiner Einleitung begründet der Herausgeber Hans-Martin Gerlach kurz die Notwendigkeit einer Beschäftigung mit Wolffs Stellung innerhalb der Aufklärung. Dabei bleibt die Fragestellung nicht, wie der Titel des Bandes zunächst vermuten lassen könnte, auf Aspekte der Wirkungsgeschichte des Wolffianismus beschränkt: Neben der Rolle von Wolffs Schülern und Gegnern soll auch sein eigenes Denken thematisiert werden. So erklärt es sich, dass im Hauptteil des Bandes neben einer vergleichenden Studie und zwei Abhandlungen zur Wolff-Rezeption auch ein systematischer Beitrag zu finden ist.

Die erste der vier Abhandlungen ist die vom Herausgeber des Bandes verfasste vergleichende Studie "Eklektizismus oder Fundamentalphilosophie? Die alternativen Wege von Christian Thomasius und Christian Wolff im philosophischen Denken der deutschen Frühaufklärung an der Universität Halle". Gerlach arbeitet in ihr überzeugend wichtige autorspezifische methodologische Überlegungen von Thomasius und Wolff heraus: Demnach besteht das von Thomasius vertretene eklektizistische Forschungskonzept darin, (erstens) das "allerbeste [...] von ihren Lehrmeistern [...] und das außerlesenste von allen Sectirischen Lehren [zu] behalten, das übrige aber nach Anleitung [des] eigenen Verstandes" selbst hinzuzutun (zit. nach 14) und (zweitens) die so gewonnene eigene Position wiederum anderen zur kritischen Auswahl des Besten weiterzugeben. Unter der Wolffschen "Fundamentalphilosophie" will Gerlach demgegenüber eine Philosophie verstanden wissen, die "gerade jenseits eines jeglichen Eklektizismus [...] zu den 'festen Gründen' des philosophischen Denkens zurück" will (ebd.). Das 'Fundamentale' des Wolffschen Programms bestehe darin, "mit zwingender logischer Ableitbarkeit" aus zwei letztgültigen Grundsätzen (principium contradictionis und principium rationis sufficientis) "alle anderen Bereiche des Seins und des Denkens in einer Lückenlosigkeit und zwingenden Folgerichtigkeit zu erfassen, die keine unzureichend erfaßten realen und idealen Räume überhaupt nur als Möglichkeit zuläßt" (23).

Es gelingt dem Verfasser allerdings nicht, diese Interpretation des Wolffschen Selbstverständnisses hinreichend abzusichern, um so über die bloße Unterschiedlichkeit hinaus einen methodologischen Gegensatz beider Konzepte nachzuweisen. Dass sich die Wolffsche Philosophie in ihrer Genese selbst einem Eklektizismus im Sinne von Thomasius' erstem Punkt verdanke, kann mit Hilfe der Überlegungen des Verfassers nämlich keineswegs ausgeschlossen werden. Die eben skizzierte Position wird tatsächlich gerade in der neueren Wolff-Forschung mit guten Argumenten vertreten, so zum Beispiel von Jean Ecole im fünften Abschnitt seines Aufsatzes "War Christian Wolff Leibnizianer?", betitelt "Wolffs Eklektizismus".[1]

Mit der sich anschließenden zweiten Abhandlung des Bandes legt Boguslaw Paz eine ebenso problematische wie ideenreiche Interpretation der Wolffschen Ontologie vor. Unter dem Titel "Christian Wolffs Ontologie. Ihre Voraussetzungen und Hauptdimensionen (mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz)" versucht er, diesen ersten Teil der lateinischen Metaphysik Wolffs aus einer so konsequent bisher noch nicht durchgehaltenen erkenntnistheoretischen Perspektive heraus neu zu erschließen. Paz stützt seine Argumentation dabei in wesentlichem Maße auf die von anderen Interpreten (zum Beispiel Ecole, wie Anmerkung 1, 33-35) heute mit guten Argumenten nicht mehr vertretene Auffassung, dass Wolff einer der konsequentesten Leibnizianer sei (vgl. auch 28).

Angelpunkt der Überlegungen ist der Befund, dass Wolff die seiner ganzen Philosophie zu Grunde liegenden Prinzipien des Widerspruchs und des zureichenden Grundes durch Introspektion, das heißt durch Erfahrung, gewinnt. Paz sieht sich nun nicht etwa zu einer Neubewertung des Status' der Wolffschen Ontologie oder, wie zum Beispiel Hans-Jürgen Engfer in seinem Buch "Empirismus versus Rationalismus ?", gar zum Nachweis einer Zirkularität innerhalb des Wolffschen Systems veranlasst, sondern versucht vielmehr, Wolff auf dem Fundament der zuvor entwickelten Thesen eine gelungene Volte vom psychologischen A posteriori zum ontologischen A priori zu bescheinigen. Seine nicht immer lückenlose Argumentation vermag spätestens hier allerdings nicht zu überzeugen.

Während die beiden ersten Arbeiten des Bandes ihren hohen Ansprüchen nicht in allen Punkten gerecht werden, können die zwei folgenden, rezeptionsgeschichtlichen Abhandlungen die an sie zu stellenden, freilich anders gelagerten Erwartungen durchaus einlösen. Beide Abhandlungen zeichnen sich besonders durch die gute Quellenkenntnis ihrer Autoren aus.

Der dritte Beitrag des Bandes stammt von Detlef Döring und behandelt das Thema "Der Wolffianismus in Leipzig. Anhänger und Gegner". Döring stützt sich in diesem Beitrag auf eine bereits publizierte eigene Arbeit zu Leibniz und der Leipziger Aufklärung (vgl. 53, Fußnote 3), geht jedoch durch Einbeziehung neuer Überlegungen und Quellen über das dort bereits Gesagte hinaus. Es gelingt ihm, dem Leser einen Einblick in die Vielfalt der Reaktionen auf die Wolffsche Philosophie in Leipzig zu vermitteln und so die verbreitete Auffassung von der Leipziger Universität als konservativem Hort der Scholastik zu korrigieren. Dabei versäumt er es nicht, auch private Salons und Sozietäten zu berücksichtigen. Vor dem Hintergrund der Darstellung der Auseinandersetzungen von Wolff-Schülern und ihren Gegnern gelingt es dem Verfasser ferner, die Emanzipation der Philosophie von der Theologie nachzuzeichnen. Neben den lokalen Streitigkeiten der Anhänger und Gegner Wolffs und den Koalitionsbildungen unter den beteiligten Lagern werden auch die Schwierigkeiten der Leipziger Wolffianer mit Gegnern in der Landeshauptstadt Dresden rekonstruiert.

In der vierten Abhandlung gibt Günter Mühlpfordt einen Überblick über "Christian Wolffs Lehre im östlichen Europa". Er vermittelt, gestützt auf eine Vielzahl von Quellen, einen ersten Eindruck von der immer noch kaum erforschten, sehr intensiven Rezeption der Wolffschen Philosophie in Polen, im Baltikum, in Russland, der Ukraine, in Südosteuropa und in der Habsburgermonarchie. Mühlpfordt untersucht die wichtigsten Rezeptionswege und weist auf Übersetzungen der Werke Wolffs in die jeweilige Landessprache hin. Sein Beitrag macht den Leser somit nicht nur auf ein Desiderat der Aufklärungsforschung aufmerksam, sondern bietet ihm auch zugleich kompetent die nötige Orientierung für die noch zu leistende Arbeit.

In der den thematischen Teil beschließenden "Kurzbiographie" stellt James Jakob Fehr eine in Vergessenheit geratene Figur im Spannungsfeld zwischen Pietismus und Wolffianismus vor: Franz Albert Schultz (1692-1763). Fehr kann deutlich machen, dass Schultz über seinen Kontakt zu Johann Gustav Reinbeck eine wichtige Rolle bei der Rehabilitation Wolffs nach den so genannten Halleschen Streitigkeiten von 1723 zukam, stellt die zwischen Pietismus und Wolffianismus vermittelnde "Dissertatio inauguralis de concordia rationis cum fide" vor, beschreibt Schultz' wechselvolle Karriere und verweist auf seinen Einfluss auf Hamann, Kant und dessen Lehrer Martin Knutzen.

Anmerkung:

[1] In: "Aufklärung" 10/1, 29-45, hier 43 ff.

Redaktionelle Betreuung: Holger Zaunstöck

Empfohlene Zitierweise:

Oliver-Pierre Rudolph: Rezension von: Hans-Martin Gerlach (Hg.): Christian Wolff - seine Schule und seine Gegner, Hamburg: Meiner 2001, in: PERFORM 3 (2002), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=211>

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

footer