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Karin Stukenbrock: "Der zerstückte Cörper". Zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen in der frühen Neuzeit (1650-1800) (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung; Beiheft 16), Stuttgart: Franz Steiner 2001, 309 S., ISBN 3-515-07734-0, € 48,00

Rezensiert von:
Alexandra Chmielewski
Frankfurt/M.

In den vergangenen Jahren hat die deutsche Geschichtswissenschaft - wenn auch mit erheblicher zeitlicher Verzögerung zu anderen Ländern - den Körper als "historische Methode" entdeckt. In diesem Zusammenhang erschien eine Flut von Arbeiten. Die Auseinandersetzungen mit vergangenen Körperbildern erfolgen vor allem mit dem Ziel, Rückschlüsse auf die jeweiligen politischen wie gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie auf Einstellungen, Motive und Verhaltensweisen der historischen Akteure zu ziehen.

Hier setzt auch die vorliegende Arbeit Karin Stukenbrocks an. Im Zentrum der 1999 abgeschlossenen Dissertation steht der Leichnam als "Schauplatz der Körperpolitik" (24). Gefragt wird nach jenen Faktoren, die in der frühen Neuzeit den Umgang mit dem toten Körper bestimmten. Dabei liegt der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung auf dem 17. und 18. Jahrhundert. Während dieser Phase rückten Lehrsektionen an menschlichen Leichen in den Vordergrund obrigkeitlichen Interesses. Anlass dafür waren sich mehrende Beschwerden medizinischer Institute über angeblichen Leichenmangel und deren Forderungen nach verbesserter Versorgung mit toten Körpern. Am Beispiel der Universitäten und anatomischen Institute in Göttingen, Helmstedt, Braunschweig, Halle, Rostock, Jena, Kiel und Königsberg arbeitet die Verfasserin heraus, in welchen Zusammenhängen die Versorgung mit Leichen, die Leichenablieferung sowie die anatomische Sektion überhaupt diskutiert und wie sie gehandhabt wurden. Ferner fragt sie nach Gründen dafür, warum die Menschen dieser Zeit "ihre toten Körper nicht 'zerstückt' wissen wollten" (11).

Das geschieht in vier Schritten. Im ersten Abschnitt der Untersuchung geht es um die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Leichenablieferung. Die Verfasserin zeichnet sowohl die Genese der Verordnungen als auch die Rechtspraxis nach. Darüber hinaus widmet sie sich ausführlich dem Personenkreis, der als anatomisches "Material" zur Verfügung stehen sollte. Hier lässt sich während des Untersuchungszeitraums ein Wandel feststellen: Im Verlauf des 18. Jahrhunderts stieg an den medizinischen Instituten der Bedarf an toten Körpern, was die Obrigkeiten zu einer Erweiterung des Personenkreises veranlasste. Nicht länger nur die Körper Hingerichteter, sondern auch Leichen anderer Randgruppen wie beispielsweise Selbstmörder, Totgefundene, Arme, ledige Mütter, uneheliche Kinder oder in Zuchthäusern Verstorbene sollten nunmehr der Anatomie zur Verfügung gestellt werden. Allerdings gingen die Verordnungen nicht so weit, dass generell die Leichen aller den genannten Gruppen zuzuordnenden Personen abzuliefern waren. Vielmehr betraf die Regelungen in erster Linie jene Personen, die sich eines zusätzlichen Vergehens schuldig gemacht hatten, sich also "am unteren Rand" befanden.

Im zweiten Teil der Arbeit steht der konkrete Umgang mit der Leiche im Mittelpunkt. Beschrieben werden die einzelnen Stadien von der Ablieferung, über den Transport, die eigentliche Sektion bis hin zum Begräbnis. Auf einer breiten Grundlage archivalischer und gedruckter Quellen arbeitet Stukenbrock die administrativen, finanziellen, medizinischen und institutionellen Grundkonstellationen heraus, die jeweils die Handlungen der Beteiligten bestimmten. Besonders verdienstvoll ist es, dass dabei auch die ökonomischen Rahmenbedingungen Berücksichtigung finden, die in der bisherigen Forschung weitgehend vernachlässigt wurden. Dabei stellt sich heraus, dass sowohl der Betrieb der Anatomie als auch die Leichenbeschaffung in einem hohen Maße von den herrschenden finanziellen Möglichkeiten abhingen. Darüber hinaus kann die Verfasserin belegen, dass sich für den Untersuchungsraum so gut wie keine Nachweise für die immer wieder formulierte These finden lassen, Leichenmangel habe zwangsläufig in Leichenhandel und -raub gemündet.

Welche Rolle anatomische Sektionen spielten und in welchem Spannungsfeld der Interessen die Versorgung mit Leichen erfolgte, davon handelt der anschließende Teil der Untersuchung. Im Einzelnen werden sowohl Motive und Handlungsspielräume der verschiedenen Protagonisten als auch die daraus resultierenden Auseinandersetzungen skizziert. Als Fürsprecher einer geregelten und verbesserten Leichenversorgung traten in erster Linie Anatomie-Professoren, Studenten wie Universitäten in Aktion. Während die Professoren dabei neben dem Interesse an der anatomischen Arbeit vor allem die eigene Reputation vor Augen hatten, ging es den Medizinstudenten vornehmlich um ihre Ausbildung. Ebenso zeigten sich die Universitäten mehr und mehr an einer florierenden Anatomie interessiert. Das gilt vor allem ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit der generellen Erneuerung der Universitäten, namentlich in den protestantischen Reichsteilen, setzten sich "aufgeklärte" Institute - allen voran Göttingen - nunmehr verstärkt bei den Obrigkeiten für eine intensivierte Leichenversorgung der Anatomien ein.

Völlig konträr dazu war der Standpunkt in der Bevölkerung. Die Bestrebungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen zielten grundsätzlich darauf, die Sektion eines Körpers nach dem Tod zu verhindern (siehe unten). Dabei spielten religiöse Vorbehalte ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass die Sektion als eine Minderung des sozialen Ansehens empfunden wurde. Die Aufgabe, zwischen diesen gegensätzlichen Interessen zu vermitteln, übernahmen Landesregierungen sowie Stadt- und Amtsobrigkeiten und auch Geistliche vor Ort.

Im Vordergrund des letzten und zugleich spannendsten Kapitels steht die Frage nach der Funktion von Leichensektionen während der frühen Neuzeit. Die Argumente der Mediziner werden ebenso dargelegt wie die Zielsetzungen der jeweiligen Obrigkeiten. In kritischer Auseinandersetzung mit dem Konzept der Sozialdisziplinierung überprüft Stukenbrock anhand der Rechtspraxis, inwieweit anatomische Sektionen von den Regierungen als Disziplinierungsmaßnahme instrumentalisiert wurden. Parallel dazu nimmt sie die Betroffenen in den Blick und untersucht deren Reaktion auf obrigkeitliche Verordnungen. Deutlich wird dabei, dass gewalttätige Ausschreitungen, wie es sie beispielsweise in England und Frankreich gab, für den Untersuchungsraum nicht überliefert sind. Vielmehr gab es subtilere Formen des Widerstands und Protestes, um eine Leichenablieferung zu verhindern - so beispielsweise die Verzögerung der Überlieferung oder ein sofortiges Begräbnis der Toten. Ungeachtet der Tatsache, dass der Wille zur Disziplinierung in den Bestimmungen proklamiert wird, ließen sich die Obrigkeiten in der Frage der tatsächlichen Leichenablieferung nur eingeschränkt von Disziplinierungsabsichten leiten. Im Gegenteil reagierten sie nachsichtig auf Verstöße und zeigten sich in der Regel darauf bedacht, eine "Balance der Interessen" (276) zu wahren.

Alles in allem liegt hier eine informative und anschaulich geschriebene Untersuchung vor. Die stringente Gliederung erleichtert die Lektüre ebenso wie das Personen-, Orts- und Sachregister sowie die Zusammenfassungen am Ende der Kapitel. Bedauerlich ist lediglich, dass gerade dem umfangreichsten Kapitel über die Stadien der Sektion ein solches Resümee fehlt. Karin Stukenbrock gelingt es, durch differenzierte Herangehensweise und durch die wiederholte Gegenüberstellung von Anspruch und Wirklichkeit aufzuzeigen, welche Faktoren im Einzelnen den Umgang mit dem toten Körper bestimmten, wie sie ineinander griffen und sich gegenseitig beeinflussten. Erstmals erhält der Leser/die Leserin einen umfassenden Einblick in die gesellschaftliche und politische Bedeutung der Leichensektionen in einigen für die Entwicklung der Medizin wichtigen deutschen Territorien während der Frühen Neuzeit. Dabei zeigt sich: Die ablehnende Haltung seitens der Betroffenen ist primär auf die herrschenden sozialen und religiösen Normen und Werte während des 17. und 18. Jahrhunderts zurückzuführen. Diese Erkenntnis ist das eigentliche Verdienst der vorliegenden Arbeit. Darüber hinaus eröffnet die Verfasserin Perspektiven für zukünftige Forschungen. Interessant wäre beispielsweise eine vergleichbare Untersuchung katholischer Universitäten und die Überprüfung der Frage, ob sich beim Umgang mit dem toten Körper auch konfessionelle Unterschiede feststellen lassen.

Redaktionelle Betreuung: Maren Lorenz

Empfohlene Zitierweise:

Alexandra Chmielewski: Rezension von: Karin Stukenbrock: "Der zerstückte Cörper". Zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen in der frühen Neuzeit (1650-1800), Stuttgart: Franz Steiner 2001, in: PERFORM 3 (2002), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=200>

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