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Dirk Hoeges: Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein (= Colloquia Augustana), München: C.H. Beck 2000, 257 S., ISBN 3-406-45864-5, € 25,90

Rezensiert von:
Christian Wieland
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Die geistesgeschichtliche Leistung Niccolò Machiavellis sowohl für die Geschichtswissenschaft als auch für eine theoretische Wissenschaft von der Politik kann kaum überschätzt werden: Die Staatsphilosophie des 16. bis 18. Jahrhunderts ist ohne den durch Machiavelli vollzogenen Bruch mit den Traditionen der christlich-metaphysischen Staatstheorie nicht vorstellbar. Der kontinuierliche, sei es affirmative, sei es ablehnende Bezug auf die Theorien des Vorstehers der Zweiten Kanzlei der Republik Florenz in den frühneuzeitlichen theoretischen Texten zur Politik kann als Indiz für den Grad an Modernität gelesen werden, der Machiavellis Texte auszeichnete. Die moralische Verdammung des Florentiner Humanisten wurde in der Kritik der Aufklärung, die sich scharf von der (partiellen) Entlassung der Politik aus der Ethik distanzierte, grundgelegt: Die in dem Begriff des "Machiavellismus" anklingenden Vorwürfe einer durch keinerlei ethische Normen gehemmten Macht- und Interessenpolitik sind bis heute nachklingender Reflex dieser Rezeptionsgeschichte.

Eine Reduzierung Machiavellis auf seine staatstheoretischen Werke, "Il principe" (oder: "De principatibus") und die "Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio", und die Gleichsetzung des Autors mit seinem Text beziehungsweise lediglich einer Fassette seiner schriftstellerischen Produktion steht dem humanistischen Selbstbild, das sich am Ideal des "uomo universale" modellierte, in deutlichem Kontrast gegenüber: Zum einen sah sich ein Humanist der Renaissance, sah sich zumindest Machiavelli immer zugleich als Philosoph, politischer Theoretiker, Dichter, Komponist. Zum anderen sind die staatstheoretischen und poetischen Werke Früchte des Exils, einer keineswegs begrüßten Abstinenz von politischer Betätigung. Wie Ciceros "De re puplica" stellen die Ausführungen, die ihrem Verfasser nachhaltige Bekanntheit sichern sollten, in der am römisch-republikanischen Vorbild, damit an Cicero, stilisierten Rhetorik lediglich Ersatzhandlungen für die aktive Gestaltung der Geschicke des Gemeinwesens dar. Selbst wenn die von Cicero so markant vorgenommene Hierarchisierung von "vita activa" und "vita contemplativa" nicht in gleichem Maße in den Werken Machiavellis ausgemacht werden kann, bleibt dessen Betonung der Einheit von Denken und Tun, Reflexion über und Teilhabe an der Politik fragloser Bestandteil des humanistischen "self fashioning", eines zeittypischen elitären Gelehrtenhabitus.

Der Romanist Dirk Hoeges stellt, ausgehend von diesem Einheitsgedanken, Machiavelli als "ganzen Menschen" in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Allerdings handelt es sich bei dem vorliegenden Band weder um eine Biografie im herkömmlichen Sinne noch um eine literaturkritische Analyse aller Werke des Florentiner Autors. Vielmehr zielt Hoeges in erster Linie auf eine Interpretation der Gestalt und Konstruktion des "Fürsten" im literarischen und politischen Kontext Machiavellis ab, auf die Bedeutung des Scheins im Prozess von Machtgewinnung und Machterhalt, auf die Ästhetik als zentrale Komponente des Politischen. Er entwirft dabei jedoch ein sehr fassettenreiches Bild, das den Blick auf den Menschen Machiavelli weder durch einseitige Hervorhebung der politischen Werke verengt noch durch theoretisch-distanzierende Methoden der Literatur- und Geschichtswissenschaft auf eine Weise entfremdet, die das Auffinden des Individuums in der Geschichte unmöglich machte.

In gewisser Hinsicht bedient sich der Autor einer Umkreisungs- oder zumindest Rahmentaktik, um den Leser an den Kern seines Interesses heranzuführen: Der Beginn des Buches wird durch eine Beschreibung des Exils Machiavellis auf seinem Landgut Sant'Andrea in Percussina bei San Casciano konstituiert, mit der Darstellung der Schreibsituation, die Machiavelli der Rückkehr der Medici nach Florenz 1513 "verdankte". In ständigen Vor- und Rückgriffen wird daraufhin das politische und künstlerische Schaffen Machiavellis nachgezeichnet, um schließlich wieder in einer Analyse des "principe" zu münden.

In bunter Folge wechseln die Themen ab: Das Verhältnis Machiavellis zu den florentinischen und römischen Medici; die Vorherrschaft des Denkers über die gedankenlosen Machthaber; der Kontext der Florentiner Geschichte, Sozial- und Ökonomiestruktur für das politische und historische Denken Machiavellis; seine Verwendung der "Florentinischen Geschichten" als "exemplum" politischen Handelns schlechthin; die stilistische und dramaturgische Gestaltung von Geschichtsschreibung; der Witz als Medium der Kritik; die Rolle der (unter anderem aus dem Kriegswesen gespeisten) Erfahrung und ihre Überlegenheit über reine Stubengelehrsamkeit; die Gesandtschaften bei Cesare Borgia und beim Konklave von 1503; der Alltagshumanismus im Hause Machiavelli, gespiegelt in der Bibliothek des Vaters Bernardo; die Schulung in den "studia humanitatis"; Erfolge als Komödienautor, Regisseur und Komponist; erotische Erlebnisse.

Die Ausführungen über die intellektuelle Sozialisation Machiavellis werden mit Bemerkungen über die Bedeutung Ciceros für das politische Selbstverständnis des Florentiner Kanzlers abgeschlossen. Anstatt jedoch systematisch auf die Rolle antiker Vorbilder für die Selbststilisierung der Renaissancehumanisten einzugehen, anstatt nach dem Modellcharakter Ciceros für die Bourgeoisie einer Stadtrepublik zu fragen und von diesem Ausgangspunkt her neue Erkenntnisse über den Humanismus als Habitus zu gewinnen, anstatt also nach Mustern und Handlungsrahmen zu fragen, wird Machiavelli hier penetrant individualisiert, Parallelen zwischen den Biografien Ciceros und Machiavellis naiv als historische Zufälle gewertet und jede Verallgemeinerung verweigert.

Für den Verfasser steht die Suche nach den Wurzeln des "principe" im Mittelpunkt: Dabei werden sowohl zeitgenössische Vorbilder unter die Lupe genommen als auch historische und mythologische Modelle untersucht. Für Hoeges steht fest, dass Machiavelli eben kein Porträt eines Monarchen konzipierte, dass er seine Ausführungen nicht nach dem Vorbild beispielsweise eines Cesare Borgia formulierte. Vielmehr ist der "Fürst" ein Kunstprodukt, ein aus verschiedenen Quellen gespeistes Amalgam, allen voran in der Figur des Moses präfiguriert. Der "principe" kann nur als Modell entworfen werden - theoretisch im gleichnamigen Traktat, literarisch in der Novelle "La vita di Castruccio Castracani da Lucca", ein Werk, dessen Bedeutung der Verfasser im Zusammenhang der Staatstheorie Machiavellis bereits an anderer Stelle betont hat.[1]

Die für den erfolgreichen Staatsmann notwendige Deckung von Wirklichkeit und Modell geschieht mithilfe des Scheins, der wiederum durch die Ästhetik der Macht erzeugt wird. Der Herr über die Kunst, das Mittel der Machtpolitik schlechthin: Es ist nicht der Politikertypus zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Die Fähigkeit zur Umgestaltung und Überwindung der Wirklichkeit besitzt der Gelehrte, der wie Platon und Aristoteles Gemeinwesen in seinen Texten erbaut. Wenn die Wirklichkeit von der Möglichkeit ersetzt wird, dann ist es Machiavelli selbst, der Intellektuelle, der zum "principe" wird.

Anmerkung:

[1] Das Leben Castruccio Castracanis aus Lucca beschrieben von Niccolò Machiavelli und zugeeignet seinen besten Freunden Zanobi Buondelmonti und Luigi Alamanni. Übersetzt und mit einem Essay zur "Ästhetik der Macht", hg. von Dirk Hoeges, München 1998.

Redaktionelle Betreuung: Matthias Schnettger

Empfohlene Zitierweise:

Christian Wieland: Rezension von: Dirk Hoeges: Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein, München: C.H. Beck 2000, in: PERFORM 3 (2002), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=181>

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