header

Hans Schlosser / Dietmar Willoweit (Hg.): Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen; Bd. 2), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 1999, VI + 390 S., ISBN 3-412-00899-0, DM 88,00

Rezensiert von:
Eva Lacour
Anschau

Nachdem Dietmar Willoweit im ersten Band der Reihe die Forschungs- und Diskussionsphase des DFG-Schwerpunktprogramms "Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts" dokumentiert hatte, trägt der zweite Band - von den Herausgebern bescheiden so bezeichnete - "Bausteine [...] einer zukünftigen Strafrechtsgeschichte" zusammen (2), die 1996 beim Augsburger Arbeitsgespräch vorgestellt worden waren. Die Internationalität des ersten Buches setzt sich im zweiten nicht fort.

Die Autoren suchen nach "Elemente[n] öffentlichen Handelns [...], die zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs beigetragen haben" (Willoweit, 338). "Öffentlich" wird dabei nicht als Gegenpol zu "privat", sondern zu "heimlich" gesehen und spiegelt damit "die Beurteilung von Konflikt und Verbrechen in der mittelalterlichen Gesellschaft". Die Hypothese lautet, der staatliche Strafanspruch schließe an Sachverhalte an, "die man gemeinsam, also öffentlich zu erörtern und zu behandeln sich gewöhnt hatte" (339). Das für das ganze Mittelalter charakteristische Nebeneinander von öffentlich zu vollziehenden Strafen und individualrechtlichen Sühnemechanismen versteht Willoweit nicht als Phase des Übergangs, sondern als "eigenen Typus vorstaatlicher, aber doch gesellschaftskonformer Sanktionsverhältnisse" (340).

Klaus Richter weist in Konflikten zwischen Abt Wibald von Stablo und den Grafen von Schwalenberg die Existenz einer "rudimentäre[n] öffentliche[n] Strafe" (40) für die Mitte des 12. Jahrhunderts nach und bezeichnet 1152, das Jahr der Verkündung des Ulmer Landfriedens, als "prägnante Zäsur" (36). Indiz ist, dass 1156 die Vollstreckung des Urteils nicht mehr Sache des Verletzten war. Richter hält auch die Unterscheidung von zivil- und strafrechtlichem Unrechtsausgleich für möglich. Anhand deutscher Stadtrechte zeigt Barbara Frenz für das 13. Jahrhundert den Übergang von einem "Frieden im technischen Sinne" (128), der dazu diente, die strafrechtliche Kompetenz des stadtbürgerlichen Gerichts gegenüber der des Stadtherrn abzugrenzen, zu einem moralisch-normativen, christlich geprägten "Friedensbegriff im Sinne eines ethischen Grundsatzes" auf. Eine "Tendenz zum öffentlichen Strafanspruch" (144) ist mit letzterem verbunden. Antje Schacht legt mittels der hessischen Chronistik dar, dass im Spätmittelalter der geistlichen Gerichtsbarkeit weniger als der weltlichen zugetraut wurde, "Rechtssicherheit und Gerechtigkeit zu gewährleisten" (53). Rolf Sprandel schildert die unterschiedlichen Einstellungen städtischer Chronisten zur Entwicklung des Strafrechts.

In seinem ausgesprochen interessanten Aufsatz schlägt Matthias Lentz vor, "sozial geübte[s]" von "juristische[m] Recht im modernen Sinne" (78) zu trennen und anstelle einer Entstehung des öffentlichen Strafrechts von einem "Vordrängen" zu sprechen. Dabei sieht er die Zeit zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert als "die relevante Einheit" an, in der eine neue, gelehrte "Rechtskultur" die ältere verdrängte. Dies veranschaulicht er anhand von Schmähbriefen und Schandbildern, die zunächst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Form von "Scheltklauseln" in Schuldurkunden vertraglich gestattet waren, bis sie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts reichsrechtlich und gerichtlich verboten wurden. Eine ähnliche Periodisierung lässt die Typologie von Urfehden erkennen, die Andreas Blauert erstellt: In der "Hochphase des Urfehdewesens", zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert, markierte die "Haft-Urfehde" den Abschluss eines inquisitorisch geführten Strafverfahrens und sicherte "der jeweiligen Obrigkeit die Anerkennung des erhobenen Strafanspruchs", den sie nämlich ohne die Selbstbindung des Schwörenden nicht unbedingt durchzusetzen vermochte (107 f.). Heiner Lück konstatiert eine "Parallelität von außergerichtlicher Streitbeilegung und Strafgerichtsbarkeit" (87) in Kursachsen bis ins 16. Jahrhundert hinein und schließt seinen Beitrag mit einer Liste von Faktoren, die über die Wahl des einen oder des anderen Verfahrens zur Konfliktlösung entschieden, unter ihnen das finanzielle Interesse der Herrschaft. Auf die "integrative Kraft" (171) der Nürnberger Rechtsprechung im 15. Jahrhundert weist Ulrich Henselmeyer hin. Die Urteile orientierten sich am Einzelfall, Ziel war die Aussöhnung der Parteien. Niedergerichtlich gestrafte Alltagsdelikte wirkten sich auch auf Mehrfach- und Wiederholungstäter nicht kriminalisierend oder stigmatisierend aus, nicht einmal das Strafmaß wurde angehoben. Als "flexibel und funktionstüchtig" (237) bezeichnet Carl A. Hoffmann die Anwendung von Stadtverweis und Begnadigung - wenn eine Mindeststrafe abgeleistet war und eine Resozialisierung wahrscheinlich erschien - in der Reichsstadt Augsburg im 16. Jahrhundert. Ansätze eines Legalitätsprinzips erblickt Reinhold Schorer in der Verpflichtung der Augsburger Strafherren, Vergehen auf dem Gebiet der niederen Gerichtsbarkeit zu verfolgen.

Zum kirchlichen Strafrecht finden sich drei Beiträge: Lotte Kéry befasst sich mit dem Liber extra von 1234, in dem strafrechtliche Bestimmungen erstmals in einem eigenen Buch zusammengestellt sind und der eine "grundlegende Änderung in der Stellung des kirchlichen Strafrechts" markiert (242). Strafe und die - gewöhnlich nicht öffentliche - Buße sind klar gegeneinander abzugrenzen. Erstere wird im Hinblick auf die Gemeinschaft der Christen verhängt, letztere dient der Versöhnung mit Gott. Bei der Bestrafung zog die Kirche das Seelenheil aller Betroffenen genau in Betracht und nahm unter Umständen zugunsten des Heils eine Strafmilderung in Kauf. Daniela Müller widmet ihren Beitrag der Ausweitung des - ursprünglich bei Ketzerprozessen angewandten - summarischen Verfahrens, das auf viele Prozessformalitäten verzichtete und die Rechte des Angeklagten einschränkte. Frank Grunert untersucht die Rezeption der Straftheorie Thomas' von Aquin in der spanischen Spätscholastik, die "wirkungsgeschichtlich nachvollziehbare Bedeutung" erlangte (314).

Ein Beitrag Christoph Meyers zu Quellenproblemen mit Alfred Boretius' Edition des Liber Papiensis und seinem Verhältnis zur um die Wende des 11. zum 12. Jahrhundert entstandenen Lombarda sowie Fragen zu deren Vorlagen beschließt den Band. Der Autor gelangt zu dem Ergebnis, dass man für die ersten beiden Drittel des 11. Jahrhunderts in den Gebieten Oberitaliens mit langobardischem Recht wohl nicht von einem festen Corpus strafrechtlicher Regeln ausgehen kann. Den "eigentlichen Motor der Entwicklung hin zu einem lombardischen Strafrechtsbestand" (388) bildeten die Glossen der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in den Handschriften des Liber Papiensis und der Lombarda.

Positiv hervorzuheben ist insgesamt, dass mit diesen beiden Bänden die von Historikern sonst gebetsmühlenartig kritisierte dogmen- und institutionengeschichtliche Orientierung der Strafrechtsgeschichte durchbrochen wird; Juristen und Historiker stehen als Beiträger einträchtig nebeneinander.

Redaktionelle Betreuung: Matthias Schnettger

Empfohlene Zitierweise:

Eva Lacour: Rezension von: Hans Schlosser / Dietmar Willoweit (Hg.): Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 1999, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=169>

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

footer