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Sheilagh Ogilvie (Hg.): Germany. A New Social and Economic History, Vol. 2: 1630-1800, London: Arnold 1996, 426 S., ISBN 0340652160, $ 24,95

Rezensiert von:
Werner Freitag
Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg

Ein Sammelwerk ist anzuzeigen, das sich in Schwerpunktsetzung und Konzeptualisierungen von Teilen der bundesrepublikanischen Frühneuzeitforschung absetzt: Fragen nach sozioökonomischen Strukturen und Prozessen, nach alltäglicher Kultur und nach den Möglichkeiten und Grenzen frühmoderner Staatlichkeit sind es, die die britische Herausgeberin bei der Suche nach Autoren in der Bundesrepublik und in der Schweiz geleitet haben. Implizit oder explizit gehen die Aufsätze von der Überlegung aus, warum sich im Vergleich zu Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts England als die ökonomisch, politisch und kulturell weitaus offenere, dynamischere Gesellschaft erwies. Diese vergleichende Perspektive und damit die Einbettung in eine (west-)europäische Geschichtsschreibung machen den positiven Gesamteindruck des Werkes aus; zudem zeichnet sich das Sammelwerk durch Methodenpluralismus und eine Vielfalt benutzter theoretischer Ansätze und Konzepte mittlerer Reichweite aus. Auffallend ist an dem Sammelwerk zudem, dass Ogilvie der Sozialgeschichte im engeren Sinne und der Wirtschaftsgeschichte eine große Bedeutung zuerkennt. Gelungen ist in allen Artikeln der Versuch, die Themen nicht zu isolieren, sondern mit anderen gesellschaftlichen Bereichen zu verbinden.

Jörn Sieglerschmidt beschreibt die lange Dauer der "Landschaften" in Deutschland (Social and Economic Landscapes, 1-38), das heißt naturräumliche Gegebenheiten, Verkehrsbedingungen, Bodenschätze, Klima sowie Anbaumethoden und -regionen. Ein Beispiel: Die Lage der Städte veränderte sich, so Sieglerschmidt, vom Hochmittelalter bis zum Ende der frühen Neuzeit nicht. Naturräumliche Gegebenheiten und die Notwendigkeit, eine hinreichende Agrarversorgung im Umland zu finden, bestimmten das Weiterleben der Städte. Sieglerschmidt konstatiert jedoch, dass im Verlaufe des 18. Jahrhunderts die Einflüsse des Menschen, der sich zum Herrn über die Natur aufschwang, das Aussehen der Landschaften veränderten. Der Versuch Sieglerschmidts, auch in Anlehnung an Kötzschke, Anregungen der historischen Geographie und der Raumforschung zu nutzen, beleuchtet interessante Themen, enthält aber keine leitenden Kriterien, die das Kaleidoskop von Naturraum, Bewirtschaftungsmethoden, Verkehrswegen usw. in einen kohärenten Zusammenhang bringen.

Ernest Benz versucht die determinierenden Faktoren der Bevölkerungsgeschichte Deutschlands zwischen 1630 und 1800 herauszuarbeiten (Population Change and the Economy, 39-62). Für Benz manifestieren sich demographisch relevante Normen, Werte und ökonomische Lagen in "Institutionen", wobei der Institutionenbegriff unklar bleibt. Entscheidend ist für Benz, dass die "Institution" des Erbrechtes flexibel auf Wandlungsprozesse reagieren konnte und damit Bevölkerungsstatik und -dynamik erst ermöglichte. Benz unterscheidet Anerbenrecht und Realteilungsrecht. Das Anerbenrecht ermöglichte Wachstum auf der Basis der Multiplizierung ähnlicher Einheiten. Demgegenüber implizierte das Realteilungserbrecht den Zwang, nach neuen Lösungen zu suchen, was etwa zur Intensivierung der Agrarproduktion führte. Nachfolgend erweitert Benz seine Modellannahmen, indem er auf demographische "Lerneffekte" verweist (prudential checks), die der Malthusianischen Falle entgegenstanden. Hier diskutiert er die bekannten Faktoren Ehehindernisse, Heiratsalter usw. Die Gültigkeit seiner Ausführungen sucht Benz anhand expandierender Manufaktur- und Verlagsregionen zu belegen: In Anlehnung an das Theorem von der protoindustriellen Bevölkerungsweise konstatiert er ein Ansteigen der Bevölkerung. Dass diese Hypothese allerdings längst als widerlegt gelten muss, sei hier nur am Rande angemerkt.

Heide Wunder stellt Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft vor (Agriculture and Agrarian Society, 63-99). Nach einem Rückblick auf die historiographischen Debatten geht sie von der These aus, dass die Transformation der ländlichen Gesellschaft bereits vor den so genannten "Bauernbefreiungen" begonnen habe. Wunder verbindet die Geschichte der Agrarverfassung mit einer Sozialgeschichte der ländlichen Bevölkerungsgruppen. Sie beschreibt, differenziert nach Regionen, die Faktoren der außerökonomischen Herrschaft über Land und Leute. Anschließend behandelt sie das Sozialprofil der Gutsherren bzw. Grundherren in Eigenwirtschaft und Pachtbetrieb. Als Faktoren der Veränderung traten, so Wunder, neben staatliche Maßnahmen die Kommerzialisierung und damit die Intensivierung der Landwirtschaft; Gesetze des Marktes setzten sich immer mehr durch.

Peter Kriedte beschreibt außerordentlich anregend den Lokal- und den Exporthandel (Trade, 100-133). Er lässt sich von der Überlegung Marx' leiten, dass der Handel und mithin das Handelskapital zwischen Endprodukt, Zwischenprodukten und Rohstoffen vermittelte und die Produkte qua Marktbeziehungen zu Waren wurden. Strukturell nachteilig für Deutschland wirkte sich, so Kriedte, aus, dass sich das ökonomische Zentrum durch die Entdeckung der Kolonien allmählich von Mitteleuropa hin nach Westeuropa verlagerte. Die hohen Transportkosten wirkten sich zudem hinderlich aus. Im Folgenden stellt Kriedte die unterschiedlichen Händlertypen bis hin zum Wanderhändler vor und beschreibt dann die Märkte, Produkte, Handelswege und -krisen. Kriedte richtet sein Augenmerk immer wieder auf die Wege des Handelskapitals in den Produktionssektor.

Die nächsten beiden Aufsätze beschäftigen sich mit der Sozialstruktur. Olaf Mörke behandelt die ständische Gliederung in Territorien und Städten, das heißt die dem "Stand" innewohnende Tendenz des Ineinanderübergehens von sozialem Rang und Herrschaftsrechten bzw. Untertanenschaft (Social Structure, 134-163). Leiten lässt sich Mörke von einer idealtypischen Gegenüberstellung von Ständen und Klassen, orientiert an den Begrifflichkeiten von Max Weber. Er widmet sich dem Adel und dem Bürgertum, den ständischen Privilegien und ökonomischen Restriktionen sowie den gegenseitigen Abschottungen. Wie von Friedeburg und Mager (Learned Men and Merchants: The Growth of the Bürgertum, 164-195) unterstreicht auch Mörke die Spezifika des deutschen Bürgertums im Vergleich zu den englischen Mittelklassen und den französischen Notabeln. Mörke weist insbesondere auf den Bedeutungsverlust des ständisch eingebundenen Stadtbürgertums hin. Demgegenüber, so der Autor, wohnte der territorial orientierte Bürger neuen Typs zwar in der Stadt, war aber ökonomisch als Kaufmann bzw. Manufakturunternehmer auf das Territorium hin orientiert.

Paul Münch beschreibt die Etablierung des frühmodernen Territorialstaats (The Growth of the Modern State, 196-232). Zunächst diskutiert er die Unterschiede zwischen Personenverbandsstaat und institutionellem Flächenstaat und beschreibt die reichsrechtlichen Rahmenbedingungen. Sodann betont er die "vergleichsweise politische Schwachheit des Reiches", dem er aber aufgrund seiner föderalen Struktur die Chance zugesteht, den Frieden zu sichern. Nach dem vergeblichen Versuch von 1495, Reichsreformen und damit ein Mehr an Staatlichkeit durchzusetzen, fanden, so Münch, in den großen Territorien in Verfassungstheorie und -praxis sowie im Verwaltungsleben die entscheidenden Änderungen statt. Münch beleuchtet das Wachstum des Finanz-, Militär- und Polizeistaates am Beispiel von Territorialrecht und Behördenaufbau und betont ferner die Bestrebungen, das Leben der "Untertanen" zu regulieren. Die Grenzen der inneren Staatsbildung werden von Münch ebenso beschrieben wie die Leistungen: Aufnahme von Religionsflüchtlingen, Verbesserung der Infrastruktur, erste Agrarreformen sowie kameralistische Wirtschaftsförderung. Gleichwohl: Wirtschaftsreformen gelangten nicht nach "unten"; traditionelle Bindungen überlebten, und Grundherrschaft und Gutsherrschaft blieben im Großen und Ganzen unberührt. Immer wieder nimmt Münch Vergleiche mit anders gelagerten Entwicklungen in England vor. Spannend ist seine Abschlussbetrachtung: Die vorhandenen Traditionslinien vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staat des 19. Jahrhunderts blockierten Wege zu einer demokratischen Gesellschaft.

Bernhard Stier und Wolfgang von Hippel behandeln den Zusammenhang zwischen Krieg, Gesellschaft und Wirtschaft (War, Economy, and Society, 233-262). Der Dreißigjährige Krieg, aber auch die regional begrenzten Auseinandersetzungen konnten in einigen Regionen zu einem Auftragsboom führen, in anderen Regionen Wirtschaftskrisen verursachen, von den Folgen für die Bevölkerung ganz abgesehen. Langfristige negative Auswirkungen sehen die Autoren vor allem im "crowding out" der privaten Nachfrage und Investitionen durch die Militärnachfrage. Für die innere Staatsbildung wichtig war die Finanzierung der stehenden Heere und damit der Übergang von extraordinären Kriegsschatzungen zu regelmäßigen Steuern. Für Brandenburg-Preußen werden dann die fatalen Auswirkungen der Militarisierung auf die Organisierung der Gesellschaft aufgezeigt.

Sheilagh Ogilvie geht es um den Beginn der Industrialisierung (263-308), wobei ihr Begriff "Industrialisierung" auf Sombarts und Kaufholds Überlegungen zu Gewerbelandschaften verweist. Sie konstatiert um 1600 ein auch im Vergleich zu England großes Entwicklungspotential in Deutschland, das aber dann im Gegensatz zu Westeuropa nicht zur Entfaltung gekommen sei. Vielmehr sei es zu Deindustrialisierung und relativer Rückständigkeit gekommen. Um 1800 vermochten die deutschen Gewerbelandschaften der Herausforderung durch die englische Fabrikindustrie nichts entgegensetzen. Zunächst setzt sich Ogilvie mit dem Protoindustrialisierungskonzept auseinander - sie kritisiert u.a. die Fixierung des Konzepts auf ländliche Regionen und auf das Verlagswesen - und referiert dann die ungleiche Verteilung der frühmodernen Gewerbelandschaften in Deutschland. Da für Ogilvie das Protoindustrialisierungskonzept die Deindustrialisierung nicht erklären kann, argumentiert die Autorin mit den Opportunitätskosten, das heißt den Kosten möglicher alternativer Entwicklungen, die in Deutschland die Wege zur Industrialisierung verteuerten bzw. verhinderten. Ogilvie überträgt also an dieser Stelle das mikroökonomische Konzept der Opportunitätskosten auf die Makroebene, doch verzichtet sie auf die genauere Ableitung und eine quantitative Exaktheit. Der Begriff "Opportunitätskosten" hat in diesem Sinne heuristische Funktion und könnte vielleicht mit "Standortnachteil" übersetzt werden. Von den Voraussetzungen war Deutschland, so Ogilvies anregende These, bestens für die Gewerbeproduktion ausgestattet, doch für arbeitsteilige, marktorientierte und kapitalintensive Herstellung gab es gewichtige, die Produktion verteuernde Faktoren: Ogilvie nennt die zunehmende Regulierung der Märkte durch den frühmodernen Staat, die territoriale Fragmentierung, den großen Einfluss korporativer Bindungen in der Stadt und auf dem Land und die staatliche Luxusnachfrage, welche der optimalen Allokation entgegenstanden. Bei den Kosten des Faktors Arbeit diskutiert Ogilvie die Möglichkeiten "feudaler Protoindustrie" in Schlesien im Vergleich mit dem freien Arbeitsmarkt westlicher Gewerberegionen. An den hohen Opportunitätskosten änderte, so Ogilvie, auch der frühmoderne Staat nichts, ganz im Gegenteil: die fiskalistische Kameralpolitik verhinderte mitunter neue Techniken und Produkte und zeichnete sich durch Privilegierung aus. In "staatsfernen" Regionen sei das Wachstum intensiver gewesen als in Regionen staatlicher Gewerbeförderung. Abschließend sieht Ogilvie Anlass zu weiterer Forschung über den Zusammenhang von marktorientierter Produktion und Konsumtion.

Der folgende Aufsatz von Kaspar von Greyerz (Confession as a Social and Economic Factor, 309-349) steht nicht, wie es der Titel vermuten lässt, im Kontext der Diskussion um das Konzept der Konfessionalisierung. Vielmehr wendet sich Greyerz gegen eine Betrachtung des Sujets vom Fluchtpunkt der Moderne aus. Staatsbildung und Konfessionalisierung beschreibt er im Unterschied zu Reinhard und Schilling als zwei nebeneinanderher verlaufende Prozesse. Greyerz warnt auch davor, Religion und Konfession mit dem Konzept der Sozialdisziplinierung allzu eng zu verbinden. Greyerz plädiert für einen weiten Betrachtungszeitraum von 1580 bis 1740 und sieht den frühmodernen Konfessionsstaat als Impulsgeber. Im Weiteren behandelt Greyerz die Auswirkung der Konfessionen auf Familie und Geschlechterrollen und diskutiert die Bestandteile konfessioneller Kulturen zum Beispiel anhand des Buchbesitzes, überschätzt m.E. aber die Eigenständigkeiten der Volkskultur - Marc Forsters Speyer-Studie ist kein Beleg für Allgemeingültigkeit. Greyerz' Schlusspunkt ist die Diskussion um die Rolle von Konfession und Wirtschaft. Hier setzt er sich mit Aspekten protestantischer Ethik auseinander, wobei er den sozialen Faktor der Sektenbildung stärker macht als die doppelte Prädestination.

Die Originalität der britischen Anthologie zeigt sich nochmals in den beiden abschließenden Beiträgen: Ernst Schuberts Kaleidoskop des alltäglichen Lebens fasst vieles, was sich in den Konzepten zu wirtschaftlicher Entwicklung, Staats- und Klassenbildung nicht fassen lässt, nichtsdestotrotz aber von Belang ist, um Strukturen langer Dauer nochmals zu vertiefen (Daily Life, Consumption, and Material Culture, 309-349). Schubert stellt damalige Nahrungs- und Genussmittel vor, beschreibt Raum- und Zeiterfahrung sowie die regional und sozialschichtig unterschiedlichen Wohnverhältnisse und Kleidungsgewohnheiten. Heiratsverhalten und Illegitimität sowie Veränderung der Landschaft sind weitere Punkte.

Eher dem sozialgeschichtlichen Kontext ist Robert Jüttes Artikel über Armut und deren gesellschaftlicher Wahrnehmung zuzuordnen (Poverty and Poor Relief, 377-403). Zunächst diskutiert Jütte die vorindustrielle Genese der Armut aufgrund von Krankheit, Krieg und Krisen vom Typ ançien. Im Folgenden behandelt er strukturelle Gegebenheiten, die den engen Nahrungsspielraum der frühneuzeitlichen Gesellschaft erkennen lassen. Im zweiten Teil des Aufsatzes referiert Jütte die unterschiedlichen Sichtweisen von Armut und die sich hieraus ergebenden Lösungsstrategien der Gesellschaft. Hier ist vor allem auf die humanistische und reformatorische Abkehr von der überkommenen Definition von Armut zu verweisen.

Es wird deutlich, dass mit dem Sammelband ein umfassender, den neuesten Stand der Forschung berücksichtigender Überblick über das frühneuzeitliche Deutschland geboten wird. Die Schwerpunktsetzung, die westeuropäisch-vergleichende Perspektive und die Nutzung von Konzepten und Theorien wirtschaftlich-sozialen Wandels und sozialer Ungleichheit sind ein von der Herausgeberin intendiertes Korrektiv gegenüber der zum Teil in Deutschland geführten Diskussion über Nation, Identität, "Altes Reich", aber auch gegenüber manchen "kulturgeschichtlichen" Beliebigkeiten. Insofern tritt der Band einer Nabelschau entgegen.

Redaktionelle Betreuung: Ute Lotz-Heumann

Empfohlene Zitierweise:

Werner Freitag: Rezension von: Sheilagh Ogilvie (Hg.): Germany. A New Social and Economic History, Vol. 2: 1630-1800, London: Arnold 1996, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=167>

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