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Mathieu Marraud: La Noblesse de Paris au XVIIIe Siècle. Préface de Guy Chaussinand-Nogaret, Paris: Seuil 2000, 571 S., ISBN 2-02-037210-X, FF 150,00

Rezensiert von:
Daniel Schönpflug
Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität, Berlin

Es war einmal - vor langer, langer Zeit - üblich, die Ursprünge der Französischen Revolution in den Konflikten einer rückständigen Aristokratie mit einem dynamischen, durch wirtschaftlichen Erfolg gestärkten und durch geistige Leistung selbstbewusst gewordenen Bürgertum zu suchen. "Bürgerliche Revolution" lautete der Titel einer Metaerzählung, mit der marxistische Historiker die Ereignisse von 1789 zu erklären und gleichzeitig die Machtübernahme von Bourgeoisie und Kapitalismus zu entlarven versuchten. Doch in den 50er Jahren trat - gleichsam in der Rolle eines liberalen Märchenprinzen - der englische Historiker Alfred Cobban auf und befreite das Edelfräulein Revolution aus den Fängen des marxistischen Drachens. Cobban legte nahe, dass weder das Bürgertum von 1789 kapitalistisch, noch der gesamte Adel rückständig war, und dass es ein Zusammenspiel zwischen Teilen beider Gruppen gab, aus dem später die revolutionäre Elite entstand. François Furet, William Doyle, Colin Lucas, Roger Chartier, Guy Chaussinand-Nogaret und andere haben diese Thesen durch empirische Arbeiten untermauert und so eine revisionistische Schule ins Leben gerufen.

Inzwischen sind viele Jahre ins Land gegangen, und der Drachen liegt - trotz periodischer Wiederbelebungsversuche - tot am Boden. So könnte man sich fragen, welche Daseinsberechtigung ein Buch hat, das den dynamischen Wandlungsprozess des französischen Adels im 18. Jahrhundert sowie seine Annäherung an das Bürgertum untersucht und damit sperrangelweit offen stehende Türen einrennt. Im Bezug auf Michel Marrauds Buch ist diese Frage indes nicht schwer zu beantworten: Es ist deshalb wichtig, weil es die revisionistische Deutung, die zunächst eine sozial-, später eine kulturgeschichtliche war, durch eine stadthistorische Perspektive ergänzt. So gelingt es tatsächlich, neues Licht auf die Mechanismen adeliger Erneuerung und adelig-bürgerlicher Annäherung zu werfen. Es kann plausibel gemacht werden, dass die städtischen Orte und Institutionen, die nur dort möglichen Karrieren, die in der Enge der Stadt entstehenden sozialen Netzwerke und die städtische Kultur teils Rahmenbedingungen, teils Ergebnisse eines solchen gesellschaftlichen Prozesses waren. Dahinter steht einerseits die These, dass die Prägung des Adels durch Landschloss und Hof bislang über- und seine städtische Einbindung unterschätzt wurde, andererseits die Frage, ob und inwiefern die Stadt - und insbesondere Paris - Katalysator, ja sogar Motor für die Genese von Eliten in der Neuzeit war.

Als Quellen zieht Marraud zum einen Steuerlisten, Listen der Wähler bei den Generalständen und den "Almanach de Paris", zum anderen adelige Autobiographien und zeitgenössische Paris-Literatur heran. In dieser Quellenauswahl ist eine Konzentration auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, eigentlich auf das letzte Jahrzehnt vor der Revolution, angelegt; dies korrespondiert jedoch mit dem thematischen Interesse insofern, als die adelige Neubestimmung erst in dieser Zeit wirklich einsetzte.

In seinem einleitenden Kapitel umreisst Marraud zunächst die Geschichte der adeligen Landflucht, die schon in der Zeit der Glaubenskriege begann. Damals wurden Städte zu Sammel- und Fluchtpunkten der gegnerischen Parteien. Das von den absolutistischen Königen über das Land gelegte Netz von administrativen, juristischen, militärischen und fiskalischen Institutionen hatte seine Knotenpunkte ebenfalls in den Städten. Da "Servir le Roi" immer weniger Waffendienst und immer mehr Dienst in eben jenen Institutionen bedeutete, waren viele Adelige gezwungen, zumindest für einen Lebensabschnitt ihre Landschlösser zu verlassen. Wichtigster urbaner Knotenpunkt war Paris, wo sich in der Nähe des obersten Befehlshabers und des Kriegsministeriums die militärischen Eliten aufhielten, wo der Conseil du Roi und die Cours Souveraines (Parlement, Grand Conseil, Chambre des Comptes, Cour des Aides, Cour des Monnaies) tagten und die Zentrale der Finanzverwaltung ansässig war, wo die Prévôté de l´Hôtel du Roi zahlreiche Adelige in Amt und Würde setzte und wo die zur Nobilitierung so günstigen Offices de Secrétaire du Roi in großer Zahl vergeben wurden. So lebten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 45% der französischen Adeligen vorwiegend in Städten. Die Zahl der Adeligen in Paris schätzt Marraud auf etwa 15.000-17.000, was etwa 3% der Stadtbevölkerung entspricht. Diese Zahlen dürfen insofern nicht überinterpretiert werden, als zwar ein großer Teil des Adels eine städtische Existenz führte, aber nur ein geringer Teil desselben eine ausschließlich städtische. Regelfall war vielmehr eine "nomadische" Existenz, deren Eckpunkte neben städtischem Hôtel eben auch ländliches Schloss, höfisches Appartement, Wohnsitz im Faubourg und "Folie" nahe der Stadt sein konnten. Die Kategorie "städtischer Adel" ist daher - auch wenn es durchaus ein sich vom Landadel abgrenzendes städtisches Selbstbewusstsein gab - problematisch.

Die Konsequenzen der adeligen Landflucht und die Neudefinition des zweiten Standes im städtischen Kontext stellt Marraud in drei großen Kapiteln dar, von denen sich das erste mit den Formen und Orten adeligen Wohnens in Paris, das zweite mit den in der Hauptstadt entstehenden sozialen Netzwerken, das dritte mit den kulturellen Aktivitäten des urbanen Adels befasst. Zunächst nimmt Marraud eine innerstädtische Migrationsbewegung des Adels in den Blick, die von dem am Anfang des 18. Jahrhunderts üblichen prächtigen Hôtels Particuliers im Marais in den sich zunehmend entwickelnden Nordosten der Stadt führte. Diese war motiviert durch den Wunsch, die unmittelbare Nähe des Handwerkervorortes Saint-Antoine zu verlassen und sich in die Bezirke zu begeben, wo die reichen Financiers, also die "bürgerlichste" Gruppe innerhalb des Adels, in prunkvollen Stadtpalästen wohnten. Gleichwohl betont Marraud, dass es zu keiner Zeit ein adeliges "Ghetto" gab, und dass der Grad der Vermischung zwischen adeligen und übrigen Parisern immer hoch war.

Im zweiten Teil untersucht Marraud die Entstehungsbedingungen von Heiratsnetzwerken, wobei er drei Ehestrategien unterscheidet: Die engsten Heiratskreise strebten die nach wie vor erfolgreichen Gruppen innerhalb des Schwertadels an, bei denen konsanguinische Heiraten, die eine klare Distinktion der eigenen Gruppe ermöglichten, keine Seltenheit waren. Die wohletablierten Familien der "Robe" hingegen heirateten innerhalb ihrer exklusiven Schicht, jedoch seltener innerhalb der eigenen Familie. Daneben existierte jedoch ein regelrechtes "système des mésalliances", das Titel und Geld zusammenbringen und sozialen Aufstieg befördern bzw. Abstieg verhindern konnte. Solche Heiraten führten fast nie zu Bindungen zwischen Adel und Bürgertum, jedoch häufig zu Heiraten zwischen altem und neuen Adel. Wie wichtig die familiären Netzwerke für die Konstituierung der Funktionseliten waren, zeigt Marrauds Analyse von Rekrutierungsmechanismen: In allen Tätigkeitsfeldern des Adels, sei es Hof, Militär, Verwaltung, Justiz oder "Finance", holten die etablierten Mitglieder einer Familie ihre Kinder oder andere jüngere Verwandte nach, so dass regelrechte Dynastien von Amtsinhabern entstanden. Der Neuadel konnte also durch geschicktes Heiraten nicht nur in den Kreis alter Familien, sondern auch an lukrative Ämter und Chargen gelangen. Darüber hinaus untersucht Marraud die Einkünfte verschiedener Gruppen innerhalb des zweiten Standes. Auch hier zeigt sich die Offenheit bestimmter Teile dieser Schicht für die bürgerliche Welt: Der Landbesitz wurde mehr und mehr den Gesetzen eines frühen landwirtschaftlichen Kapitalismus unterworfen. Die Mitglieder der "Finance" spekulierten mit Steuereinnahmen. Sehr diskret beteiligten sich die für Neuerungen offenen Schichten des Adels - also vor allem die "Robe" und insbesondere die "Noblesse Financière" - auch an spekulativen Geldgeschäften.

Schließlich nimmt Marraud das kulturelle Leben des Stadtadels in den Blick. In diesem Feld, das von der französischen Kulturgeschichte schon ausgiebig beackert ist, kann die Studie wenig Neues liefern. Immerhin bestätigen die Aussagen über literarische Produktion, Salons und Logen die Grundthese einer Annäherung von Adel und Bürgertum.

Die Leitfrage, welche Rolle das städtische Milieu für die Dynamisierung des Adels im 18. Jahrhundert spielte, ist somit überzeugend beantwortet: Das Eintauchen in die Stadt, diesen bürgerlichsten aller Lebensräume, spaltete den Adel in zwei Großgruppen: die eine war imprägniert und beharrte auf ihren hergebrachten Überzeugungen und Lebensweisen, die andere jedoch wurde von dem sie umgebenden Milieu durchtränkt; Wohnen, Verwandtschaft, Profession, Gelderwerb, kulturelle Produktion und Wertehorizont wandelten sich grundlegend. Nicht Niedergang, sondern Erneuerung, nicht Domestizierung des Adels, sondern Befreiung sind hier zu beobachten, und tatsächlich ist es die Welt der Revolution, die sich in der Hauptstadt zu formieren beginnt. Marrauds Studie wird die französische Adelsgeschichtsschreibung nicht revolutionieren, aber es ist ihm durch überaus gründliches Studium einer sozialen Gruppe gelungen, einer alten Debatte neue Argumente hinzuzufügen.

Redaktionelle Betreuung: Gudrun Gersmann

Empfohlene Zitierweise:

Daniel Schönpflug: Rezension von: Mathieu Marraud: La Noblesse de Paris au XVIIIe Siècle. Préface de Guy Chaussinand-Nogaret, Paris: Seuil 2000, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=165>

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