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Nils Jörn / Michael North (Hg.): Die Integration des südlichen Ostseeraums in das Alte Reich (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 35), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2000, VIII + 554 S., ISBN 3-412-09900-7, DM 118,00

Rezensiert von:
Sigrid Westphal
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena

Die Geschichte des Ostseeraums war bisher eine Domäne der Hanseforschung und der Landesgeschichtsschreibung. Aus der Perspektive der Reichsgeschichte galt dieses Gebiet als königs- bzw. reichsfern. Nun muss diese Wertung korrigiert werden. Ein dreijähriges Forschungsprojekt, das gemeinsam von Michael North (Greifswald), Wolfgang E. J. Weber (Augsburg) und Olaf Mörke (Kiel) getragen wurde, widmete sich den beiden Fragen, auf welche Weise die Integration des südlichen Ostseeraums in das Alte Reich verlief und wie sich das Verhältnis zum Reich gestaltete. Dabei orientierte man sich vor allem an dem von Georg Schmidt entwickelten Modell des komplementären Reichs-Staats, welches das Alte Reich als eine Verteidigungs-, Rechts- und Steuergemeinschaft begreift. Der vorgestellte Sammelband präsentiert die Ergebnisse der Forschungsarbeit, wobei die elf Aufsätze im Umfang erheblich voneinander abweichen.

In der Einleitung von Michael North werden der Rahmen des Projekts und die Fragestellung näher eingegrenzt. Den geographischen Schwerpunkt bildeten demnach die Hansestädte Hamburg und Lübeck, die Herzogtümer Holstein, Mecklenburg, Pommern und Sachsen-Lauenburg sowie die Bistümer Lübeck, Ratzeburg, Schwerin und Kammin. Ausgehend von der Definition, dass Integration die Eingliederung in ein größeres Ganzes und auch den darauffolgenden Zustand meint, folgt North bei der Bestimmung der Integrationsformen einem Modell, das für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde. Demnach kann Integration auf mehrere Weisen erfolgen: durch die Zentralisation von Entscheidungen, durch die Zunahme politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verflechtungen, durch die Ausbildung gemeinsamer Strukturen, Institutionen und Werte und schließlich deren Wahrnehmung und publizistische Verarbeitung. Der Herausgeber weist auch auf Tendenzen der Desintegration hin und betont die Schwierigkeit, die verschiedenen Integrationsformen in der Frühen Neuzeit voneinander zu trennen.

Als Ergebnis hält er fest, dass sich im südlichen Ostseeraum alle Formen der Integration finden lassen, wobei North der Ausbildung gemeinsamer Strukturen, Institutionen und Werte die größte Bedeutung beimisst. Zentral ist aus seiner Perspektive vor allem die Akzeptanz der obersten Gerichte im Reich. Dieses Fazit der Forschungsarbeit spiegelt sich auch in der Struktur des Sammelbandes wider. Knapp die Hälfte des Buches widmet sich dem Thema Reichsgerichtsbarkeit bzw. territoriale Gerichtsbarkeit und den in diesem Zusammenhang beschäftigten Eliten (Bernhard Diestelkamp, Tobias Freitag und Nils Jörn). Die andere Hälfte teilen sich Beiträge über das Verhältnis zum Reichstag (Martin Krieger), die Zahlungsmoral bei der Reichssteuer (Nils Jörn), die Stellung zur Türkenabwehr (Nils Jörn), die politische Identität in den Grenzregionen Holstein und Schwedisch-Pommern (Olaf Mörke) und über den südlichen Ostseeraum in der Reichspublizistik (Wolfgang E. J. Weber).

Fast alle Autoren stellen die zunehmende Integration des südlichen Ostseeraums ins Reich fest, wobei offensichtlich Nützlichkeitserwägungen sowohl von Seiten der Territorien als auch des Kaisers eine wichtige Rolle spielten. So traten die norddeutschen Reichsstände auf dem Reichstag immer dann besonders stark in Erscheinung, wenn ihre Interessen berührt wurden, wie beispielsweise bei der Abwehr der englischen Konkurrenz der Merchant Adventurers. Die Kaiser versuchten andererseits, den Norden stärker an der Türkenabwehr zu beteiligen. In dieser Hinsicht dürfte sich allerdings die Situation der norddeutschen Reichsstände kaum von der anderer Reichsstände unterschieden haben. Auch sie sahen in der finanziellen Unterstützung des Kaisers im Türkenkrieg eine nationale, christliche Pflicht, der man sich nicht entziehen wollte. Wesentlich schlechter war dagegen die Zahlungsmoral beim Kammerzieler, wobei sicherlich institutionelle Schwächen des Reichsapparates, der keine Druckmittel zur Eintreibung der Reichssteuer vorsah, die größte Rolle gespielt haben dürften. Im Vergleich zum Reichsmaßstab wird jedoch eine insgesamt durchschnittliche bis sehr gute Zahlungsbereitschaft konstatiert, die ebenfalls maßgeblich zur Integration ins Reich beitrug.

Auf der Ebene der juristischen Reichs-, Tages- und historisch-geographisch-statistischen Publizistik schlug sich diese Entwicklung weniger nieder. Die Wahrnehmung des südlichen Ostseeraums in der Reichspublizistik war geringer als die des engeren Reichssystems. Erst die Expansion Schwedens und Dänemarks sowie der Aufstieg von Brandenburg-Preußen führten zu einer Bedeutungssteigerung Norddeutschlands, dennoch wurde der Fokus der Reichspublizistik auf die Kernräume des Reiches nie aufgegeben. Ähnliche Entwicklungslinien lassen sich auch für die anderen publizistischen Bereiche festhalten. Die desintegrativen Faktoren werden am Beispiel Holsteins und Schwedisch-Pommerns deutlich, die sich einerseits an Dänemark, andererseits an Schweden orientierten. Von einer prinzipiellen Hinwendung des Nordens zum Reich kann demnach keine Rede sein, zumal für diese Territorien außerreichische Gerichte und Institutionen geschaffen wurden, die eine Alternative zur komplementären Struktur des Reiches darstellten. Wie dies funktionierte, wird am Beispiel des Wismarer Tribunals deutlich, das die Schweden nach dem Westfälischen Frieden für ihre norddeutschen Reichslehen errichteten.

Den höchsten Aussagewert besitzt sicherlich die Untersuchung zur Inanspruchnahme der obersten Reichsgerichte im südlichen Ostseeraum im Zeitraum von 1495 bis 1806, die auch den weitaus größten Platz innerhalb des Bandes einnimmt (Tobias Freitag, Nils Jörn). Sie reiht sich in die quantitativen Analysen der reichskammergerichtlichen Tätigkeit ein, die maßgeblich von Filippo Ranieris Arbeiten angeregt wurden. Diese trugen dazu bei, die traditionelle Vorstellung von einem einheitlichen formalen Geltungsbereich des Gerichts zu korrigieren, indem dessen zeitliche und geographisch unterschiedliche Inanspruchnahme nachgewiesen werden konnte. Das Aufzeigen von regionalen Tätigkeitsschwerpunkten führte zu einem wesentlich differenzierteren Bild der Reichsjustiz im 16. und 17. Jahrhundert. Sektorale Analysen liegen mittlerweile für den Niederrheinisch-Westfälischen Kreis und das westliche Niedersachsen vor. Im Unterschied dazu bezieht die Studie zum südlichen Ostseeraum jedoch die Prozesse am Reichshofrat mit ein, wodurch ein ausgewogeneres Bild der Reichsgerichtsnutzung entsteht. Zudem wird die gesamte Dauer des Alten Reiches analysiert, was die Beobachtung langfristiger Entwicklungen erlaubt.

Ausgangspunkt bildet die These von Bernhard Diestelkamp, dass die Reichsgerichtsbarkeit neben dem Lehnsrecht eines der Bindeglieder des Alten Reichs gewesen sei und die Zugehörigkeit einzelner Reichsgebiete zum Ganzen rechtlich fixiert habe. Auch nach Georg Schmidt zeigt sich der komplementäre Charakter der Staatlichkeit im Alten Reich an der integrativen Funktion von Reichsgerichtsbarkeit. Der durch die Reichsgerichte vermittelte Dialog zwischen Kläger und Beklagtem, der mit Hilfe der übergeordneten Reichsnormen gesteuert wurde, band die Reichsstände nicht nur an Kaiser und Reich, sondern wirkte darüber hinaus angleichend.

Zahlreiche Aspekte der Inanspruchnahme von beiden Reichsgerichten sollen diese Annahmen für den südlichen Ostseeraum untermauern. Untersucht wird beispielsweise, warum sich eine Partei für das Reichskammergericht oder den Reichshofrat entschied. Offensichtlich wusste man im Norden des Reichs sehr genau, bei welchem Gericht die höheren Chancen bestanden, einen Prozess schnell, professionell und mit der nötigen Durchsetzungskraft zu führen. Die meisten Parteien des südlichen Ostseeraums, die häufig den vermögenden städtischen Schichten oder dem niederen Adel angehörten, entschieden sich für das Reichskammergericht. In der Regel kamen beide Kontrahenten aus demselben Territorium. Immerhin betrug der Anteil der Parteien aus dem südlichen Ostseeraum am Gesamtarbeitsaufkommen des Reichskammergerichts fast 10%. Im Großteil der Fälle handelte es sich dabei um Appellationsverfahren. Die Verfasser vermuten, dass den Parteien der Weg an den Wiener Reichshofrat einfach zu weit war. Bei schwerwiegenderen Entscheidungen, die staatlich-hoheitliche oder reichspolitische Belange berührten, tendierten die Kläger allerdings zum Reichshofrat, da solche Probleme in der Regel im Umfeld des Kaiserhofes entschieden wurden. Auch von der Lahmlegung des Reichskammergerichts in Folge der Ingelheimschen Affaire zu Beginn des 18. Jahrhunderts konnte das kaiserliche Gericht profitieren. Seine Inanspruchnahme erreichte aber offenbar niemals das hohe Niveau der reichskammergerichtlichen Nutzung gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts.

Bei der quantitativen Auswertung der Streitgegenstände dominierten die Bereiche Geldwirtschaft sowie Handel und Gewerbe, während Auseinandersetzungen über Grund- und Bodenrechte, die Grundherrschaft oder die Jurisdiktion weniger ins Gewicht fielen. Die sogenannten Untertanenprozesse, die bisher im Mittelpunkt der Forschung standen, spielten so gut wie keine Rolle. Auch konfessionelle Gesichtspunkte waren von nachgeordneter Bedeutung.

Das Fazit der Verfasser lautet, "daß der Reichsnorden durchaus als normal im Reichsdurchschnitt angesehen werden kann und an seiner Integration in der Frage der Inanspruchnahme der obersten Reichsgerichte kein Zweifel bestehen dürfte" (141). In der Tat muss die Funktion der Reichsgerichte neu definiert werden. Sie schützten eben nicht nur die Rechte von Korporationen oder Untertanenverbänden gegenüber ihrem Territorialherrn, sondern besaßen viel weitreichendere Aufgabenfelder. Insbesondere ihre ökonomische Bedeutung wurde bis jetzt weitgehend unterschätzt.

Es ist nicht nur das Verdienst des Sammelbandes, diesen Aspekt stärker ins Bewusstsein gerückt zu haben, er stellt auch einen eindrücklichen Beleg für die Existenz des Reichs-Staats dar. Der Norden des Reichs demonstrierte durch die Nutzung von Reichsinstitutionen und die Übernahme der damit verbundenen Lasten und Pflichten, dass er sich als Teil des Reichs verstand. Soziale Verflechtungen und Klientelbeziehungen, die bei anderen Territorien eine wesentlich wichtigere Rolle für die Integration ins Reich spielten, fehlten hier zum Teil völlig. Das Reich manifestierte sich im Norden in erster Linie durch die Reichsinstitutionen. Weitere regionale Untersuchungen werden zeigen müssen, was das spezifische an der Integration des Ostseeraums darstellt.

Insgesamt handelt es sich bei dem Sammelband um ein wichtiges Werk, welches eine Lücke sowohl für die Landesgeschichte als auch die Reichsgeschichte schließt. Es zeigt auf, wie zentral Reichsinstitutionen für den inneren Zusammenhalt und die Integration im Reichs-Staat waren. Allerdings wirft die methodische Herangehensweise auch Fragen auf. So bleibt der Begriff Raum im Gegensatz zu Region oder Reichskreis unbestimmt. Genügt überhaupt eine rein geographische Zuschreibung, um gemeinsame Entwicklungslinien festzulegen? Vor dem Hintergrund, dass das definierte Untersuchungsgebiet mit dem Nebeneinander von Bistümern, Hansestädten und Fürstentümern eine heterogene Struktur aufweist, sind die auf Durchschnittswerten beruhenden quantitativen Analysen mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Denn zum einen stehen die einzelnen Territorien in einem unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Verhältnis zu Kaiser und Reich, zum anderen existiert ein erhebliches wirtschaftliches Gefälle zwischen Handelsmetropolen und ländlich geprägten Territorien. Selbst quantitativ unterlegte Gesamtaussagen für den südlichen Ostseeraum neigen somit unwillkürlich zur Nivellierung dieser Unterschiede. Dennoch bieten die Analysen eine wichtige Orientierung für weitergehende Untersuchungen.

Redaktionelle Betreuung: Matthias Schnettger

Empfohlene Zitierweise:

Sigrid Westphal: Rezension von: Nils Jörn / Michael North (Hg.): Die Integration des südlichen Ostseeraums in das Alte Reich, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2000, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=163>

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