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Martin Scheutz: Alltag und KriminalitĂ€t. Disziplinierungsversuche im steirisch-österreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert (= Mitteilungen des Instituts fĂŒr Österreichische Geschichtsforschung; ErgĂ€nzungsband 38), MĂŒnchen: Oldenbourg 2001, 599 S., ISBN 3-486-64844-6, DM 134,00

Rezensiert von:
Falk Bretschneider
École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris

Die kriminalitĂ€tsgeschichtliche Arbeit von Martin Scheutz unternimmt anhand eines umfangreichen Quellenkorpus, der Akten des niederösterreichischen Landgerichts Gaming sowie des Marktgerichtsprotokolls des kleinen Marktes Scheibs, den bisher viel zu wenig angegangenen Versuch, die makrohistorisch-normativ argumentierenden DisziplinierungsansĂ€tze mit der mikrohistorischen Überlieferung zu konfrontieren. Nach einem kurzen Streifzug durch die verschiedenen Rationalisierungs-, Zivilisierungs- und Disziplinierungskonzepte von Max Weber, Norbert Elias und Gerhard Oestreich (Michel Foucault wird, obwohl erwĂ€hnt, nicht nĂ€her berĂŒcksichtigt), den Konfessionalisierungsansatz und kulturanthropologische Ordnungsmodelle, gibt Scheutz zunĂ€chst einen ForschungsĂŒberblick ĂŒber die österreichische KriminalitĂ€tsgeschichte. Anhand der vorliegenden Arbeiten zu normativen Ordnungen, Strafprozessakten und der Strafvollzugspraxis kommt er zu dem Schluss, dass die Historische KriminalitĂ€tsforschung in Österreich "noch immer weitgehend am Beginn" stehe und vor allem LĂ€ngsschnittuntersuchungen wie mikrogeschichtliche AnsĂ€tze "bisher kaum verwirklicht wurden" (63).

In den folgenden Kapiteln untersucht Scheutz das spannungsgeladene VerhĂ€ltnis zwischen dem Gaminger Landgericht, dem Scheibser Marktgericht und deren ReprĂ€sentanten (herrschaftlicher Hofrichter und bĂŒrgerlicher Marktrichter), dem Gaminger PrĂ€laten als Stadtherrn und dem Scheibser Rat sowie der dortigen, hauptsĂ€chlich vom Eisen- und Provianthandel lebenden Stadtgesellschaft. In mitunter feinen, detailreichen Einzelbildern zeichnet der Autor Lebenswelten frĂŒhneuzeitlicher Gerichtsadministration nach und leuchtet die Rollen von Gerichtsdienern, Scharfrichtern, Schulmeistern, Tor- und NachtwĂ€chtern und Viehhirten als Agenten obrigkeitlicher Disziplinierungsbestrebungen aus. Dabei kommt er zu einem Befund, der eigentlich nicht verwundern dĂŒrfte. In zahlreichen EinzelfĂ€llen findet Scheutz beim Umgang mit kriminellen Normverletzungen zwar eine eindeutige und durchaus harte normative Ebene vor, die sich jedoch auflöst in einer vielfĂ€ltigen sozialen Praxis. So wurde etwa die Todesstrafe bei Diebstahlsdelikten im Untersuchungszeitraum weitaus maßvoller angewandt als die Kodifikationen glauben machen wollen (168). Dies lĂ€sst sich nicht zuletzt dadurch erklĂ€ren, dass der Scharfrichter des Gaminger Landgerichts von außerhalb zur Hinrichtung einbestellt werden musste und die Strafschauspiele fĂŒr die ohnehin defizitĂ€ren Landgerichte (181) recht kostenintensiv (171) waren. Interessant ist auch die große Rolle, die Scheutz der Feuerangst fĂŒr "Binnenstrukturierung und Disziplinierung der stĂ€dtischen BĂŒrgerschaft" beimisst.

Die StĂ€rke des Buches liegt in den vielen plastischen Skizzen, mit denen der Autor die verschiedenen Beteiligten am lokalen frĂŒhneuzeitlichen Rechtssystem vorstellt. Mit seinem mikrogeschichtlichen Ansatz schreibt Scheutz damit eine neue Art von Institutionengeschichte, welche sich von der Starre gesichtsloser Einrichtungen löst und vielmehr die mögliche Dynamik sozialer Aushandlungsprozesse deutlich macht. Zwar kommt Scheutz nicht unbedingt zu anderen Ergebnissen als vorliegende Arbeiten (zu Scharfrichtern und Abdeckern etwa die Studie von Jutta Nowosadtko), aber er kann das vielfĂ€ltige Zusammenspiel verschiedener Instanzen, Konkurrenzen, Alltagskonflikte und strukturelle WidersprĂŒche zeigen, aus dem heraus sich erst ein Bild komplexer DisziplinierungsvorgĂ€nge zeichnen lĂ€sst. Beispielhaft lassen sich dafĂŒr die Gerichtsdiener anfĂŒhren (143-147), die in den Gerichtsakten als omniprĂ€sent erscheinen, aufgrund ihrer Funktion bestens ĂŒber das stĂ€dtische Leben informiert und damit mit erheblichem sozialen Wissen ausgestattet waren, gleichzeitig aber in der Bevölkerung geringgeschĂ€tzt und nicht selten selbst straffĂ€llig wurden. Am Beispiel des Marktrates zeigt der Autor aber gleichfalls die deutliche Verbindung zwischen MachtausĂŒbung und sozialer und wirtschaftlicher Stellung der Scheibser Eisen- und ProvianthĂ€ndler (225).

Abschließend widmet sich Scheutz Rekrutierung und Bettelschub als Formen der Disziplinierung. Den Bettelschub und die damit verbundene "Menschenjagd" (456) beurteilt auch er als "höchst ineffizientes, sozialpolitisches Zuweisungs- bzw. Verweissystem" (499). Deutlich tritt auch in diesem Buch heraus, dass die Bettelproblematik durch die Verfolgungen und Deportationen keinesfalls zu lösen war, diese aber als Anfangspunkt eine Intensivierung staatlichen Handelns in der Sozialpolitik gelten können. Hinsichtlich der Rekrutierung stellt Scheutz eine "unglaubliche Abneigung" vor dem MilitĂ€rdienst fest, die bis zur SelbstverstĂŒmmlung von potentiellen Rekruten reichte (315-318). Auf der anderen Seite zeigt er sich verwundert ĂŒber die "SelbstverstĂ€ndlichkeit, mit der man delinquent gewordene MĂ€nner zum MilitĂ€r im Sinne von Disziplinierung, Korrektion und Strafe ĂŒberstellte" (318), was bei MalefizfĂ€llen zudem der normativen Ebene "diametral" widersprach (346). Leider verfolgt Scheutz diese Gedanken nicht weiter. Zwar betont er ausdrĂŒcklich Rekrutierung als herrschaftliches Disziplinierungsmittel und die Angst vor dem MilitĂ€r in der lĂ€ndlichen wie mĂ€rktischen Gesellschaft. An welcher Stelle hier aber Disziplinierung ansetzte - in der Armee oder aber als Folge der Angst vor dieser - bleibt ungeklĂ€rt. Auch anhand des Umgangs mit Deserteuren stellt Scheutz ein Auseinanderklaffen von Rechtsnorm und Rechtspraxis fest (353).

Eine ausfĂŒhrliche Zusammenfassung schließt das Buch ab. Die LektĂŒre erleichtert hĂ€tte, wenn eine Reihe der hier gemachten Aussagen (z.B. zum Quellenkorpus, zur Fragestellung der Arbeit, zum methodischen Vorgehen) bereits in einem einleitenden Kapitel ausgefĂŒhrt worden wĂ€ren. LeserInnen finden sich so zu Beginn der LektĂŒre etwas ungeleitet in das Geschehen gefĂŒhrt. Da sich der Aufbau der Arbeit mit einer Vielzahl an Detailstudien jedoch nicht ohne weiteres von selbst erschließt, entsteht so schnell der Eindruck von Unstrukturiertheit, was wiederum die Lesefreude etwas dĂ€mpft. Da vielerlei Einzelbefunde unvermittelt nebeneinander stehen, verliert man von Zeit zu Zeit den "roten Faden". Das ist schade. Denn wie Scheutz das Funktionieren von "Herrschaft in der Herrschaft" zeigt, Kontrollversuche und widerstĂ€ndige Strategien, die "Schwierigkeiten der HerrschaftsausĂŒbung und die Verschiedenartigkeit der Aufgabenstellung der AmtstrĂ€ger" in der Zeit vor der Ausdifferenzierung von Niederjustiz und Verwaltung (490), ist eine anregende und wichtige ErgĂ€nzung der DisziplinierungsansĂ€tze.

Zusammenfassend kommt Scheutz zu dem Befund, das "Konzept einer einheitlichen, weitgehend etatistisch geprĂ€gten ‚Disziplinierung' zerrinn[e] bei nĂ€herer Betrachtung der Quellen. Mehrere disziplinierende, aber auch regulierende ‚Zwischendecken' mĂŒss[t]en eingezogen werden" (499). Kommunale Strukturen und der hohe Grad an Selbstorganisation begrenzten den Zugriff frĂŒhneuzeitlicher Staatlichkeit, Druck von "unten" und nicht von "oben" löste viele Regulierungsversuche erst au Verschiedene konfligierende Gruppeninteressen verhinderten eine geradlinige, durchgehende Disziplinierung und fĂŒhrten zu (Selbst-)Blockaden. Allein in Fragen der Sozialpolitik konstatiert Scheutz anhand der Bettler- und Schubproblematik, dass ein privates Almosensystem immer deutlicher hinter "die obrigkeitliche Armen- und FĂŒrsorgepolitik" zurĂŒck trat (500). Dass damit ein staatliches Kontrollsystem wirksam werden konnte, fĂŒhrt er vor allem darauf zurĂŒck, dass BĂŒrgerschicht und Obrigkeit hinsichtlich der Unterschicht und der Vagierenden Ă€hnliche Feindbilder ausprĂ€gten und somit ein konsequenter Durchgriff staatlichen Ordnungshandelns nicht auf sozial potenten Widerstand traf.

Scheutz' Ergebnisse und besonders seine Feststellung, selbst "aufgrund genauer Quellenkenntnis lĂ€ĂŸt sich nicht immer eindeutig sagen, wer hinter den Disziplinierungsbestrebungen wirklich … stand" (499), fĂŒhren abschließend zur Frage, warum der Autor nicht mehr Anregungen bei Michel Foucaults von ubiquitĂ€ren, dezentralen Machtbeziehungen ausgehendem Disziplinierungsansatz gesucht hat. Ohne den in mehrerlei Hinsicht problematischen Versuch Foucaults zu favorisieren, hĂ€tten sich hier doch eine Reihe von Anregungen gefunden, welche die gradlinigen, fortschrittsangehauchten Disziplinierungskonzepte Ă  la Weber und Elias zugunsten einer "Mikrophysik der Macht" auflösen und damit das Prozesshafte auch der modernen gesellschaftliche DisziplinierungsphĂ€nomene betonen.

Redaktionelle Betreuung: Gudrun Gersmann

Empfohlene Zitierweise:

Falk Bretschneider: Rezension von: Martin Scheutz: Alltag und KriminalitĂ€t. Disziplinierungsversuche im steirisch-österreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert, MĂŒnchen: Oldenbourg 2001, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=151>

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