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Evelyn Heinemann: Hexen und Hexenangst. Eine psychoanalytische Studie des Hexenwahns der frühen Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, 2., überarb. Auflage, 151 S., ISBN 3-525-01442-2, DM 34,00

Rezensiert von:
Ralf-Peter Fuchs
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München

In ihrer sozialpsychologischen Arbeit hat sich die Autorin die Aufgabegestellt, die unbewußten Motive, die den europäischen Hexenverfolgungen des 15. bis 18. Jahrhunderts zugrundelagen, zu erforschen. Hexenangst und eine sich darin manifestierende bestimmte Form der Frauenfeindlichkeit werden als epochenspezifische Phänomene, im Sinne einer Grunddisposition der Massen, verstanden.
In Anlehnung an die in der englischen Hexenforschung, etwa bei Keith Thomas, gemachten Beobachtungen, daß beschuldigte Frauen häufig aus den Unterschichten stammten und reichere Nachbarn, die mit ihnen in Konflikt geraten waren, die Anklagen einleiteten, weil sie Neid und Rache von ihrer Seite fürchteten, arbeitet die Autorin mit dem Begriff der Projektion bzw. der projektiven Identifizierung (S. 58). Durch die Veränderungen in der Frühen Neuzeit habe sich ein hohes innergesellschaftliches Aggressions- und Angstpotential gebildet, das den Wunsch nach Kontrolle, Bestrafung und unter Umständen auch präventiver Vernichtung der gesellschaftlichen Verlierer entstehen ließ. Konkret wird von einem wirtschaftlichen und sozialen Abstieg großer Teile der weiblichen Bevölkerung seit dem 16. Jahrhundert ausgegangen. Die Autorin beruft sich auf einen umfassenden gesellschaftlichen Verdrängungswettbewerb, der zur Verelendung vor allem älterer Frauen geführt habe. Aus dieser Konstellation habe sich häufig ergeben, daß ihnen "einfache Hilfsleistungen" verweigert oder "andere aggressive, unmoralische Handlungen" (S. 61) durch spätere Hexenbeschuldiger vollzogen wurden. Diese - konkret genannt werden "tüchtige Bürger und Bürgerinnen", "Ärzte, Handwerker, Bauern" (S. 63) - hätten ihre eigenen Aggressionen mit der Inszenierung von Prozessen externalisiert und so ihre Ängste verarbeitet (S. 61).
Als typisch für die Frühe Neuzeit wird überdies ein Weltbild gezeichnet, das auf einer scharfen Aufspaltung zwischen den guten und den bösen Kräften beruht habe. "Gott und Teufel, Maria und die Hexe" (S. 70) seien bestimmende Pole der Imaginationen innerhalb der Bevölkerung gewesen. Für diese Spaltung, insbesondere für das Haftenbleiben der in der Säuglingsphase ausgebildeten Vorstellung von der "bösen Mutter" im Erwachsenenalter, werden, unter Verweis auf entwicklungspsychologische Erkenntnisse, Erlebnisse in der Kindheit verantwortlich gemacht. Das Ammenwesen habe bei Kindern zu emotionaler Unsicherheit geführt. Unter anderem Armut, schlechte Ernährung, mangelnde Hygiene, auch sexuelle Übergriffe seitens Erwachsener und z.B. Kastrationsdrohungen als Erziehungsmittel, hätten ein übriges bewirkt, um "erhöhte orale Aggressionen und sexuell-inzestuöse Ängste" (S. 88) aufkommen zu lassen.
Schließlich setzen weitere zentrale Erklärungsmomente beim Aufkommen ökonomischer, wissenschaftlicher und religiöser Veränderungen in der Frühmoderne an. Gemeint ist zum einen die Herausbildung frühkapitalistischer Strukturen in Europa, nicht zuletzt die Entstehung eines Weltmarktes durch die Expansion in die "Neue Welt". Natur- und Technikwissenschaften hätten zum anderen die magischen Wissenschaften abgelöst (S. 94), alte Vorstellungen gesprengt und nur schwer zu bewältigende Ängste produziert. Ähnliches gilt für die Reformation und die katholische Reform, die ebenfalls für nachhaltige Veränderungen der psychischen Strukturen der Menschen verantwortlich gemacht werden. Im Zusammenhang betrachtet hätten die in der Gesellschaft hervorgerufenen Aufforderungen nach Leistung, Zucht, Sittlichkeit und Triebkontrolle - bei gleichzeitigem Anwachsen äußerer Verführungen durch das Eindringen von Luxusgütern in die Lebenswelten - tiefgreifende innerliche Konflikte entstehen lassen. Symptomatisch für die Probleme, die bei einem zunehmenden Zwang, gesellschaftliche Normen zu verinnerlichen, aufgetreten seien, seien z.B der Glaube an Besessenheit (S. 110 ff.) wie auch Selbstdenunziationen von Kindern, sexuell mit dem Teufel verkehrt zu haben (S. 127), gewesen. Teufelsglaube und Hexendeutungsmuster hätten sich in besonderer Weise dafür geeignet, den Menschen den Übergang "von einer göttlichen Unterwerfung zur selbstbestimmten Kontrolle" (S. 138) und somit einer zunehmenden Individualisierung des Über-Ichs zu ermöglichen.
Eine Kritik des Historikers gegenüber den tiefenpsychologischen Thesen der Autorin kann nur bei den geschichtlichen Rahmenbedingungen ansetzen, die jeweils die Ausgangspunkte bilden: Positiv hervorzuheben ist der Versuch, die Probleme der Frühen Neuzeit als Übergangsepoche auf den Punkt zu bringen und die Hexenprozeßwellen als Krisenbewältigungsphänomene der Zeit zu interpretieren. Die Arbeit distanziert sich von Ansätzen, die die Grobschlächtigkeit eines "finsteren Mittelalters" als Nährboden der Verfolgungen zeichnen (S. 13) oder von einem großflächig angelegten obrigkeitlichen Programm zur Vernichtung von Hebammen als "weisen Frauen" ausgehen (S. 35).
Auf der anderen Seite erheben sich angesichts einer in den letzten Jahren intensiv betriebenen historischen Hexenforschung aber auch Zweifel an der Allgemeingültigkeit der hier aufgestellten tiefenpsychologischen Thesen. Regional- und mikrohistorische Studien haben das Bewußtsein für die Verschiedenartigkeit der Hintergründe und Motive der Verfolgungen geschärft. Je nach politischer Konstellation und den sozialen und ökonomischen Grundlagen in den betroffenen Gemeinwesen lassen sich sehr unterschiedliche Verfolgungstypen festmachen. So variiert auch der Anteil der Opfer aus den sozialen Unterschichten von Region zu Region erheblich. Ob die gesellschaftliche Stellung von Frauen im Spätmittelalter nicht insgesamt überschätzt wird und damit auch die Vorstellung von einem allumfassenden Bedeutungsverlust und wirtschaftlichen Abstieg in der Frühen Neuzeit überzogen ist, wäre über Detailstudien, die insbesondere die Verfolgungszentren in den Blickpunkt stellen, Schritt für Schritt zu erarbeiten.
Auch die Bedingungen, unter denen in der Frühen Neuzeit Kinder aufwuchsen, lassen sich wohl kaum mithilfe einiger weniger Schlagwörter beschreiben, insbesondere wenn man europäische Maßstäbe ansetzt. Angesichts der Tatsache, daß Deutschland das Kernland der Hexenverfolgungen bildete, erscheinen Bezugnahmen auf französische mentalitätshistorische Untersuchungen wie etwa von Ariès als zu grobflächige Argumentationsmuster. Das gleiche gilt für die Berufung auf einzelne Beispiele von Kindesmißhandlungen und sexueller Vergehen im 16. und 17. Jahrhundert.
Insgesamt bietet die Arbeit einige interessante Ansätze zur Erklärung der Hexenprozesse, denen sich die Geschichtswissenschaft nicht voreilig verschließen sollte. Andererseits muß darauf hingewiesen werden, daß bestimmte Aspekte zu unscharf geraten sind. Auch sind Details immer wieder mit Vorsicht zu behandeln: So liegen etwa der Behauptung, im Jahre 1494 seien in Osnabrück 160 psychisch und geistig behinderte Menschen als Hexen und Schwärmer auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden (S. 124f.), umstrittene Quellenmitteilungen aus den 1630er Jahren zugrunde, die überdies vom Jahr 1394 und 103 Opfern ausgehen. Von einer Identifizierung der Opfer mit behinderten Personen ist hier gar nicht die Rede.
So bleibt als Fazit die Aufforderung zu einem kritischen aber auch intensiveren Austausch und engerer Zusammenarbeit von Historikern und den wissenschaftlichen Vertretern anderer Disziplinen.

Empfohlene Zitierweise:

Ralf-Peter Fuchs: Rezension von: Evelyn Heinemann: Hexen und Hexenangst. Eine psychoanalytische Studie des Hexenwahns der frühen Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=15>

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