header

Uwe Müller: Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung. Der Chausseebau in der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; 57), Berlin: Duncker & Humblot 2000, 585 S., ISBN 3-428-09772-6, DM 144,00

Aus: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte (81 (2000), S. 283-285)

Rezensiert von:
Joachim Schmid

Gleich ob es sich um uralte Fernstraßen oder erst seit wenigen Jahrhunderten benutzte Verbindungswege zwischen den Ortschaften handelte, ihr Zustand war bis in die frühe Neuzeit gleichermaßen schlecht. Sie ähnelten mehr Sandpisten, die sich in der Schlechtwetterperiode in morastige, grundlose Schlammgräben verwandelten und die weder gesichert noch befestigt und in der Regel noch nicht einmal mit Wegweisern versehen waren; selbst im trockenen Sommer war die Begrenzung einer Straße kaum zu erkennen. Die Instandhaltung war von den Landesherren den am Wege liegenden Gemeinden übertragen, die dieser lästigen Pflicht höchst unzureichend nachkamen; die Klage über den miserablen Zustand der Verkehrswege war allgemein. Erst die Zunahme des Güter- und Personenverkehrs seit dem beginnenden 18. Jh. ließ ein ernsthaftes Interesse an der Verbesserung der Straßen entstehen. Merkantilistische Bestrebungen zur Förderung des Handels und unmittelbare finanzielle Interessen - gut frequentierte Verkehrswege versprachen regelmäßige Mauteinnahmen - gaben den Ausschlag für eine staatlich gelenkte Straßenbaupolitik, die darauf abzielte, nicht nur für effektive Fahrbahnreparaturen Sorge zu tragen, sondern auch den Aus- bzw. Neubau von Fernstraßen zu veranlassen. Diese mit einer Steinschicht und Pflaster versehenen neuen Straßen, die auch schwere Frachtwagen verkraften konnten, bezeichnete man nach dem französischen Vorbild als Chausseen. So gab es 1786 im Herzogtum Braunschweig davon lediglich eine, die auf einer Route von Hannover nach Göttingen das Braunschweiger Land berührte. Bis 1862 waren nach dem systematischen Ausbau des Wegenetzes fast alle Staatsstraßen mit einer Länge von zusammen 638 Kilometern chaussiert, ebenso fast die Hälfte der die Ortschaften verbindenden Kommunikationswege (1353 Kilometer). Braunschweig hatte früher als die preußische Provinz Sachsen mit dem Chausseebau begonnen und verfügte dann zu jedem Zeitpunkt über ein dichteres Haupt- und Nebenstraßennetz. Erst mit dem Beginn des Eisenbahnzeitalters ging im Herzogtum die Bedeutung des Chausseewesens als Mittel staatlicher Außenhandelspolitik verloren.

Die Entwicklung des Chausseebaus im späten 18. sowie im 19. Jh. hat bisher in der Wirtschaftsgeschichte kaum Beachtung gefunden. Dies ist umso unverständlicher, wenn man in Betracht zieht, daß der Ausbau und die Befestigung der Straßen die Verkehrswertigkeit des Straßennetzes bereits vor dem Beginn des wesentlich besser erforschten Eisenbahnbaus ganz wesentlich steigerte und auch noch danach eine überaus wichtige Grundlageninvestition für industrielles Wirtschaftswachstum darstellte.

Der Autor der vorliegenden Studie, einer nur geringfügig gekürzten Fassung seiner an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin angefertigten Promotionsschrift, analysiert schwerpunktmäßig die zahlreichen Wechselbeziehungen zwischen der Verbesserung der Straßenverkehrsinfrastruktur und den wirtschaftlichen Strukturveränderungen, vor allem den regionalen Industrialisierungsprozessen. Dabei kann die Entwicklung im Herzogtum Braunschweig und in der preußischen Provinz Sachsen in vielfältiger Hinsicht als exemplarisch für andere deutsche Staaten angesehen werden. So bildeten die Chausseen die wesentliche infrastrukturelle Voraussetzung für die Intensivierung des Güterverkehrs in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jh. "Nach dem Beginn des Eisenbahnbaus", so resümiert Uwe Müller, "beschränkte sich die unmittelbare Wirkung des Straßengüterverkehrs auf die Konstituierung lokaler Märkte. Gerade weil jedoch der Landstraßentransport zum Engpassfaktor im Verkehrssystem wurde, waren Unterschiede und Veränderungen der hier anfallenden Kosten und der produzierten Qualität von zentraler Bedeutung für die Marktintegration auf volkswirtschaftlicher Ebene."

Die Studie gliedert sich in zehn Abschnitte: Grundlagen und Schwerpunkte der Arbeit, Entwicklung von Agrarkapitalismus sowie beginnende Industrialisierung, Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815, Entwicklung das Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre des 19. Jh., Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik, Chausseebau durch Gebietskörperschaften und Privatunternehmen, Entwicklung des Wege- und Chausseerechts, Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung, Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung, Wechselwirkungen zwischen Straßenverkehrsinfrastruktur und regionaler Wirtschaftsentwicklung. Die Vielseitigkeit der Aspekte lässt erahnen, welch gewaltige Stofffülle hier verarbeitet und zu einer ausgewogenen Darstellung geformt wurde. Ausführlich werden die Veränderungen von Zielen und Instrumenten der Straßenbaupolitik sowie deren Stellenwert im Rahmen der allgemeinen Wirtschafts- und Sozialpolitik dargestellt. Generell sind im Zuge der Liberalisierung und Modernisierung der Wirtschaftspolitik macht- und fiskalpolitische Motive durch wohlfahrtsökonomische Intentionen zurückgedrängt worden. Die Straßenbaupolitik wird außerdem unter ordnungs- und finanzpolitischen Gesichtspunkten, im Rahmen der Verwaltungsgeschichte sowie hinsichtlich ihrer Stellung im allgemeinen gesellschaftlichen Transformationsprozess untersucht.

Eine gute Zusammenfassung der Ergebnisse der vielen breit angelegten, daten- und faktenorientierten Kapitel bietet ein zwölfseitiges Resümee, dem ein ergiebiger Anhang mit 43 aufschlussreichen Tabellen folgt, so für das Herzogtum Braunschweig zur Länge, Dichte und Qualität des Straßennetzes der Kreise und der Ämter und zur Bevölkerungsentwicklung. (Weitere 38 Tabellen und Grafiken, die unmittelbaren Bezug zur Darstellung haben, befinden sich innerhalb des Textes). Müllers umfangreiche Arbeit schließt mit Verzeichnissen der archivalischen Quellen sowie der gedruckten Quellen und der Literatur (zusammen an die 600 Titel) und einem gesonderten Register für Personen, Orte und Sachen. Das Buch zeichnet sich durch gute Lesbarkeit der Darstellung bei hohem Informationswert aus. Müller hat mit dieser Arbeit auf einem bisher von der Forschung eher vernachlässigten Gebiet eine materialreiche Studie vorgelegt, die vielschichtig und umfassend die komplexen Zusammenhänge zwischen Straßenbau, Wirtschaftsentwicklung und Industrialisierung in der preußischen Provinz Sachsen und dem benachbarten Braunschweig aufzeigt und als wichtiger Beitrag zur Geschichte des Industriezeitalters gelten kann.

Empfohlene Zitierweise:

Joachim Schmid: Rezension von: Uwe Müller: Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung. Der Chausseebau in der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, Berlin: Duncker & Humblot 2000, in: INFORM 3 (2002), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=491>

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

footer