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Martin Dinges / Fritz Sack (Hg.): Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne (= Konflikte und Kultur. Historische Perspektiven; 3), Konstanz: UVK 2000, 396 S., ISBN 3-89669-910-5, DM 58,00

Aus: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde (46 (2001), S. 476-478)

Rezensiert von:
Ralf-Peter Fuchs
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Angesichts des in den letzten Jahren aufgeblühten Forschungsterrains der Historischen Kriminalitätsforschung lag es nahe, dass sich Vertreter dieser Disziplin zum Gedankenaustausch mit der sozialwissenschaftlichen Kriminologie zusammenfanden. Arbeitsgrundlage des vom Historiker Martin Dinges und dem Kriminologen Fritz Sack herausgegebenen Sammelbandes waren drei Tagungen mit Gesprächen von Forschern aus beiden Disziplinen zum Grundbegriff der Sicherheit. Die Zielsetzung des Buches sehen die Herausgeber darin, Diskussionen um dieses von Politikern wie Medien immer wieder aufs neue aktualisierte Problem "durch historisch und kriminologisch fundierte Argumente zu bereichern" (S. 65).

Das Konzept wird von Martin Dinges und Fritz Sack in einem umfangreichen Einleitungskapitel erläutert: Sicherheit wird als ein "konstitutiver Grundbegriff moderner Gesellschaften" (S. 9) charakterisiert, wobei ein Schwerpunkt darin liegt, die Konstruierbarkeit des Begriffes darzulegen. Umrissen werden zunächst zwei Langzeitphasen, für die jeweils unterschiedliche Ausprägungen gezeichnet werden. Erstens: Die Wurzeln des politischen Begriffs Sicherheit werden im obrigkeitlichen Denken der frühneuzeitlichen Staatsbildung des 16./17. Jahrhunderts angesiedelt. Dieser Begriff habe im 18. Jahrhundert eine Anreicherung durch wohlfahrtsstaatliche Programme erfahren. Zweitens: Das 19. Jahrhundert, Geburtsphase der wissenschaftlichen Kriminologie und Kriminalstatistik, wird als ein janusköpfiges Jahrhundert, einerseits bestimmt durch Fortschritts- und Wissenschaftsglauben, andererseits als Jahrhundert der Bedrohungsgefühle beschrieben. Das Thema Kriminalität und Sicherheit habe sich zu einer Projektionsfläche für Probleme in anderen, elementareren Bereichen - gemeint sind soziale Gegensätze und außenpolitische Unwägbarkeiten - entwickelt.

Nach dem kurzen historischen Abriss über das 19. Jahrhundert, der sich vornehmlich auf Beobachtungen und Forschungen zu England und Frankreich stützt, erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit dem "aktuellen Sicherheitsdiskurs". Ausgegangen wird von einer "repressiven Wende in der Strafrechtspolitik" (S. 28). Den hauptsächlichen Beleg bildet die in den letzten zwei Jahrzehnten um etwa das Fünffache angestiegene Gefängnisrate in den USA; aber auch für andere Staaten wie etwa England, die Niederlande und weitere Staaten der EU lässt sich ein erheblicher Anstieg auf diesem Gebiet nachweisen. Die hohen Zuwachsraten nehmen die beiden Autoren zum Anlaß, sich kritisch mit sicherheitspolitischen Schlagworten wie zero-tolerance auseinanderzusetzen, und, basierend auf amerikanischen und britischen Studien, nachzuweisen, wie dehnbar die Auslegungsspielräume kriminologischer Statistiken sind.

Der Grundgedanke einer gesellschaftlichen Konstruktion sicherheitspolitischer "Wirklichkeiten", wie sie die "unsicheren Großstädte" demzufolge darstellen, insbesondere die Erkenntnis, dass das Thema Kriminalität als "politische und mediale Manovriermasse" (S. 41) ausschlachtbar ist, wird hierbei als ein Leitfaden des Sammelbandes exponiert. Demgegenüber ist kritisch anzumerken, dass dieses Erklärungsmuster im Kontext relativ leicht durchschaubarer Versuche diverser gesellschaftlicher Interessengruppen, den politischen und ideologischen Mehrwert sozialer Ängste kurzfristig für sich nutzbar zu machen, angemessen sein mag. In dem auf aktuelle Probleme zugespitzten Entwurf vermisst man jedoch etwa die Auseinandersetzung mit der jüngst intensiv geführten medialen und gesellschaftlichen Diskussion um die Gewalt rechtsradikaler Gruppen. Die Herausgeber entziehen sich der Frage, ob auch diese Phänomene anhand der von ihnen angebotenen Begriffe, wie etwa moralische Paniken etc., zu interpretieren sind. Daneben wird aus historischer Sicht ein weiteres Manko mit Blick auf die Zusammenstellung der Beitragsthemen deutlich: In der geschichtlichen Gesamtschau vom Mittelalter zur Postmoderne fehlt unbedingt eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Sicherheitspolitik. Ganz und gar nicht zu überzeugen vermag hierbei der Hinweis auf die "noch kürzlich" (S. 57) anderenorts publizierten Aufsätze von Robert Gelately und Bernd-A. Rusinek aus dem Jahre 1993.

Die einzelnen Beiträge ordnen die Herausgeber drei inhaltlichen Schwerpunkten zu: der Konstruktion, der Wahrnehmung und der Herstellung von Sicherheit. Der Spätmittelalter- und Frühneuzeitblock umfaßt Arbeiten von Peter Schuster (Hinter den Mauern das Paradies? Sicherheit und Unsicherheit in den Städten des späten Mittelalters), Andrea Bendlage (Städtische Polizeidiener in der Reichsstadt Nürnberg im 15. und 16. Jahrhundert), Carl A. Hoffmann, mit Blick auf Augsburg (Bürgersicherheit und Herrschaftssicherung im 16. Jahrhundert - Das Wechselverhältnis zweier frühmoderner Sicherheitskonzepte), Peter Blastenbrei (Unsicherheit als Lebensbedingung. Rom im späten 16. Jahrhundert), Gerd Schwerhoff (Insel des Friedens oder Brennpunkt der Gewalt? Die Reichsstadt Köln ca. 1470 - 1620) und Joachim Eibach (Die Straßen von Frankfurt am Main: Ein gefährliches Pflaster? Sicherheit und Unsicherheit in Großstädten des 18. Jahrhunderts). Peter Schusters Beobachtungen, dass Angst um Leib und Leben in spätmittelalterlichen städtischen Quellen selten zum Ausdruck gebracht wurde und somit ein Problem der inneren Sicherheit von Stadtbürgern als wenig maßgeblich betrachtet wurde, entsprechen z.B. Gerd Schwerhoffs Hinweise auf eine noch in der Frühen Neuzeit verbreitete relativ hohe gesellschaftliche Akzeptanz maskuliner Alltagsgewalt. Sicherheitspolitik erscheint für diese Phase eher als ein gegen zum Teil massive gesellschaftliche Bedenken und Widerstände durchgesetztes obrigkeitliches Agieren, wenn man den Fall Rom ausnimmt, wo ein äußerst hohes Gewaltaufkommen durchaus mit gesellschaftlichen Sehnsüchten nach dem "starken Staat" verbunden war.

Eine weitaus stärkere Hinwendung der Öffentlichkeit zur Sicherheitspolitik, die sich schon im 18. Jahrhundert abzeichnet, aber auch der Wandel obrigkeitlicher und staatlicher Prioritäten im Zuge der Entstehung moderner Großstädte wird durch die folgenden Beiträge von Dietlind Huechtker ("Unsittlichkeit" als Kristallisationspunkt von Unsicherheit: Prostitutionspolitik in Berlin (1800 - 1850)), Norbert Finzsch (Polizei und sichere Stadt: African-Americans und irische Einwanderer in der Hauptstadt der USA (1860 - 1870)), Herbert Reinke ("Großstadtpolizei": Städtische Ordnung und Sicherheit und die Polizei in der Zeit des deutschen Kaiserreiches (1871 - 1918), Peter Leßmann-Faust (Gewalt und Gewaltmonopole. Parameter der "Inneren Sicherheit" in der Weimarer Republik) und Patrick Wagner / Klaus Weinhauer (Tatarenblut und Immertreu. Wilde Cliquen und Ringvereine um 1930 - Ordnungsfaktoren und Krisensymbole in unsicheren Zeiten) verdeutlicht.

Die abschließenden vier Beiträge führen zurück in die heutige kontroverse Sicherheitsdiskussion. Susanne Krasmann (Kriminologie der Unternehmer-Gesellschaft) analysiert kritisch den Wandel der Kriminologie unter neoliberalen Vorzeichen und konstatiert eine "Strategie der Responsibilisierung" (S. 305), die mit dem Niedergang des Modells "Sozialstaat" einhergegangen sei. Klaus Ronneberger (Die revanchistische Stadt. Überwachen und Strafen im Zeitalter des Neoliberalismus) geht Formen der Delegation von Sicherheitsverantwortung an zivilgesellschaftliche Korporationen, die in ihren Tätigkeiten der Ausgrenzung gesellschaftlicher Verlierer eine "grundlegende Neubestimmung der Topographie des Sozialen" (S. 332) vornehmen nach, und sieht darin Tendenzen einer Refeudalisierung der Macht. Konkrete Beispiele einer solchen zivilen Abwehrpolitik liefert Hubert Beste (Zonale Raumkontrolle in Frankfurt am Main im ausgehenden 20. Jahrhundert). Der Aufsatz von Henner Hess (Neue Sicherheitspolitik in New York City) eröffnet noch einmal Fragen, indem der Autor die zero-tolerance-Politik in der amerikanischen Metropole durchaus als erfolgreich beurteilt, als diese einen Rückgang der Kriminalität durch strikte Bekämpfung auch der kleineren Ordnungsverstöße bewirkt habe.

Mag dieser offene Schluss etwas frappierend wirken, so ist doch grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, dass die Herausgeber dadurch ihre eigenen Thesen noch einmal auf den Prüfstand stellen und es dem Leser überlassen, seine eigenen Konsequenzen zu ziehen. Das Fazit nach der Lektüre des Sammelbandes muß denn auch darin bestehen, hervorzuheben, dass die Beiträge eine Vielzahl von Anregungen und wichtigen Informationen enthalten. Aus der historischen Forschungsperspektive lässt sich der Band jedenfalls mit großem Gewinn lesen.

Empfohlene Zitierweise:

Ralf-Peter Fuchs: Rezension von: Martin Dinges / Fritz Sack (Hg.): Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Konstanz: UVK 2000, in: INFORM 2 (2001), Nr. 6, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=473>

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